aufbau Nr. 87, Januar/Februar 2017
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus
Renitente RentnerInnen
STADTAUFWERTUNG Totalsanierungen, Neubauten, Nutzung von Brachen, Umgestaltung von öffentlichen Plätzen, günstige Bedingungen für den Pharmagiganten Novartis: Der Aufwertungsprozess ist im Basler St. Johanns-Quartier in vollem Gange. Doch einige RentnerInnen sagen der Verdrängung den Kampf an.
(rabs) Die 22 Mietparteien des Gebäudes an der
Mülhauserstrasse 26 wurden im Sommer zu einem Gespräch mit der
Verwalterin, der Immobilien Basel-Stadt (Immobas), eingeladen. Es gehe
um wichtige Informationen. In der Tat: Den BewohnerInnen wurde kurzum
mitgeteilt, dass sie ein Jahr Zeit hätten, ihre Sachen zu packen. Ein
Schock für die MieterInnen, die fast alle in einem hohen Alter sind
und zum Teil seit über vierzig Jahren in dem Haus leben. Sie sind
grösstenteils ehemalige Staatsangestellte und verfügen nur über eine
kleine Rente. Nach der Sanierung werden die Wohnungen für sie alle
unerschwinglich sein, denn der Preis wird sich verdoppeln bis
verdreifachen. Dabei sind das Gebäude und die Wohnungen nach wie vor
gut in Schuss, eine sanfte Sanierung wäre ohne weiteres möglich. Doch
daran hat die Besitzerin, die Pensionskasse Basel-Stadt, kein
Interesse, denn sie ist auf Rendite aus. Für die BewohnerInnen ist es
besonders bitter, dass sie ausgerechnet von der Institution auf die
Strasse gestellt werden, der sie ein Leben lang Abgaben zahlten, um im
Alter Lebensqualität zu haben.
Der Wohnblock an der Mülhauserstrasse 26 ist nur fünf Gehminuten vom Rheinufer entfernt. In der gleichen Distanz liegt auch die High-End-Bürostadt namens Novartis-Campus. Diese erstreckt sich über eine Fläche von 28 Fussballfeldern, ist von Arbeitspsychologen und Stararchitekten entworfen, durch Zäune und hunderte Kameras abgeschirmt und wirft einen langen Schatten ins Quartier hinein. Hier beherbergt Novartis seine Kader. Während die Produktion ins Ausland verlagert wurde, sind hier die sogenannten "Wissensarbeiter" beschäftigt. Damit kam eine neue Einkommensschicht ins Quartier. Der Bau des Campus wurde von stadtplanerischen Projekten der regierenden Sozialdemokratie flankiert: Umfahrungsstrassen, Autobahnanschluss, grosse, moderne Wohnüberbauungen. Das alles schafft aus der Perspektive der Pensionskasse (und zahlreicher anderer AnlegerInnen) das richtige Umfeld, um zu investieren und den Mietzins hochzuschrauben.
Doch so leicht wollen die RentnerInnen der Müli 26 nicht Platz machen, sie haben hier Wurzeln geschlagen und verharren trotz Vermittlungsversuche der Immobas auf dem Standpunkt "Wir bleiben drin". Gleich hinter ihrem Haus liegt die lange Zeit hart umkämpfte Wasserstrasse. Diese Häuser konnten verteidigt werden und sind seit einem Jahr als Genossenschaft selbstverwaltet. Das war ein ermutigender Erfolg, der aber gleichzeitig zu einer Befriedung der Kämpfe im Quartier führte, da der Konflikt um die Wasserstrasse zu einem Brennpunkte geworden war. Nun erhalten die rebellischen RentnerInnen aber Unterstützung aus der Nachbarschaft. Gemeinsam wurden Transpis gemalt, Briefe im Quartier verteilt, ein Kaffe-und-Kuchen-Nachmittag organisiert. Anknüpfungsfähig ist der Konflikt auch deshalb, weil die BewohnerInnen deutlich sagen, dass sie nicht nur um ihre eigenen Wohnungen kämpfen, sondern auch darum, dem Quartier ein Beispiel zu geben und einer Entwicklung Einhalt zu gebieten, die weit über ihr persönliches Schicksal hinausreicht.
Die 91-Jährige Margrit hat Angst vor der Zukunft. Im Haus sei eine Gemeinschaft gewachsen: Regelmässig schauen die BewohnerInnen beieinander vorbei, helfen sich gegenseitig, feiern gemeinsam an Festtagen. Nun ist bereits rund die Hälfte ausgezogen oder hat einen anderen Mietvertrag unterschrieben. Das hat einen Keil in die Hausgemeinschaft getrieben, den die Immobas weiter zu vertiefen versucht. Seit die kleine Revolte der Müli 26 angelaufen ist, haben VertreterInnen der Immobas die Bemühungen intensiviert, andere Wohnungen für die Verbliebenen zu finden. Margrit haben sie einen Platz im Altersheim vorgeschlagen. Doch genau das will sie nicht. Denn der Protest ihres Hauses sei ja auch einer gegen die Vereinsamung im Alter.
Verdrängungsprozesse verlaufen über weite Strecken geräuschlos. Über die Jahre hinweg verschwindet der günstige Wohnraum und macht Einfamilienhäusern und schicken Appartments Platz, machen Lounges auf, wo zuvor Kneipen dicht gemacht haben, werden die letzten Überreste der ehemaligen Industrie abgerissen, um Prestigebauten hochzuziehen. Konflikte wie jener um die Müli 26 zeigen, dass solidarische Strukturen in der Nachbarschaft viel Öffentlichkeit bewirken können. Wenn sich die einzelnen Verteidigungskämpfe im Quartier und in der Stadt besser verbinden, entsteht in Basel vielleicht bald wieder eine neue Dynamik im Bereich der Kämpfe gegen Gentrifizierung.
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Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)
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Quelle:
aufbau Nr. 87, Januar/Februar 2017, Seite 5
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken
veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2017
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