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ARBEITERSTIMME/289: Venezuela - Orientiert die Bourgeoisie wieder auf einen Putsch


Arbeiterstimme Nr. 184 - Sommer 2014
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Venezuela:

Orientiert die Bourgeoisie wieder auf einen Putsch?



Zwei Konflikte standen im Frühjahr dieses Jahres besonders im Blickpunkt der medialen Öffentlichkeit. Es ging aber nicht mehr um den Bürgerkrieg in Syrien, der in seinen verschiedenen Facetten der Scheußlichkeiten so alltäglich geworden ist, dass ihm die Medien kaum noch etwas - im wörtlichen Sinne - abgewinnen können. Sicher wird er gelegentlich noch erwähnt, wenn etwa Präsident Assad in den von Regierungstruppen beherrschten Gebieten eine Wahl organisieren lässt. Die Schlagzeilen des Frühjahrs waren Ereignissen in der Ukraine und in Venezuela - in dieser Reihenfolge - vorbehalten. Die krisenhafte Entwicklung in der Ukraine führte rasch zur Abspaltung der Krim, zu bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten und, damit verbunden, zu einer gefährlichen Konfrontation zwischen den NATO-Staaten und Russland. Eine vorläufige Einschätzung ist in der letzten ARSTI unter der Überschrift: "Weltpolitische Krise: Gefährliche imperialistische Machtprobe um die Ukraine" vorgenommen worden.

Der Sturz einer parlamentarisch legitimierten Regierung durch die "Straße" ist für deutsche Mainstream Medien eine ambivalente Angelegenheit. Einerseits will man stets die formaldemokratische Fahne hochhalten, und dazu gehört auch eine ordentliche Regierungsablösung. Am Beispiel Ukraine zeigt sich jedoch, dass, wenn es ins Kalkül der sog. westlichen Wertegemeinschaft passt, schon mal ein Auge zugedrückt und gelegentlich kräftig nachgeholfen wird. Was Venezuela betrifft, wurde und wird ein ähnliches Muster der Destabilisierung wie in der Ukraine versucht, bisher jedoch noch nicht mit dem gewünschten Erfolg. Warum eigentlich nicht? Glaubt man den privaten Medien des Landes und den sich auf sie beziehenden internationalen Medien, so sollen die Lebensbedingungen ein Jahr nach dem Tode von Präsident Hugo Chavez Frias nahezu unerträglich sein. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) bemühte am 16. April als Kronzeugen für den "Niedergang des Landes " den kolumbianischen Autor Hector Abad, der zu folgendem Resümee kommt: "Inmitten dieses gewalttätigen Chaos warten alle auf einen venezolanischen Frühling, der das Land aus seinem Traum, der zum Albtraum geworden ist, befreien soll." Angenommen, Abad hätte mit seiner Behauptung, alle (?) Venezolaner erwarteten eine Befreiung von den gegenwärtigen politischen Verhältnissen, stellt sich dann nicht die Frage: Warum hat eine deutliche Mehrheit noch im Dezember 2013 den für das angebliche Chaos Verantwortlichen ihre Stimme gegeben? Differenzierter geht da Peter Burghardt am selben Tag in der Süddeutschen Zeitung ans Werk. In seinem mit "Verrottete Revolution" überschriebenen Kommentar (für die Überschrift ist er nicht Verantwortlich) bescheinigte er Chavez "ein historisches Verdienst", weil er "Teile der Ölmilliarden zu den Armen" umleitete, Aber auch Burghardt rechnet gnadenlos mit der Regierung ab. Seine Sympathie gilt dem vormaligen venezolanischen Oppositionsführer Henrique Capriles, der sich mittlerweile mehr Erfolg davon verspricht, die Errungenschaften der Chavezregierungen nicht mehr pauschal in Frage zu stellen. Nach Ansicht mancher Beobachter soll Capriles eingesehen haben, dass eine erfolgreichere Taktik, der Opposition eine Mehrheit zu verschaffen, darin bestehen müsste, nicht nur die Bourgeoisie, sondern auch Teile der ärmeren Schichten gegen die Regierung in Stellung zu bringen. Der SZ-Korrespondent mit Sitz in Buenos Aires bezeichnet Capriles als die "Stimme der Gemäßigten" und sieht in ihm die Alternative zum Präsidenten Nicolas Maduro, dem seiner Meinung nach "Charisma und Talent seines Vorgängers" fehlten. Doch ginge es in Venezuela nur um Charisma und Talent einer Führungsfigur, wäre die Situation weniger dramatisch. Und, wenn dieselben Journalisten, die dem lebenden Chavez nichts abgewinnen konnten, nach dessen Tod plötzlich seine Vorzüge gegenüber dem Nachfolger hervorheben, muss das nachdenklich stimmen. Der Chavezbiograph Ignacio Ramonet, sagt über Maduro: "Er kommt aus der Arbeiterklasse, ist Gewerkschafter, studierter Marxist und hat sich in dem Jahr nach seiner Wahl zu einem Staatsmann entwickelt, der in Venezuela und Lateinamerika zu Recht hohe Achtung und Anerkennung erfährt. Außerhalb des Kontinents wird er dagegen angefeindet und dämonisiert. Das spricht doch eher dafür, daß er seine Sache gut macht." (junge Welt, 30.4.14)

Was die bürgerlichen Medien völlig ausblenden möchten, ist der Klassencharakter der Auseinandersetzungen. Weil Venezuela sozial tief gespalten ist, ist die politische Polarisierung eine logische Folgerung aus der Struktur der Klassengesellschaft. Mit Chavez bekam die vorher aus dem politischen Geschehen ausgeschlossene Bevölkerungsmehrheit eine Stimme und die Möglichkeit der konkreten Beteiligung. Der Widerspruch zwischen den Interessen dieser Mehrheit und den verschiedenen Sektoren der u.a. von den Ölpfründen verdrängten Bourgeoisie musste notwendigerweise im Kampf um die politische Macht eskalieren. Denn in Venezuela ist die Gesellschaft nach wie vor kapitalistisch dominiert, und somit ist die Frage offen, welche Klassen als Sieger aus den gesellschaftlichen Kämpfen um die politische Macht hervorgehen werden. In vielen Ländern gelingt es der Bourgeoisie, ihre Interessen im parlamentarischen Rahmen zu realisieren. Sollte es einmal nicht gelingen, ist man stets bereit, andere Methoden der Machtübernahme, wie etwa in Chile 1973, ins Auge zu fassen. Beinahe wäre es in Venezuela 2002 gelungen, die Regierung durch einen Putsch zu beseitigen. Wieder einmal ein Beweis, dass sich Kapitalisten und ihre in- und ausländischen Helfershelfer einen Dreck um demokratische Gepflogenheiten scheren. Erinnern wir uns: In der Innenstadt von Caracas, an der Llaguno-Brücke, erschossen am 11. April 2002 von der Opposition angeheuerte Scharfschützen neunzehn Menschen. In den Medien der oppositionellen Kräfte wurde die Lüge verbreitet, bolivarische Zirkel hätten auf Anordnung von Chavez damit begonnen, ein "Massaker am Volk" einzuleiten. Mit dieser absurden Behauptung wurde der Putsch begründet. Allen, die sich vom Charakter des Putsches in Kiew 2014 täuschen ließen, sei angeraten, sich mit dem Putsch von Caracas intensiver zu beschäftigen. Weder der Putsch, noch die Wirtschaftssabotage, auch nicht die Beteiligung an Wahlen brachten bisher das von der Bourgeoisie gewünschte Ergebnis.

Ein "weicher Putsch" mit Ansage?

Als Konsequenz aus diesem Scheitern verständigten sich Gruppen der Opposition auf eine Strategie, die als "weicher Putsch" (A. Scheer, MBL 2/14) bezeichnet werden kann. Begonnen wurde damit am symbolträchtigen 12. Februar 2014, dem Tag der Jugend und der legendären Schlacht von La Victoria. Ausgehend von der Einschätzung, dass ein parlamentarischer Wechsel in den nächsten Jahren nicht zu erreichen und andererseits der revolutionäre Prozess durchaus fragil ist, sollten militante Aktionen die Regierung nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Die Taktik sah in etwa folgendermaßen aus: Zuerst wurde das Gerücht gestreut, Maduro sei nicht in Venezuela geboren und könne deshalb nicht Präsident sein: Gleichzeitig begann man v.a. in Kommunen, die von der Opposition regiert werden, an zentralen Stellen Barrikaden zu errichten und die öffentliche Ordnung zu sabotieren. Medien im Besitz des nationalen und internationalen Kapitals berichteten über die Aktionen klassensolidarisch und übertrieben stets die Zahl der Aktionen und der Teilnehmer. So musste der Eindruck entstehen, das ganze Land befinde sich im Aufruhr. Die über 40 Toten und Hunderte von Verletzten, die im Zusammenhang mit diesen Aktionen zu beklagen waren, wurden pauschal den Sicherheitsorganen bzw. bolivarischen Basisgruppen angelastet. Händler hielten Waren des täglichen Bedarfs zurück. Über real vorhandene Versorgungsschwierigkeiten wurde tendenziös nach dem Motto berichtet: Eine Regierung, die nicht einmal für genügend Toilettenpapier sorgen kann, hat abgewirtschaftet. Letztlich sollte diese Stimmungsmache Risse im Regierungslager verstärken und der Regierung die Basis entziehen. Für die seit dem Februar 2014 angewandte Taktik des weichen Putsches stehen an vorderster Stelle einige Figuren, die schon am Putsch 2002 aktiv beteiligt waren: Leopoldo Lopez Mendoza, Maria Corina Machado und Antonio Ledezma.

Lopez Mendoza, der arrogante Vorsitzende der rechten Partei Voluntad Popular (VP), Sproß einer Familie, die schon den ersten Präsidenten Venezuelas gestellt hatte, lehnt im Unterschied zu Capriles jedes Gespräch mit der Regierung strikt ab. 2000 war der ehemalige Harvard-Student zum Bürgermeister von Chacao, der reichsten Stadt des Landes gewählt worden. Noch im Februar stellte die Generalstaatsanwalt einen Haftbefehl wegen Anstiftung zu gewaltsamen Protesten, bei denen in Caracas drei Menschen erschossen worden sind, gegen ihn aus. Während der Zeit seiner Inhaftierung übernimmt Maria Corina Machado seine Rolle. Sie ist Gründerin der dubiosen Nichtregierungsorganisation Sumate, eine "Vereinigung zur Förderung von Verfassung und Demokratie" und verfügt über exzellente Beziehungen zu rechten US-amerikanischen Kreisen wie etwa dem ehemaligen Präsidenten George W. Bush. Im März verlor sie ihr Mandat als Abgeordnete wegen Verletzung von Art. 191 der Verfassung, der es Abgeordneten untersagt, Ämter oder Funktionen in ausländischen Regierungen ohne Genehmigung der Nationalversammlung zu übernehmen. Was war geschehen? Die US-hörige Regierung Panamas hatte, um der venezolanischen Regierung eins auszuwischen, Machado zur stellvertretenden Repräsentantin der Delegation der Republik Panama bei der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) erklärt. Das Manöver wurde durch eine Intervention Nicaraguas weitgehend unterbunden. Machado ist nun ohne Mandat, mischt aber weiterhin kräftig mit. So gelang es ihr, vom Vorsitzenden der außenpolitischen Kommission des EU-Parlaments in Brüssel, dem deutschen CDU-Europaabgeordneten Elmar Brok, eine Einladung zu bekommen. Verbunden war diese Einladung mit 40 Minuten Redezeit vor der Kommission. Die Einladung soll auch - wen wundert's - von Liberalen und Sozialdemokraten unterstützt worden sein. Brok muss gewusst haben, um wen es sich bei Machado handelt. Anfang Juni erlangte der Vorgang eine besondere Brisanz. Der venezolanische Geheimdienst deckte Pläne auf, die eine Verschärfung der gewalttätigen Aktionen und die Ermordung des Präsidenten durch rechtsextreme Kräfte der Opposition beinhalten. An führender Stelle wieder mit dabei Machado, die am 23. Mai an den ehemaligen UNO-Botschafter Diego Arria eine eindeutige Mail geschrieben haben soll. O-Ton: "Ich bin es leid zu warten. Wir müssen diesen Dreck wegräumen, angefangen mit dem Anführer dieser Sache, und (wir müssen) die Weltlage mit der Ukraine und nun Thailand ausnutzen. Je eher desto besser... Ich denke, der Moment ist gekommen, um unsere Kräfte zu vereinen, die nötigen Anrufe zu machen und Finanzierung für die Vernichtung Maduros zu bekommen. Der Rest wird von selbst auseinanderfallen." (Portal amerika 21.de, 4.6.14) Von Regierungsseite wurde des Weiteren auf Erkenntnisse hingewiesen, die eindeutig die Verwicklung des US-amerikanischen Botschafters in Kolumbien, Kevin Whitaker, in Machados Putschpläne belegen.

Der dritte Scharfmacher an der Spitze der Opposition ist Antonio Ledezma, Bürgermeister des Hauptstadtbezirkes von Caracas. Er, der heute keine Gelegenheit auslässt, sich über die angebliche Gewalttätigkeit der Regierungsseite zu beklagen, war zu Beginn der 1990er Jahre für die Ermordung von Dutzenden von Studenten verantwortlich. Als es im April zu Gesprächen zwischen der Regierung und Vertretern des Oppositionsbündnisses MUD kam, demonstrierten in Caracas etwa 600 Studierende aus der Studentenorganisation Junta Patriotica Estudiantil y Popular (JPEP) gegen die Teilnahme des Oppositionsbündnisses an den Gesprächen. Unterstützung erhielten sie vom Bürgermeister Ledezma. In deutschen Medien wird gern der Eindruck erweckt, die Studierenden in Venezuela seien Teil der Opposition. Dabei muss man die Zahlenverhältnisse berücksichtigen. Zu Beginn der Amtszeit von Hugo Chavez gab es etwa 900.000 Studierende. 2013 waren es bereits ca. 2,7 Millionen. Der durch die chavistischen Regierungen ermöglichte breite Zugang zu den Universitäten bedroht die Privilegien der bisher Privilegierten aus der oligarchischen Schicht. Es sind genau aus diesem Grund nicht die Massen der Studierenden, die gegen die Regierung auf die Straße gehen.

Wie erfolgreich war bisher die neue Taktik der Opposition?

War nun die Taktik der Opposition, den Straßenkampf zu verschärfen und durch militante Aktionen das Land nicht mehr zur Ruhe kommen zu lassen, erfolgreich? Mark Weisbrot recherchierte für den britischen Guardian im März vor Ort in Caracas. Seine Eindrücke: "Bilder verfälschen die Realität. Videosequenzen selbst unbewegte Abbildungen können sich tief ins Bewusstsein der Menschen einbrennen ohne dass die es überhaupt merken. Ich hielt mich selbst eigentlich für immun gegen die immer wiederkehrende Beschreibung Venezuelas als kriselnder, gar scheiternder Staat, dessen Bevölkerung aufbegehrt. Doch ich war nicht vorbereitet auf das, was es gerade in Caracas zu erleben gibt: Wie wenig das tägliche Leben von den Protesten betroffen und wie groß die Normalität ist, die in weiten Teilen der Stadt herrscht. Auch ich hatte mich von den Medienbildern blenden lassen." Und es seien nicht nur die Armen, "die nicht mitmachen. In Caracas liefern sich nur in einigen wenigen reichen Vierteln wie Altamira Gruppen von Demonstranten nächtliche Schlachten mit den Sicherheitskräften und werfen Steine oder Brandbomben oder beides." ("Der Gucci-Aufstand", 23.4.14) Trotzdem stellt sich die Frage: Woher kommen dann die über 40 Toten und Hunderten von Verletzten, wenn die Aktionen der Opposition eher eine Randerscheinung sein sollen? Auch Dario Azzellini, der sich häufig in Venezuela aufhält, kommt zu der Einschätzung, die Unruhen seien im März zu "Aktionen von kleinen Gruppen geschrumpft". Aber ihr Vorgehen entspräche "immer deutlicher den traditionellen CIA-Vorgaben für einen Zermürbungskrieg". Hinter den Anschlägen und Angriffen sieht Azzellini drei verschiedene Organisationsmuster, "die alle denselben Destabilisierungsstrategien folgen Konkret sieht das dann so aus: "Gruppen von meist Jugendlichen bauen Barrikaden, versetzt mit Todesfallen aus Stacheldraht, greifen in Gruppen Ordnungskräfte und Institutionen mit Molotowcocktails an und attackieren jene Bewohner und Bewohnerinnen, die sich gegen die Aktionen aussprechen oder versuchen, Barrikaden abzubauen." Die Aktionen fänden fast ausschließlich in oppositionell regierten Bezirken mit Unterstützung der Bürgermeister statt. Des Weiteren seien "bezahlte kriminelle Banden" im Spiel, die auch "für gezielte Morde an Aktivistinnen und Aktivisten" in Armenviertel angeheuert würden. Als weitere Variante agierten "paramilitärische Zellen mit gut bewaffneten und auch ausgebildeten Kämpfern aus Venezuela, Kolumbien und anderen Ländern." (Portal amerika 21.de, 31.3.14) Diese Paramilitärs seien über Kolumbien in die venezolanischen Grenzgebiete eingedrungen, verfügten bereits über gesicherte Infrastruktur und Logistik. Die Paramilitärs hätten auch entscheidenden Anteil am Kokainhandel und am Schmuggel von Lebensmittel und Benzin nach Kolumbien. Der venezolanische Journalist und Schriftsteller Ronaldo Munoz, der die Hauptursache der Probleme in Venezuela in der Wirtschaft sieht, konkretisiert die Auswirkungen des Schmuggels am Beispiel von Cucuta, einer kolumbianischen Grenzstadt zu Venezuela: "Alles, was sich in Cucuta finden lässt, wurde in Venezuela hergestellt! Wir sprechen hier von einer Stadt mit mehr als 800.000 Einwohnern, die nahezu vollständig mit ausschließlich venezolanischen Produkten beliefert wird; es handelt sich hierbei nicht um fünf Packungen Milch oder Mehl. Ein beträchtlicher Teil der Lebensmittel unseres Volkes wandert dort einfach über die Grenze und die Konsequenzen sind zur Zeit in der erhöhten Spannung im Bundesstaat Tachira deutlich spürbar. Es ist kein Zufall, dass Tachira praktisch das Epizentrum der Unruhen ist, welche darauf abzielen, die Regierung zu stürzen." (Portal amerika 21.de, 17.2.14) Schmuggel und andere Formen der Wirtschaftskriminalität sind in der Größenordnung nicht ohne Beteiligung korrupter staatlicher Organe denkbar.

Korruptionsgeflecht aus der Vergangenheit

Ist nun der Vorwurf, selbst in der regierenden Vereinigten Sozialistischen Partei (PSUV) sei die Korruption weit verbreitet, zutreffend?

Im Oktober 2013 wurde Edgardo Parra, der seit 2008 befindliche PSUV-Bürgermeister der drittgrößten Stadt Valencia, die im Norden Venezuelas liegt, wegen Korruption, Unterschlagung und Bildung einer kriminellen Vereinigung verhaftet. In diesem Zusammenhang stellte man zahlreiche Fahrzeuge, Motorboote, eine Yacht und 14 Immobilienobjekte aus dem Besitz der Familie Parra sicher. Untersuchungen ergaben, dass Parras Sohn, der untertauchen konnte, 14 Scheinkooperativen und zwei Briefkastenfirmen gegründet und von städtischen Behörden große Geld- Summen erhalten hatte. Die Spitze eines Eisbergs oder ein Einzelfall? Die Wahrheit dürfte dazwischen liegen. Andre Scheer zitiert in der jungen Welt vom 19.10.2013 zum Fall Parra den linken Wirtschaftswissenschaftler und Politanalysten Pedro Patino: "Zu glauben, dass die Familie Parra allein darin verstrickt war, wäre ein Irrtum. Die in alle Richtungen weisenden Tentakel reichen bis zu Industriellen, Zeitungen, Kliniken, Handwerkskammern, Vertragspartnern, der Kirche, Berufsverbänden usw. Dieses Korruptionsgeflecht stammt aus der Vergangenheit, Parra hatte jedoch nicht den politischen, ethischen und moralischen Willen, es aufzulösen, sondern hat es perfektioniert." Keine Regierungspartei, auch keine linke, ist gegen Korruption gefeit. Geht sie aber nicht konsequent dagegen vor, untergräbt sie das Vertrauen der Basis und entzieht sich damit die erforderliche Unterstützung. So kann es nicht überraschen, dass nach der Kommunalwahl im Dezember 2013 die Opposition neben den beiden größten Städten des Landes, Caracas und Maracaibo, nun auch in Valencia den Bürgermeister stellt. Der Verlust der Millionenstadt Valencia war für den Patriotischen Pol, dem linken Bündnis von PSUV, KP und anderen linken Parteien und Vereinigungen, sehr bitter. Allerdings konnte der Vorsprung des Pols gegenüber dem Wahlergebnis Vom April 2013 landesweit von 220.000 auf 700.000 (nach anderen Quellen auf 900.000) ausgebaut werden. Mit der PSUV stützt sich Maduros Regierung auf eine Massenpartei von über 6 Millionen Mitgliedern. Sie Maduro versteht die Studenten nicht ist ideologisch sehr heterogen und in sich zerrissen. Ein Bündnis zwischen der städtischen Armut, der Arbeiterklasse und mehr oder weniger fortschrittlichen Teilen der Bourgeoisie, der sog. Bolibourgeoisie, einer neuen politischen Schicht aus Staatsbeamten und Kapitalisten, die über Geschäftsbeziehungen mit dem Staat von der politischen Konstellation des bolivarischen Prozesses profitieren.

Erhebliche Wirtschaftsprobleme

Zweifellos hat die Regierung von Nicolas Maduro ebenso wie die Vorgängerregierungen unter Chavez mit erheblichen Wirtschaftsproblemen zu kämpfen: Sabotage, Währungsspekulation, Versorgungsengpässe, massive Abhängigkeit von Lebensmittelimporten etc. Die Inflation ist 2013 auf 56 Prozent angestiegen. Devisen werden wesentlich durch Erdölexporte gewonnen. Es ist den fortschrittlichen Regierungen der letzten 15 Jahre trotz erheblicher Bemühungen nicht gelungen, die Exporte zu diversifizieren und dadurch die Abhängigkeit vom Erdöl zu verringern. Der Ölanteil an den Deviseneinnahmen ist von 1999 bis 2012 sogar noch von 70 auf 95 Prozent gestiegen, was auf eine Verschärfung bei den strukturellen Defiziten hinweist. Im Unterschied aber zu den vorchavistischen Regierungen, die auch mit den negativen Auswirkungen einer Rentenökonomie konfrontiert waren, werden jetzt die aus Erdöl- und Erdgasexporten gewonnenen Deviseneinnahmen in erheblichen Teilen zugunsten der sozial benachteiligten Schichten verwendet. Nur so war es möglich, die Armutsquote von 43 (1999) auf 19 Prozent zu senken. Weil aber dadurch und wegen der rasch wachsenden Bevölkerung deutlich mehr Nachfrage nach Grundnahrungsmitteln und Konsumgütern entstanden ist, können manche Engpässe in der Versorgung auch natürlich erklärt werden. In den 1980er und 1990er Jahren war die Versorgungslage weitaus dramatischer gewesen. Die Regierung befindet sich insofern in einer schwierigen Situation, weil sie einerseits gezielt Sozialtransfers an die unteren Klassen weitergeben muss und auch will. Andererseits fehlen dann diese Mittel, um produktive Investitionen zu forcieren und die Infrastruktur weiter auszubauen. Da die meisten Konsumgüter, Halbfabrikate und Investitionsgüter importiert werden müssen, machen der Regierung Währungsdiskrepanzen zu schaffen. Dieter Boris merkt dazu an: "Die vor einem Jahr vorgenommene Abwertung der venezolanischen Währung hat keine dauerhafte Verringerung dieser Diskrepanz gebracht." Der Devisenschwarzmarkt entwickelt sich in so raschem Tempo weiter, dass ihn die Regierung kaum noch unter Kontrolle bringt. Aber was tun? Boris sieht als dringende Maßnahme "die staatliche Devisenzuteilung für Importe wesentlich effizienter" zu kontrollieren. Und um das sicherzustellen, müssten der gesamte Außenhandel und die Finanzinstitutionen "letztlich einer finanzstaatlichen Kontrolle" unterstellt werden. Er sieht natürlich das Problem "der alten und neuen Bürokratien", die bei einer Zentralisierung der Kontrolle nicht gerade mehr Effizienz erwarten lassen. Auch die Forderung nach stärkerer Einbeziehung der Basis, der Consejos Comunales und einer damit Verbundenen Verschärfung des bolivarischen Prozesses, die letztlich eine weitere Zuspitzung der Klassenauseinandersetzungen bewirken würden, ist nachvollziehbar, könnte aber zu einer Aufspaltung des chavistischen Blocks führen. (D. Boris, "Die aktuelle venezolanische Krise", Sozialismus 5/2014, S.3)

Totgesagte leben länger

Manche linken Kritiker der venezolanischen Regierung wollen es genau wissen, warum es in Venezuela nicht ganz so läuft, wie "man" es gerne hätte. Typisch ist die Äußerung eines Rico Rodrigues von der Gruppe Arbeitermacht, wenn es schreibt: "Die wirtschaftlichen Probleme Venezuelas resultieren letztlich daraus, dass Maduro wie sein Vorgänger Chavez die Grundlagen und Mechanismen der kapitalistischen Ökonomie (Privateigentum, Marktbeziehungen) nicht zerstört und durch eine auf demokratischer Planung beruhende Gebrauchswertproduktion ersetzt hat." (Infomail, 1.4.14) Das ist natürlich nicht falsch, abstrahiert aber von den objektiven und subjektiven Bedingungen. Revolutionäre Prozesse entwickeln ihre Dynamik nicht nach Wunschvorgaben. Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der frühsozialistischen Gesellschaften in Europa und Eurasien konnten die fortschrittlichen Kräfte in Lateinamerika nicht einfach auf ein Modell zurückgreifen und darauf aufbauen, das so kläglich gescheitert ist. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, den die bolivarische Bewegung nach eigenem Bekunden entwickeln will, ist ein Experiment mit offenem Ausgang. Das Zentrum ist Venezuela, deshalb werden die Auseinandersetzungen gerade in diesem Land so erbittert geführt. Wenig hilfreich sind da Äußerungen von Heinz Dieterich, der sich als Chavez-Berater einen Namen gemacht hat und als Erfinder des Begriffs Sozialismus des 21. Jahrhunderts gelten will, in Spiegel Online vom März dieses Jahres. Im Interview, in dem er auch viel Vernünftiges von sich gibt, vergleicht er die Lage Venezuelas mit der in der Ukraine, will ebenso wie dort eine "katastrophale ökonomische Situation" vorfinden und "die Unfähigkeit der Regierung, Reformen anzuschieben", feststellen. Das gefällt den Leuten von Spiegel Online. Ein Linker (sogar ein 68er), der sich dermaßen abfällig über die fortschrittliche venezolanische Regierung äußert! Damit ist ja auch eine Botschaft verbunden, die da heißt: Wieder ist ein linkes Gesellschaftsmodell gescheitert. Also gebt es endlich auf und findet euch mit den realen (=neoliberalen) Verhältnissen des 21. Jahrhunderts ab. Gänzlich daneben lag der Professor mit seiner gewagten Prognose: "Er (Maduro) wird keine acht Wochen mehr an der Regierung sein und vermutlich durch ein Führungskollektiv ersetzt werden." Nun ja, die acht Wochen sind längst vorbei, Maduro ist immer noch Präsident, die Proteste sind zwischendurch abgeflaut. Entsprechend hat auch das Interesse der Medien nachgelassen. Es zeichnet sich aber eine neue Eskalationswelle ab. In der ersten Maiwoche wurde ein Polizist von Scharfschützen durch einen Kopfschuss gezielt ermordet. Das kennt man aus der Ukraine, wo die Putschregierung, im Unterschied zu Venezuela, wenig Bereitschaft zur Aufklärung derartiger Verbrechen zeigt. Inzwischen bestätigte der Bundesnachrichtendienst (BND) die Existenz von etwa 400 Söldnern einer privaten US-amerikanischen Sicherheitsfirma in der Ukraine. Sind Spezialisten dieser Sorte auch in Venezuela aktiv? General John Kelly, der Oberkommandierende des in Lateinamerika stationierten Südkommandos der US-Streitkräfte beklagt den schwindenden Einfluss der USA und sieht Handlungsbedarf. Aktueller Anlass ist die Entscheidung der ecuadorianischen Regierung, 20 (!) US-amerikanische Militärattaches, die sich zusammen mit 30 weiteren in der US-Botschaft in Quito herumtreiben, des Landes zu verweisen. Ecuadors Präsident Correa ist einer der engsten Verbündeten der venezolanischen Regierung. Für die US-Administration ist das ein und dieselbe Schublade. Washington und die Opposition in Venezuela haben das gleiche Ziel: Die chavistische Regierung in Caracas muss verschwinden. Geostrategisch ist diese Regierung für die US-Sicherheitsinteressen ein Störfaktor ersten Ranges. Auf die Staaten am Golf von Mexiko haben die USA seit jeher ein besonderes Augenmerk. Die antiimperialistische Politik Venezuelas stärkt die Position Kubas, eröffnet über ALBA und weitere Zusammenschlüsse neue Formen der Integrationspolitik Diese Faktoren verschaffen der venezolanischen Führung nicht nur bei den fortschrittlichen Regierungen Lateinamerikas Anerkennung. Nicht zu vergessen der Erdölreichtum, der dem Land einen größeren ökonomischen wie politischen Spielraum ermöglicht. Somit hat die bolivarische Regierung in der Auseinandersetzung mit dem US-Imperialismus weitaus günstigere Ausgangsbedingungen als etwa die sandinistische Regierung Nicaraguas in den achtziger Jahren. Doch unabhängig davon, ob die fortschrittliche bolivarische Bewegung bei den kommenden Wahlen die Mehrheit wie bisher sichern kann, machen die subalternen Klassen in Venezuela derzeit wichtige Erfahrungen. Ein Rollback der sozialen Errungenschaften wäre nur mit brutalen Repressionsmaßnahmen durchführbar und würde das Land in Lateinamerika völlig isolieren. Ein Zurück zu den Zeiten der Militärdiktaturen der 70er und 80er Jahre ist mehr als unwahrscheinlich und würde bei den meisten Staaten des Subkontinents auf erheblichen Widerstand stoßen. Hoffen wir, dass die gesellschaftlichen Veränderungen in Venezuela die Chance einer weiteren Vertiefung bekommen. Dieser Prozess erfordert Zeit und Geduld.

hd /Stand: 6. Juni 2014


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 8:
Plakat: Venezuela braucht dich Töte einen Chavisten! JAVU

Abb. S. 9:
Studenten halten Transparent:
Maduro versteht die Studenten nicht
1. weil er nicht studiert hat
2. weil er kein Venezolaner ist

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 184 - Sommer 2014, Seite 7 bis 11
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2014