Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


ARBEITERSTIMME/345: Zum Ausgang des Brexit-Referendums - Vergebliche Suche nach Schutz in der Nation


Arbeiterstimme Nr. 194 - Winter 2016
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Zum Ausgang des Brexit-Referendums
Vergebliche Suche nach Schutz in der Nation


So, wie die Europäische Union (EU) der zurzeit noch 28 Staaten das Werk ihrer herrschenden Klassen ist, so sind auch ihre Krisen deren Werk. Die lohnabhängigen Klassen sind Beteiligte wie auch Leidtragende, selten Nutznießer, der Auseinandersetzungen ihrer Bourgeoisien. Karl Marx und Friedrich Engels benennen dies im "Kommunistischen Manifest": "Die Bourgeoisie befindet sich in fortwährendem Kampfe: anfangs gegen die Aristokratie; später gegen die Teile der Bourgeoisie selbst, deren Interessen mit dem Fortschritt der Industrie in Widerspruch geraten; stets gegen die Bourgeoisie aller auswärtigen Länder. In allen diesen Kämpfen sieht sie sich genötigt, an das Proletariat zu appellieren, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen und es so in die politische Bewegung hineinzureißen." Genau dies fand auch in der Kampagne um den Brexit statt.

Dem britischen Premierminister David Cameron wird von manchen EU-Befürwortern der Vorwurf gemacht, durch sein Versprechen eines EU-Referendums nach den Unterhauswahlen vom Mai 2015 den Brexit sozusagen fahrlässig ausgelöst zu haben. Doch welche Alternativen hätte er gehabt, wenn man berücksichtigt, dass vor dieser Wahl die Konservative Partei gespalten war, in der Bevölkerung eine deutliche Brexit-Stimmung herrschte und mit der UK Independence Party (UKIP) eine gefährliche Konkurrenz erwachsen war? Das Wahlergebnis vom 7. Mai jedenfalls schien Camerons Taktik voll zu bestätigen - die Tories erhielten mit 330 von 649 Mandaten eine komfortable absolute Mehrheit im House of Commons.

Die britische Bourgeoisie ist der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) erst relativ spät beigetreten, am 1. Januar 1973. Der ursprüngliche Beitrittsantrag unter der Labour-Regierung von Harold Wilson vom Mai 1967 scheiterte am französischen Veto. Die Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht vom Februar 1992 (Inkrafttreten 1993), der auch von der britischen Regierung unterzeichnet wurde, war bereits damals auf der Insel umstritten, insbesondere wegen der haushaltsrechtlichen Vorgaben, den sogenannten Maastricht-Kriterien. In der überwiegenden britischen Wahrnehmung waren EG und später EU schlicht und einfach Freihandelsprojekte. Die Haltung des maßgeblichen Teils der britischen herrschenden Klassen kam in der Ablehnung jeder weiteren "Vertiefung" der europäischen Vereinigung durch die wechselnden Regierungen in London zum Ausdruck. Damit standen sie in Gegensatz zur Haltung etwa der deutschen und französischen Regierungen in dieser Frage. Das prägte auch die Haltung der britischen Politik zur EU-Osterweiterung, die sie unterstützte, weil sie in einer größeren und vielgestaltigeren Union ein Hindernis für deren Vertiefung sah.

Die Einführung einer neuen, gemeinsamen Währung, des Euro, durch eine Reihe europäischer Länder 2002, an der Spitze Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten, befeuerte die Diskussion um ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten". Für das UK stellte sich damit die Frage, ob es Teil des "schnellen" europäischen Zentrums mit dem Euro als Währung sein wollte, oder Teil der "langsameren Gruppe", deren politisches Gewicht zwangsläufig im Laufe der Jahre abnehmen würde. Aus der Sicht eines Teils der herrschenden Klassen war das die Wahl zwischen Pest und Cholera; sie wollten weder das Pfund Sterling als Währung aufgeben, noch wollten sie ihre Haushaltsführung von Brüssel kontrolliert Wissen und schon gar nicht wollten sie - immerhin eine der beiden westeuropäischen Atommächte - in der zweiten Liga der EU mitspielen.

Die deutschstämmige Labour-Abgeordnete Gisela Stuart steht für diese Überlegungen: "Die Idee der EU, sich dauerhaft zu vertiefen und zu erweitern, hat keine Zukunft. Ein Europa mit zwei Geschwindigkeiten, aber einem Ziel, und das mit 28 Mitgliedern - das funktioniert nicht. Unser Austritt ist die logische Folge aus Maastricht 1992, als wir sagten: Wir machen weder bei Schengen mit noch beim Euro. Eine Weile konnte man das noch auf zwei Bahnen laufen lassen, aber das war mit der Einführung des Euros vorbei ... Je tiefer sich die anderen, also die Euroländer, integrieren und je länger zugleich die Logik gilt, dass alle, also auch die Nichteuroländer, dasselbe Ziel haben müssen, desto schwieriger wird das mit der britischen Extrawurst. Irgendwann werden für uns die Nachteile überwiegen."

Es ist klar, dass Stuart ihre Position vom Standpunkt der herrschenden Klassen Britanniens formuliert. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie recht hat im Hinblick auf den politischen Bedeutungsverlust des UK innerhalb der EU, egal, ob mit oder ohne Euro. Der Austritt in der Hoffnung auf eine bedeutendere politische Rolle in der Welt ist allerdings eine Wette mit höchst ungewissem Ausgang.


"Die Entscheidung der Briten für den Brexit ist nicht nur ein Veto gegen die EU, sondern auch ein Misstrauensvotum gegen die überwiegend proeuropäischen Eliten im eigenen Land. In kaum einem Industrieland hat sich die Einkommensschere zwischen Gewinnern und Verlierern so weit geöffnet wie in Großbritannien. Für den Brexit zu stimmen, das war für viele im Land auch das Ventil, um aufgestauten Frust loszuwerden - über stagnierende Löhne und einen staatlichen Sparkurs, dessen Folgen in Schulen, Krankenhäusern und anderen öffentlichen Bereichen schmerzhaft zu spüren sind."

(Marcus Theurer in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.7.2016)


Mit Blick auf die wirtschaftlichen Folgen eines Austritts aus der EU geben sich die Verfechter des Brexit optimistisch: Ohne die Regulierung und die Brüsseler Bürokratie könne sich die britische Wirtschaft auf Dauer besser entwickeln, vertritt der britische Ökonom Patrick Minford. Und die bereits zitierte Gisela Stuart meint: "Dass wir von außerhalb der EU keinen Einfluss mehr nehmen können, das würde ich vielleicht akzeptieren, wenn wir Luxemburg wären oder Liechtenstein. Wir sind aber die fünftgrößte Wirtschaftsmacht mit einem Ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat."

Hinter diesem politischen und ökonomischen Optimismus steckt aber in Wirklichkeit eine Hoffnung, die sich nur zu leicht als Illusion entpuppen könnte: Die Rolle der "besonderen Beziehungen" zu den USA. Der britische Soziologe Colin Crouch sieht das skeptischer: "Großbritannien ist das europäische Land, das am nachdrücklichsten auf seiner Souveränität beharrt. Britische Europapolitiker treten gern in diesem nationalistischen Gewand auf. Die Realität sieht jedoch etwas anders aus. Tatsächlich versuchen die Briten, ein Stück von der Marktdominanz der Vereinigten Staaten abzubekommen. ... Auch wenn nur wenige britische Politiker und Banker das so sehen, wir haben zugunsten einer gewissen Beteiligung am Netzwerk der Vereinigten Staaten auf die Chance verzichtet, bei der Gestaltung eines Systems mitzuwirken - was uns bei uneingeschränkter Mitarbeit in den europäischen Institutionen möglich wäre."

Die Anhänger der EU, die "Remainers", im britischen Unternehmerlager waren während der Austrittskampagne aus überwiegend taktischen Gründen zurückhaltender. Die Firmenspitzen von Nissan und Toyota, wie auch andere exportorientierte Unternehmen mit Ziel Kontinentaleuropa äußerten Bedenken wegen der möglichen Austrittsfolgen, ebenso die Londoner City. Aber vor allem die Banker genießen unter den lohnabhängigen Klassen kein hohes Ansehen, und so traten sie nicht annähernd so offensiv auf, wie beispielsweise Teile der britischen Medien, für die beispielhaft Rupert Murdoch steht, Eigentümer des Massenblattes "The Sun" (vergleichbar mit der Bild-Zeitung), aber auch der "Times" und des TV- und Radiokonzerns "News Corporation". Sie überließen die Propaganda für den Verbleib in der Union im Wesentlichen dem Premier David Cameron und seiner Mannschaft.


Alt gegen jung?

In den ersten Tagen nach dem Referendum tauchte in der Presse der Vorwurf auf, die Älteren, die mehrheitlich für den Brexit gestimmt hatten, hätten der Jugend, die überwiegend für den Verbleib stimmte, "die Zukunft gestohlen".

Am 28. Juni "entlarvte" dann die Frankfurter Allgemeine Zeitung diesen "Mythos": "Die jungen Wähler (hätten) die alten tatsächlich überstimmen können, hätten sie nur am Referendum teilgenommen. ... Eine Analyse der Financial Times hat deutlich gezeigt: Die Wahlbeteiligung war eher in den Bezirken hoch, wo die Wähler alt waren." Der Sender Sky hatte gemeldet, dass sich von der Altersgruppe zwischen 18 und 24 Jahren nur 36 Prozent an der Wahl beteiligt hatten.

Am 14. Juli treibt das Blatt eine neue Sau durchs Dorf: Nachwahlbefragungen des Meinungsforschungsinstituts Opinium hätten eine Wahlbeteiligung der gleichen Altersgruppe von 64 Prozent ergeben. Die Wahlbeteiligung der über 65jährigen lag bei mehr als 90 Prozent.


Das Vereinigte Königreich ist Nettozahler in der EU, ebenso wie Deutschland, Frankreich, die Niederlande und Italien. Der ehemalige Londoner Oberbürgermeister Boris Johnson, nunmehr Außenminister unter Theresa May, versprach bei seiner Austrittskampagne, dass die eingesparten Beiträge der britischen Bevölkerung zugute kommen würden. Wer das genau sein würde, sagte er nicht. Jedenfalls werden nach dem Austritt beispielsweise etwa 930 Millionen Euro EU-Fördermittel für Forschung und Innovation wegfallen. Die britische Regierung hatte ihre eigene Forschungsförderung seit Jahren systematisch gesenkt; "die große Mehrheit britischer Forscher ist auf die EU angewiesen. Für die Wissenschaft werde ein Austritt aus der EU deshalb zu einem Desaster werden, hatte der Astrophysiker Stephen Hawking noch vor dem Referendum gewarnt."

Auch die Fördermittel aus dem Europäischen Sozialfonds und dem Regionalfonds werden in Zukunft entfallen.

Die Propagandaschlacht um den Brexit

Seit dem 1. Januar 1973, dem Beitrittsdatum des Vereinigten Königreichs (UK) zur EWG, hat sich die wirtschaftliche und soziale Situation des Landes wesentlich geändert. Das ließe sich wohl von allen anderen Mitgliedsstaaten ebenso sagen, aber hier ist die Feststellung mit einer deutlich negativen Note verbunden. Der englische Journalist und Politikberater Nicholas Comfort hat in einem 2012 erschienen Buch den Niedergang der britischen Industrie zwischen 1952 und 2012 nachgezeichnet. Fast alle produzierenden Branchen, in denen Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg noch eine bedeutende Rolle spielte, sind unaufhaltsam niedergegangen: Flugzeugbau, Schiffbau, Kraftwerksbau, Kraftfahrzeuge, Kohle und Stahl u. a. m. Unter den 130 größten Unternehmen der Welt nach Börsenkapitalisierung befinden sich gerade einmal zehn mit Sitz in Großbritannien (beginnend mit Platz 50). Und fünfzehn der 100 umsatzstärksten Unternehmen Europas sind dort angesiedelt, z. B. Shell, BP, Tesco (Supermarktkette), Vodafone, Unilever.

Eine wichtige Folge dieser Entwicklung war der Verlust von qualifizierten Arbeitsplätzen in Industrie und Handwerk, ein Ausbluten ganzer Industrieregionen in Mittelengland und Wales, aber auch Schottland. Neue, qualifizierte Arbeitsplätze entstanden in der Finanzbranche, die in London konzentriert ist. Handel und Dienstleistungsunternehmen schufen zwar auch neue Arbeitsplätze, allerdings häufig auf der Basis von Teilzeitbeschäftigung und auf Mindestlohn-Niveau.

Vor diesem Hintergrund wurde "Einwanderung" zu einem Hauptthema in der Propagandaschlacht. Die herrschenden Klassen Großbritanniens stets waren nicht nur freihändlerisch und wirtschaftsliberal gesinnt, sie hatten in der Vergangenheit auch die Öffnung des Arbeitsmarktes aktiv betrieben; sowohl bei der Immigration aus dem Commonwealth, wie auch nach der EU-Osterweiterung 2004, als sie - anders als z. B. die deutsche Regierung - auf eine Karenzzeit für die Einreise von osteuropäischen Lohnabhängigen verzichteten. Dieselben wirtschaftsliberalen Kreise, die von der Einwanderung qualifizierter osteuropäischer Handwerker und Pflegefachkräfte profitierten, polemisierten nun in den Medien und im Parlament gegen die "Brüsseler Diktatur", die den armen britischen Proletariern die Arbeitsplätze wegnehmen würden. Jedes vorhandene soziale Problem wurde gegen die EU in Stellung gebracht: Wohnungsnot, steigende Hauspreise, niedrige Löhne, lange Wartezeiten in Notaufnahmen der Krankenhäuser, knappe Schulplätze.

Wie zynisch die Propaganda gegen die Einwanderung vor allem von Fachkräften ist, wird am Beispiel des National Health Service (NHS) deutlich. Zwischen 2009 und 2013 wurden in England fast ein Fünftel aller Ausbildungsplätze für Krankenpflegepersonal gestrichen - bei einer wachsenden und alternden Bevölkerung. Rund 35 Prozent der Beschäftigten des NHS sind Einwanderer. "... ohne die vielen Ärzte und Krankenschwestern aus dem Ausland droht dem NHS ein Personalnotstand. Schon jetzt sucht der Gesundheitsdienst händeringend Arbeitskräfte, die er im eigenen Land nicht findet: Ende 2015 waren in England, Wales und Nordirland 9 Prozent aller Krankenpfleger-Stellen vakant - insgesamt mehr als 23.000 Arbeitsplätze. Die Zahl der unbesetzten Arztstellen ist in den vergangenen zwei Jahren um 60 Prozent auf knapp 4.700 Stellen gestiegen."

Tatsächlich haben die herrschenden Klassen Großbritanniens auf die Einwerbung ausländischer Fachkräfte gesetzt, um die Ausbildungskosten im eigenen Bildungssystem einzusparen. Außerdem verdienen ausländische Pflegekräfte jährlich etwa 7000 Euro weniger als ihre einheimischen Kollegen.

Das Ergebnis des Referendums

Das Gesamtergebnis des Referendums ist eindeutig: 48,1 Prozent stimmten für "bleiben", 51,9 Prozent für "verlassen" - dies bei einer hohen Wahlbeteiligung von 72,2 Prozent. Im Vergleich: An der Unterhauswahl 2015 beteiligten sich 66,1 Prozent der Wahlberechtigten.

Allerdings gibt das Gesamtergebnis nur ein ungenaues, oberflächliches Bild des Abstimmungsverhaltens der britischen Bevölkerung. Tatsächlich hat in den englischen und walisischen Regionen nur Greater London mehrheitlich für "bleiben" votiert (59,9 Prozent). In den übrigen Regionen Englands stimmten für den Brexit bis zu 59,3 Prozent der Wähler. Dagegen stimmten 62 Prozent der schottischen und 55,8 Prozent der nordirischen Wähler für "bleiben". Unser Augenmerk richtet sich vor allem auf die Tatsache, dass in großer Zahl die Angehörigen der lohnabhängigen Klassen für den Brexit stimmten. Auch solche, die bei Firmen beschäftigt sind, die für den Export nach Kontinentaleuropa produzieren, wie die Nissan-Werke in Washington, nahe Sunderland, die mehr als die Hälfte ihrer Autos steuerfrei ins EU-Ausland exportieren. Der Bericht wirft ein Licht auf gewisse Widersprüche in der britischen Gesellschaft: Aus Regionalförderungsmitteln erhält die Stadt Washington "... für jedes Pfund, das die öffentliche Hand investiere, im Schnitt noch einmal zehn Pfund. Das meiste davon geht jedoch direkt in die Industrie, wo der Effekt für den Bürger direkt kaum wahrnehmbar ist." Der Haushalt der Stadtverwaltung wird nur zu zwölf Prozent aus der Gemeindesteuer finanziert, der Rest kommt aus London und aus Brüssel. Gleichwohl haben hier 61,3 Prozent der Wähler für den Brexit gestimmt. Argumente: "Es sind mittlerweile einfach zu viele Ausländer hier"; "Die Ausländer machen die Löhne und die Mietpreise kaputt". Eine andere Stimme, Liam Dennis, 21 Jahre alt: "Früher gehörte uns die halbe Welt, niemand hätte sich damals mit uns angelegt." Aber heute komme die halbe Welt nach England und mache dort, was sie wolle. Der bereits zitierte Labour-Stadtrat John Kelly sagt, dass es den Wählern eigentlich gar nicht um die EU gegangen sei. Brüssel und London seien für sie Gesichter eines politischen Systems, das ihnen nichts mehr bietet.

Ein junger Mann von 26 Jahren aus der Nähe von Leeds, der für den Brexit stimmte, argumentiert: "Wieso sollen wir mit unserem Steuergeld die Griechen retten, obwohl es hier bei uns so vielen Menschen schlecht geht?" Auch seine Eltern und Großeltern haben für den Austritt votiert. "Ich vertraue den Älteren, denn sie wissen, wie es war, bevor Großbritannien EU-Mitglied wurde."

Dieser Stimme stehen andere junge Menschen entgegen, die in dem offenen EU-Arbeitsmarkt für sich Chancen sehen.

Tatsächlich machen viele britische Lohnabhängige die EU für den Verfall der Sozialsysteme, für den Niedergang der Industrie und die Verarmung der Kommunen verantwortlich. Sie sind insoweit vor allem Opfer der massiven Hetze eines Teils der Massenmedien und jener Politiker, die von der Verantwortung der britischen Bourgeoisie ablenken und den Zorn der Hoffnungslosen auf eine anonyme und letztlich unangreifbare Bürokratie in Brüssel lenken; wie sich zeigt, durchaus mit Erfolg.

Gleichwohl wäre es eine Übertreibung, das Brexit-Ergebnis ausschließlich als Votum unter dem Gesichtspunkt Proletarier gegen Bourgeois zu sehen. Tatsächlich waren nach den Ergebnissen einer Umfrage kurz vor der Wahl immerhin 59 Prozent der Brexit-Befürworter Anhänger der Tories und unter den Labour-Sympathisanten wollten immerhin 68 Prozent in der EU bleiben.

Keine Frage: das Referendum hat Risse in der britischen Gesellschaft ins helle Licht gebracht. Es hat die Gräben in Nordirland zwischen Protestanten und Katholiken weiter vertieft, die Kluft zwischen Schottland und London verbreitert und die soziale Spaltung des Landes sichtbarer werden lassen. Zugleich hat es die Krise in der Labour-Party verschärft, wo eine Mehrheit der Parlamentsfraktion gegen den Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn rebelliert. Den Tories scheint es fürs erste gelungen zu sein, mit dem Abgang von David Cameron und der Wahl von Theresa May zur Premierministerin die parteiinternen Konflikte zwischen Brexiteers und Remainers zu überdecken. Aber: Was werden zukünftige britische Regierungen und die bürgerlichen Demagogen tun, wenn sie die Schuld für die Zustände im eigenen Land nicht mehr Brüssel und der EU anlasten können?

Die Folgen des Brexit

Über die wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen des Brexit lässt sich gegenwärtig nur spekulieren. Das gilt selbstverständlich für die langfristigen, aber auch für die kurz- und mittelfristigen Folgen. 80 ist beispielsweise derzeit noch unklar, ob es zur Verschmelzung von Deutscher Börse in Frankfurt mit der London Stock Exchange (LSE) kommen wird und wo deren Hauptsitz sein wird. Auch wird sich erst noch weisen müssen, welche Schlüsse die großen, exportorientierten Unternehmen für ihre Investitionsentscheidungen aus dem Brexit ziehen werden. Klar ist auch, dass die Regierungen, die die Modalitäten des Austritts festlegen und verhandeln müssen, sich nicht in die Karten gucken lassen werden.

Eine unmittelbare Folge des Austrittsvotums war jedenfalls der Rücktritt von David Cameron. Am 4. Juli hatte sein Schatzkanzler (Finanzminister) George Osborne noch angekündigt, den Steuersatz auf Unternehmensgewinne von derzeit 20 Prozent auf unter 15 Prozent abzusenken, um mit den Niedrigsteuern Unternehmer im Lande zu halten. Im Gegenzug sollten Ausgaben gekürzt werden. Die neue Premierministerin Theresa May nahm sowohl von diesem Mann wie scheinbar auch von seinem Plan Abschied. Sie ernannte Philip Hammond zum neuen Schatzkanzler und schloss Steuererhöhungen, aber auch ein neues Kürzungsprogramm aus. Allerdings gilt Hammond als ein Politiker, der auf die Sanierung der Staatsfinanzen dringt und der die Ansichten seines Vorgängers teilt. Jedenfalls erscheinen die Tories einstweilen wieder als vereint, deren nach wie vor existierenden Widersprüche werden allerdings im Zuge der Ausstiegsverhandlungen mit der EU wahrscheinlich erneut zutage treten.

Bei der Labour-Party hat der Wahlausgang die internen Spannungen weiter erhöht. Jeremy Corbyns ehemalige Schattenwirtschaftsministerin Angela Eagle kündigte am 11. Juli ihre Kampfkandidatur gegen ihn bei der Urwahl zum Parteivorsitz an. Ende Juni hatten bereits 172 Abgeordnete der Labour-Unterhausfraktion Corbyn das Misstrauen ausgesprochen - bei lediglich 40 Unterstützern. Die Urwahl durch die Parteimitglieder Ende September bestätigte gleichwohl Corbyn als Parteivorsitzenden. Trotz dieser innerparteilichen Spannungen ist eine Parteispaltung wenig wahrscheinlich und es ist zu erwarten, dass die bisherige, an der Blair-Politik orientierte Führungsschicht ihre offenen Feindseligkeiten einstweilen einstellen wird.

Eine weitere wichtige Frage muss derweil (noch) unbeantwortet bleiben: Wie werden die Menschen reagieren, die für den Brexit gestimmt hatten, weil sie sich davon eine Hebung ihres Lebensstandards und der beruflichen Zukunftsaussichten ihrer Kinder versprochen hatten, wenn die britische Regierung wieder die Kontrolle über den Arbeitsmarkt ausüben und den Zuzug stoppen wird? Die Kommentare in der kontinentaleuropäischen Wirtschaftspresse betonen alle, dass Großbritannien den freien Marktzugang zur EU nur erhalten kann, wenn auch für die Ware Arbeitskraft keine Barrieren errichtet werden, kurz: Personenfreizügigkeit. Die EU kann es sich nach Lage der Dinge nicht leisten, in dieser substanziellen Angelegenheit für die Briten eine Ausnahme zu machen. Boris Johnson und seine Parteifreunde wussten dies, als sie die Zuwanderung in den Mittelpunkt ihrer Brexit-Kampagne stellten, sie wussten, dass sie ein Versprechen gaben, dass sie nicht würden halten können.

Die Frage der EU-Mitgliedschaft wurde im Vereinigten Königreich nicht als Klassenfrage verhandelt und auch nicht als solche entschieden. Die "soziale Frage" spielte mit hinein - aber auf indirekte Weise, als Protest gegen die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt, fehlende individuelle Aufstiegsperspektiven und gegen die "abgehobenen Politiker" in London.

Wie stehen wir zur EU?

Wie halten wir, die wir uns als Kommunisten verstehen, es mit der Europäischen Union? Diese Frage lässt sich nicht einfach beantworten, aber an dem Versuch führt spätestens nach dem Brexit kein Weg vorbei.

In ihrer sozusagen embryonalen Phase war die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS-Montanunion, seit 1951) vor allem der Versuch der französischen Bourgeoisie, nach zwei Weltkriegen die deutsche Montanindustrie zu kontrollieren. In ihrer zweiten, jugendlichen Phase war die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, seit 1957) sowohl ein Wall gegen das sozialistische Lager auf europäischem Boden als auch ein Projekt gegen die wirtschaftliche Dominanz der Vereinigten Staaten. In ihrer gegenwärtigen jungen Erwachsenenphase mit dem Euro als Gemeinschaftswährung von 19 der 28 Mitglieder ist die EU (seit 1993) vor allem ein Projekt, das die Konkurrenzfähigkeit gegenüber den großen Märkten der USA und Chinas gewährleisten soll.

Welche Bedeutung hat dabei die EU für die lohnabhängigen Klassen ihrer Mitgliedsländer?

Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass die Union nichts am kapitalistischen Charakter ihrer Mitgliedsstaaten ändert. Sie ändert auch nichts an dem Konkurrenzkampf, den die herrschenden Klassen unter- und gegeneinander führen. Zum Wesen dieser Konkurrenz gehört es bekanntermaßen, dass sie fortwährend dazu tendiert, sich selbst aufzuheben, indem sie wirtschaftliche Oligopole und Monopole schafft, die durch das Niederkonkurrieren der Schwächeren entstehen. Dies führt zur Konzentration und Zentralisation der Kapitale, also der Vergrößerung der Einheiten und der Anhäufung immer größerer Kapitalmassen bei immer weniger Eigentümern. Gleichzeitig bemüht sich die große Bourgeoisie um Herstellung gleicher oder zumindest ähnlicher Produktions- und Ausbeutungsbedingungen auf dem ganzen Globus. Die schwächeren nationalen Bourgeoisien wehren sich dagegen mit Zöllen und anderen Handelshindernissen, oder sie schließen sich - wie im Falle der EU - selbst zu eigenen Konditionen zusammen, um gemeinsam an Stärke im globalen Wettbewerb zu gewinnen. Verhandlungen, wie jetzt um CETA, TPP oder TTIP sind Ausdruck solcher Prozesse.

Auch die Arbeitskraft ist im Kapitalismus bekanntlich eine Ware. Es ist naheliegend, dass mit der generellen Marktöffnung für die Mitgliedsstaaten einer Freihandelszone auch der Arbeitsmarkt durchlässig wird. Es gibt Ausnahmen, wie bei NAFTA, wo das Macht- und Wohlstandsgefälle zwischen den USA und Mexiko so groß ist, dass die Vereinigten Staaten die legale Zuwanderung aus Mexiko begrenzen können. Und als Ware unterliegt auch die Arbeitskraft den Marktgesetzen: Bei Knappheit steigt, im Überschuss verliert ihr Preis; das gilt nicht nur für regionale, wie auch nationale und übernationale (Arbeits-)Märkte. Der Preis der Ware Arbeitskraft schwankt nicht nur zwischen den Nationen, sondern auch innerhalb der Nationalstaaten zwischen den Regionen ganz erheblich; ebenso die Preise für die Lebensmittel im weitesten Sinne (also auch Wohnung, Bildung etc.). Wer im Bayerischen Wald lebt, hat geringere Lebenshaltungskosten als jemand in München oder im Rhein-Main-Ballungsraum. Analoges gilt für fast alle Länder.

Die Union vergrößert aber den Rahmen ganz erheblich, in dem die Menschen legal nach Lohnarbeit suchen können, und sie erweitert - je nach Qualifikation und Lebensalter - das Feld, in dem die lohnabhängigen Klassen Erfahrungen sammeln können.

Die Europäischen Vereinigungen waren weit entfernt davon, ein Zeitalter weltweiten Friedens einzuläuten, aber zwischen ihren Mitgliedern gab es seit 1945 keine Kriege und auch keine Handelskriege mehr. Stattdessen gab und gibt es zunehmend Angleichungen von Regeln und Gesetzen. All dies ist erfahrungsgemäß das Werk der wirtschaftlich und politisch Starken, die gegen die schwächeren Konkurrenten ihre Regeln und ihre Gesetze durchsetzen. Kurz: Die Union verändert nichts Grundsätzliches am Kapitalismus und seinen Marktgesetzen. Aber konkret hat sie breiten Schichten der lohnabhängigen Klassen ein weiteres Feld der Mobilität und Erfahrungen eröffnet, das vor allem die Jungen und beruflich Qualifizierten zu ihrem individuellen Vorteil nutzen können. Und ferner hat sie in diesem Europa die nationalen Grenzen im Bewusstsein vieler Menschen unwichtiger werden lassen. Ein Ende dieser real existierenden Europäischen Union wäre in keiner Hinsicht ein Vorteil oder gar Fortschritt im Sinne der lohnabhängigen Klassen - nicht in ihrem gegenwärtigen Bewusstseinsstand und noch viel weniger, wenn sie in einigen Ländern wieder politische Parteien bilden, zu Klassen "für sich" werden. Die obersten Schichten der herrschenden Klassen sind schon seit Jahrhunderten durch geschickte Geschäfts- und Heiratspolitik untereinander international aufgestellt. Auch "das Proletariat hat kein Vaterland", wie es im Kommunistischen Manifest heißt. Das bedeutet nicht, dass es den existierenden Nationalstaat ungestraft ignorieren könnte; aber er ist nicht das Ziel des revolutionären Proletariats, sondern die Internationale. Unsere Haltung zur Europäischen Union ist nicht durch Prinzipien bestimmt. Wenn und soweit die Bourgeoisien aus ihren eigenen Klasseninteressen heraus Grenzen schleifen, wie sie es mit dem Projekt der EU tun, dann schadet dies nicht notwendig den Interessen der lohnabhängigen Klassen. Und wenn sie die Grenzen des Nationalstaats erneut schließen, dann nützt es nicht notwendig den Lohnabhängigen. Es gibt es keinen Anlass für uns Kommunisten, uns auf die Seite der kleinbürgerlichen Demagogen von AfD, UKIP, Front National oder Vlaamse Belang und Ähnlichem zu stellen.

10.08.2016

*

Zwei Stimmen aus Großbritannien

Im folgenden dokumentieren wir in Auszügen (in eigener Übersetzung) zwei kontroverse Positionen aus der britischen Linken. Der erste Beitrag ist die offizielle Stellungnahme der Kommunistischen Partei Britanniens (CPB) vom 28. Juni 2016 zur Brexit-Entscheidung. Der zweite Text stammt vom Generalsekretär des schottischen Gewerkschaftsdachverbandes TUC, Grahame Smith; er wurde am 5. Juli 2016 bei morningstaronline veröffentlicht, einem Organ der CPB. Hieran wird deutlich, wie sehr nicht nur die Meinungen sondern auch die Herangehensweise in dieser Angelegenheit sich unterscheiden. "Vereitelt den zweifachen Anschlag auf die Demokratie - Für einen linken Austritt aus der EU!

Das Ergebnis des Referendums ist wahrscheinlich ein heftiger Schlag für die herrschende kapitalistische Klasse Britanniens, ihre bezahlten Politiker und ihre imperialistischen Alliierten in der EU, den USA, dem IWF und der NATO.

Ihre erste Reaktion war ein doppelter Anschlag auf die Demokratie - gegen den demokratischen Willen der Menschen in Britannien, die EU zu verlassen, und gegen die demokratische Wahl von Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden der Labour Party. Als Antwort darauf muss nun die Linke die Prinzipien der Demokratie verteidigen und das Ergebnis des Referendums in eine Niederlage für die EU-IWF-NATO-Achse verwandeln.

Die Entscheidung für den Brexit war in erster Linie eine Folge des Zorns und der Enttäuschung der lohnabhängigen Klassen darüber, dass die Regierung, die politischen Parteien und die Politiker sie im Hinblick auf Arbeitsstellen, Bildung, Wohnraum, öffentliche Dienstleistungen, Lebensstandard und überhaupt Lebensqualität im Stich lassen. Andere Sorgen betrafen den Verfall der staatlichen Souveränität und die tatsächlichen oder wahrgenommenen Folgen der Masseneinwanderung.

Die Mehrheit für den Ausstieg wurde nur möglich, weil bedeutende Minderheiten von Labour, den Grünen, den Liberaldemokraten und Anhängern der Scottish National Party (SNP) sowie Feministinnen und asiatischstämmige Bürger gegen die EU-Mitgliedschaft waren. ...

Die einzig wirkliche demokratische Lösung ist die Abhaltung von Neuwahlen zum Unterhaus, damit die Wähler entscheiden können, wer sie bei den Austrittsverhandlungen in Brüssel vertritt. ...

Alle Demokraten innerhalb und außerhalb der Arbeiterbewegung sollten Corbyns Forderung unterstützen, den Austritt nach Artikel 50 des EU-Vertrags zu erklären, um den Ausstiegsprozess in Gang zu setzen.

Er ist der einzige Parteiführer, dem man vertrauen kann, dass er den Austritt aus der EU im Interesse der lohnabhängigen Klassen und der Bevölkerung Britanniens verhandeln wird.

Nach dem Ausstieg sollte es keine Unterwerfung mehr geben unter den kapitalistischen "freien Markt", mit der Freiheit für die großen Unternehmen, Kapital und Anlagen ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen, sozialen oder Umweltfolgen, die Konsequenzen für die Beschäftigten, die Bevölkerung, ihre Gemeinden und die Gesellschaft als Ganzes.

Ein Wiederaufleben von Streikbewegungen und Straßenprotest gegen die Tory-Politik der Austerität, der Privatisierungen, der nuklearen Aufrüstung und imperialistischer Kriege würde die Chancen für eine links-geführte Labour-Party bei den nächsten Wahlen deutlich erhöhen. Dies wiederum würde die Umwandlung des "Brexit" in einen "Lexit", einen Ausstieg aus der EU nach links, möglich machen ..."

(Erklärung des Generalsekretärs der Communist Party of Britain, Robert Griffiths, am 28. Juni 2016. Die CPB hatte sich 1988 von der Communist Party of Great Britain (CPGB) abgespalten; die CPGB löste sich 1991 auf. Griffiths trat bei den Unterhauswahlen 2015 in seinem walisischen Wahlkreis an und erhielt 186 Stimmen (0,6 Prozent). Der CPB gehört u. a. die Tageszeitung Morning Star.)

(Quellen:
http://www.communist-party.org.uk/britain/eu/2275-griffiths-defeat-the-double-cup-against-democracy/ ; Wikipedia)


"Der Brexit ist ein Weckruf für die Arbeiterbewegung

Auch wenn das Ergebnis des Referendums für viele, mich eingeschlossen, eine Überraschung war, so ist im Nachhinein doch klar, dass mit diesem Resultat zu rechnen war. Austeritätspolitik, keinerlei Fortschritte bei der Reform der Finanzinstitutionen, die für die Krise verantwortlich waren und die anhaltende Rezession, der Niedergang der Reallöhne und des Lebensstands, der Anstieg von Armut und Ungleichheit, die Herabwürdigung der Armen und der Verzicht auf eine Deckelung exzessiver Managergehälter und Boni, Steuervermeidung und - hinterziehung, dies alles zusammengenommen hat eine feste Überzeugung in großen Teilen der Bevölkerung entstehen lassen, dass ihre Belange von den Politikern und den politischen Institutionen nicht wahrgenommen werden.

Einen entlassenen Stahlarbeiter zur Stimmabgabe für den Verbleib in der EU zu bewegen, damit die Jobs der Banker in der Londoner City gerettet werden, wird kaum gelingen.

Wenngleich es Belege dafür gibt, dass eine Mehrheit der Mitglieder und Anhänger der Labour Party für "Remain" votierten, ist es offensichtlich, dass die Drinbleiben-Position der britischen Arbeiterbewegung, der Labour Party, des TUC und der meisten der großen Gewerkschaften zu vielen Lohnabhängigen nicht durchdrang, insbesondere in England und Wales, aber nicht nur dort. Das sollte uns nachdenklich machen.

Wir mögen eine Bewegung für die Armen und Entrechteten sein - aber wir sind keine Bewegung der Armen und Entrechteten.

Der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder ist unter den Angestellten höher als unter den Arbeitern, höher unter den qualifizierten Beschäftigten als unter den Hilfskräften im Handel und Dienstleistungssektor.

Das Alter spielte bei der Entscheidung der Menschen offensichtlich eine Rolle und es scheint, dass die Remain-Position der Gewerkschaften von vielen unserer Mitglieder geteilt wurde.

Nicht von allen - nicht von vielen in wenig qualifizierten, niedrig bezahlen Jobs, den Arbeitslosen und den prekär Beschäftigten.

Es steht außer Zweifel, dass die "Leave"-Kampagne die tatsächlichen Sorgen der Arbeiterwählerschaft skrupellos und zynisch ausgebeutet hat.

Einwanderer aus der EU wurden als Sündenböcke für die offensichtlichen wirtschaftlichen Mängel in Britannien benutzt, als Deckmäntelchen für die fehlende Bereitschaft von Leuten wie Gove und Boris Johnson, das Scheitern der neoliberalen, austeritätsgetriebenen Steuersenkungs- und Deregulierungspolitik zuzugeben, die sie unterstützen und die eine solch verheerende Wirkung auf die Arbeitergemeinden ausübt. ...

Warum dann verlief die Abstimmung in Schottland, London und Nordirland so anders? Sollen andere London und Nordirland kommentieren, ich halte mich an Schottland:

Man könnte leicht einfache, aber unüberlegte Schlüsse ziehen - beispielsweise, dass Schotten einfach fortschrittlicher, toleranter und offener für Andere sind - und die dabei die Tatsache übersehen, dass die Remain-Stimmen überwiegend aus Bezirken der Mittelklassen und zum Wenigsten aus Arbeiterbezirken kamen und dass Rassismus immer noch eine Eiterbeule der schottischen Gesellschaft ist.

Was in Schottland geschah, war zum Teil eine Konsequenz aus der Aufklärungsarbeit während unserer Kampagne für das Unabhängigkeitsreferendum ...

Die fortschrittlichen Themen, die im Zusammenhang mit den Vorstellungen über die Zukunftsaussichten Schottlands sowohl im Ja- wie auch im Nein-Lager diskutiert wurden, hatten maßgeblichen Einfluss auf die Haltung der Menschen quer durch die sozialen Klassen ..."

(Grahame Smith ist Generalsekretär des Scottish Trades Union Congress (STUC);

Quelle:
http://www.morningstaronline.co.uk/a-f858-Brexit-is-a-wake-up-call-to-the-labour-movement/ )

*

Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 194 - Winter 2016, Seite 27 bis 33
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
Die Arbeiterstimme erscheint viermal im Jahr.
Das Einzelheft kostet 3 Euro,
Abonnement und Geschenkabonnement kosten 13 Euro
(einschließlich Versandkosten).
Förderabonnement ab 20 Euro aufwärts.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Februar 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang