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ARBEITERSTIMME/312: Das Erinnern weitertragen - Das Unbeschreibliche beschreiben


Arbeiterstimme Nr. 188 - Sommer 2015
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Das Erinnern weitertragen - Das Unbeschreibliche beschreiben

Zum öffentlichen Gedenken in Bergen-Belsen am 26. April 2015


Am 15. April 1945 erreichten britische Militäreinheiten das KZ Bergen-Belsen bei Celle und beendeten die faschistische Lagerherrschaft. Das im perfiden Nazi-Jargon so bezeichnete "Durchgangs- und Aufenthalts-Lager" Bergen-Belsen gehörte neben Esterwegen (Emsland), Stukenbrock (Senne) und Neuengamme (Hamburg) zu den größten KZ-Einrichtungen in Norddeutschland. Das einst weiträumige Lagergelände und das neue Dokumentationszentrum, ein etwa 180 Meter langer, doppelstöckiger Flachbau, liegen heute wie versteckt zwischen lichten Kiefern- und Birkenhainen direkt neben der Landesstraße. Wer die Gedenkstätte des Kriegsgefangenen- und Konzentrationslagers Bergen-Belsen in der südlichen Lüneburger Heide besucht, gerät unversehens an einen Ort, der von seiner natürlich-idyllischen Beschaffenheit auf den ersten Blick kaum noch adäquat erinnert an den "tiefsten Ort der Hölle", wie es der aus Israel angereiste ehemalige Gefangene in Bergen-Belsen Ariel Jahalomi (92 Jahre) bei der zentralen Gedenkfeier dieses Jahres ausdrückte.

Die am 26. April über zweieinhalb Stunden im ndr-TV live übertragene Gedenkfeier war in diesem Jahr mit Bundespräsident Joachim Gauck als Hauptredner und Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) prominent besetzt. Rund tausend Menschen waren trotz kühlem regnerischem Aprilwetter zur Gedenkveranstaltung in die Südheide gekommen. Als geladene Gäste waren hundert Überlebende in Begleitung von Angehörigen anwesend. Einzelne von ihnen überbrachten als Vertreter und Vertreterinnen von Organisationen ehemaliger Häftlinge von Bergen-Belsen aus Polen, Ungarn, der Ukraine, Frankreich und besonders Israel Botschaften an die Versammelten. Der gemischte Chor der Jüdischen Gemeinde in Hannover sorgte für den musikalischen Rahmen mit ergreifenden jüdischen Trauerliedern. "Sei verflucht, Bergen-Belsen", heißt es zum Auftakt in einer Zeile des Gedichts "Befreiung" von Jadwiga Jesialska, das von einem Mitglied des Jüdischen Chors vertont wurde. In einem langen Zug legten Menschen am Ende der Veranstaltung mit Blumen bunt und reich geschmückte Kränze im stillen Gedenken vor der Inschriftenwand nieder. Der Chor stimmte dazu das Lied "Rachem" (Barmherzigkeit) an. Etwas zeitversetzt aber noch während der laufenden Haupt-Veranstaltung hielten der DGB Nord-Ost-Niedersachsen und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN/BdA) am Sowjetischen Mahnmal auf dem einige hundert Meter westlich gelegenen Kriegsgefangenenfriedhof von Bergen-Belsen eine eigene Gedenkkundgebung ab.

Bei allem berechtigtem und notwendigem Gedenken fand in den Redebeiträgen und persönlichen Stellungnahmen jenseits der Thematik faschistischer Gewaltherrschaft und der Befreiung davon so gut wie keine kritische Reflektion von Krieg, Gewalt, Militär und deren tieferen Ursachen und Auswirkungen statt. Unter den Anwesenden befanden sich auch mit Ordensbändern reich dekorierte britische Kriegsveteranen und Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr. So war in einseitiger Weise der offensichtlich geteilte Konsens, dass das "Gute" über das "Böse" zurecht militärisch gesiegt hat.

Bundespräsident Gauck hielt nach einleitenden Begrüßungsworten des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Weil die zentrale Ansprache. Weil unterstrich, Mord verjähre nicht, Massenmord und Völkermord schon gar nicht. Gauck erwähnte und bedachte in seiner Rede auch homosexuelle Gefangene und vom NS-Regime politisch Verfolgte und Ermordete wie Sozialisten und Kommunisten. Er sprach von unermesslicher Schuld der Deutschen, die einen Weltkrieg angezettelt hätten und davon, dass, wer in Zukunft "in der Wahrheit" leben wolle, ein aufrichtiges und der Wahrheit verpflichtetes Erinnern brauche. Als oberster Repräsentant Deutschlands richtete er seinen besonderen Dank an die britischen Befreier von Bergen-Belsen und späteren Besatzer. Dankbar konnten und können den Briten zu allererst die KZ-Überlebenden sein, für die sie zu Rettern und Boten der Humanität wurden. Vielen Deutschen war (und ist) aber auch noch die Rolle der Briten in einem jahrelangen gnadenlosen Bombenterror aus der Luft gegen die Zivilbevölkerung in deutschen Städten gegenwärtig, mit Hunderttausenden von Toten, über einer Million Luftkriegsversehrten und einer Vielzahl bis zu 80 Prozent zerstörter Städte. Lobend erwähnte Gauck eine besondere "Graswurzelbewegung für aktive Erinnerungsarbeit", die er seit den 1980er Jahren in Deutschland am Werk sehe. Wer Gaucks sonstige liberalkonservative Ansichten etwas näher kennt, dürfte sich freilich etwas verwundert gefragt haben, wer ihm wohl diese Begrifflichkeit in seine Rede geschrieben haben mag?

Durchaus auch etwas befremdliche jüdisch-zionistische Töne ließ der anwesende Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder (USA), Milliardär, Republikaner und Likud-Sympathisant, in seinem Grußwort auf Englisch unterschwellig anklingen. Er betonte das jüdische Existenz- und Selbstbestimmungsrecht. Es gäbe, so Lauders klare Worte, als Perspektive für eine jüdische Heimstatt ein altes zionistisches Motto: "Wenn du es willst, dann wird es kein Traum bleiben". Mit diesem Motto in fast gleichem Wortlaut war schon Ende des 19. Jahrhunderts der Verfechter eines Judenstaats und Visionär des politischen Zionismus, Theodor Herzl, öffentlich und publizistisch hervorgetreten. Zum Albtraum von Vertreibung und Unterdrückung wurde dann der Kampf um diese Heimstatt vor allem und bis heute für die palästinensische Bevölkerung. Lauders Rede mutete zeitweilig an wie eine Warnung an die Adresse aller Zweifelnden an jüdischer Entschlossenheit. Man sehe, so Lauder, mit Sorge in Europa einen neu aufkommenden antijüdischen Hass und die Verbreitung antisemitischer Lügen.

Zu Recht wies der Vorsitzende des Zentralrats der Sinti und Roma, Romani Rose, in seinem Grußwort darauf hin, dass von der von ihm vertretenen Minderheit während der Nazidiktatur über 500.000 Angehörige, darunter seine Tante, durch Verfolgung und Mord in KZs umgekommen sind, so auch in Bergen-Belsen. Er verband es mit der aktuellen Warnung vor erneut anwachsender Diskriminierung von Minderheiten und aus dem Ausland zuwandernden, Asyl suchenden Menschen in der heutigen BRD.

Der jüdische Anteil unter den Häftlingen und Opfern war in Bergen-Belsen besonders hoch. Dazu gehörten neben dem überlebenden Schriftsteller Jean Améry am bekanntesten und vielleicht tragischsten die beiden Schwestern Margot und Anne Frank. Sie waren im Spätherbst 1944 wie viele andere auch mit Räumungstransporten vom KZ Auschwitz noch nach Bergen-Belsen gekommen und von ihren Eltern getrennt worden. Mit der großen Zahl zusätzlicher Häftlinge aus noch anderen von den Nazis aufgegebenen Lagern wie Sachsenhausen, Buchenwald, Mittelbau-Dora, Mauthausen war das KZ Bergen-Belsen völlig überfüllt. Die Gefangenen wurden von den Nazis weder ausreichend verpflegt noch medizinisch betreut. Viele blieben in meist nur provisorischen Zelten im aufgeweichten Morast und Dreck sich selbst überlassen oder mussten ganz im Freien in Erdlöchern vegetieren, um wenigstens etwas Schutz vor Kälte, Regen und Wind zu finden. Nach ihrer älteren Schwester starb auch Anne Frank vermutlich noch im Februar oder März 1945 an Auszehrung und von Typhus stark geschwächt nur wenige Wochen vor Ankunft der britischen Armee. Bergen-Belsen war kein Vernichtungslager wie Auschwitz-Birkenau, Treblinka oder Maidanek, dafür erledigten Mangelernährung, Hunger, fehlende Hygiene, Krankheit und Seuchen, besonders Typhus, zusätzlich das Geschäft der Henker. In der Zeit zwischen 1940 und 1945 starben von den ca. 200.000 im "Durchgang" und "Aufenthalt" nach Bergen-Belsen Deportierten nach ungefähren Schätzungen zwischen 50 bis 60.000 Gefangene, Männer, Frauen, Kinder. Allein im Monat März 1945 fielen unter unvorstellbaren Bedingungen etwa 18.000 Gefangene dem Massensterben zum Opfer. Aus den Schornsteinen des Krematoriums quoll in den letzten Kriegswochen nahezu ohne Pause schwarz-roter Verbrennungsrauch. Die Asche, so berichtete die ukrainische Überlebende Anastasja Gulei in ihrer Botschaft an die Versammelten, haben Häftlinge als "Dünger" verstreuen müssen.

Bei der abschließenden Zeremonie am jüdischen Mahnmal griff Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden und Jüdinnen in Deutschland, die Inschrift am Gedenkstein auf, die lautet: "Erde, verdecke nicht das Blut, das auf dir vergossen wurde" und interpretierte sie in doppelter Weise: Die Toten nicht zu vergessen und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Sie dürften nicht davonkommen, auch wenn sie ihre Spuren verwischten. Eine breite Inschriftenwand aus Beton am Westrand der großen Lichtung mit weithin sichtbarem Obelisken, nicht weit weg das jüdische Mahnmal und das große von polnischen Überlebenden errichtete Holzkreuz markieren schon seit Jahrzehnten den Kernbereich der Erinnerungstätte im Heidewald. Zuletzt hinzugekommen ist im Jahr 2000 das Haus der Stille. Neben dem Pädagogischen Informationszentrum gibt es seit 2007 die moderne Dokumentationsstätte mit Besucherparkplatz, wie man sie mittlerweile auch an anderen bekannten ehemaligen KZ-Standorten vorfindet.

Die britische Besatzungsarmee hatte das Lager samt Barackenbauten und Versorgungsgebäuden wohl auch wegen der großen Seuchengefahr so bald wie möglich eingeebnet und die zahlreichen vorgefundenen Toten in Massengräbern bestattet. Damit wurden aber auch menschliche Spuren und das Antlitz eines Leidensortes beseitigt. So gibt es auf dem von niederer Bewaldung umsäumten Freigelände als "Friedhof" nur einzelne symbolische Grabsteine und mehrere angelegte niedere Erdhügel als Massengräber mit der auf Betonsteinen eingemeißelten Zahl der dort Bestatteten, 300, 1200, 800 usw. Bis 1950 dienten am Standort der vormaligen Wehrmachtskaserne außerhalb des Areals bei Belsen die dortigen Gebäude den Briten zuerst als Notlazarett für etwa 30.000 KZ-Überlebende und anschließend als sog. DP-Camp (DP = Displaced Person) vor allem mit jüdischen Menschen. Allein zweitausend Kinder sollen in dem Camp in diesen fünf Jahren geboren worden sein. Ein Zeichen neuer Lebenshoffnung an einem schrecklichen Ort, an dem nicht weit entfernt etwa 3000 Kinder umgekommen waren. Dieser Bereich des britischen Hohne-Army-Camps ist öffentlich nicht bzw. nur mit Genehmigung zugänglich. Kuriose Randnotiz der Geschichte: nur wenige km vom KZ-Standort Bergen-Belsen entfernt lebte bald nach 1945 der Administrator der "Endlösung", Adolf Eichmann, unerkannt unter falschem Namen auf einem Hof und betätigte sich als Waldarbeiter, Geflügelzüchter und Eierhändler. 1950 zog er es dann vor, mit Unterstützung aus dem Vatikan in Rom Deutschland zu verlassen und sich über die sog. Rattenlinie nach Argentinien abzusetzen.

Mehrere der schon genannten Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, damals meist kaum älter als zwischen zehn und zwanzig Jahren, schilderten ergänzend zu den Prominentenreden das von ihnen in Bergen-Belsen mit angesehene und selbst erlittene Elend an Leib, Seele und Leben. Da war die tägliche existenzielle Not, waren die widrigen äußeren Bedingungen, die tief empfundene persönliche Schmach und Entehrung, die Hoffnungslosigkeit und ständige Demütigung durch Lagerwachen und Lagerpersonal, die Angst vor dem sie jederzeit in dieser aussichtslosen Lage ereilenden Tod, entweder durch Hunger, Krankheit oder Tortur. Solidarität untereinander war in dieser hermetischen Atmosphäre von Unterdrückung, sadistischer Qual und bewusst geschürter Denunziation nur in den wenigsten Fällen anzutreffen. Im Grunde sei das Unbeschreibliche des Erfahrenen und Erlittenen kaum mit Worten zu beschreiben und benennen, dennoch sei es notwendig, es zu versuchen. Anastasja Gulei (90 Jahre), Vertreterin der Organisation der ehemaligen Häftlinge des KZ Bergen-Belsen in der Ukraine, richtete darum auch einen dringenden Appell an die heutige Jugend, sich über die KZ-Verbrechen beständig weiter zu informieren und dafür zu sorgen, dass in der Erinnerung auch durch nachfolgende Generationen nicht innegehalten wird, denn dies sei eine gegenwärtig wieder zu beobachtende wachsende Tendenz. Da werde z. B. gefragt, was die Deutschen heute noch mit den Vorgängen von damals zu tun hätten. Frau Gulei betonte, sie wähne sich eins mit vielen jungen Leuten, zu denen sie immer wieder bei Seminaren, Geschichtswerkstätten und Veranstaltungen spreche und deren Interesse und Anteilnahme ihr das Gefühl gäben, mit ihrem Anliegen von dieser Jugend verstanden zu werden.

E. K. Bremen, 29. April 2015

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 188 - Sommer 2015, Seite 36 bis 38
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2015

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