Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

AUFBAU/312: "Zeit gehört zur Pflege wie Baumwolle zum T-Shirt"


aufbau Nr. 68, März / April 2012
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

PFLEGEARBEIT

"Zeit gehört zur Pflege wie Baumwolle zum T-Shirt"



Die "Aktion Gsundi Gsundheitspolitik" (AGGP) liefert in einer Broschüre mit dem Titel "Spital statt Fabrik" eine Analyse über die Arbeit im Spital. Wir stellen hier ein paar ihrer spannenden Ansätze vor und ergänzen sie durch weiterführende Gedanken.

(fk) Die AGGP hat mit zwei Schwarzbüchlern, in denen Pflegende vom haarsträubenden Spitalalltag berichten, die Öffentlichkeit für die Entwicklungen sensibilisiert, die sich momentan im Gesundheitswesen abspielen. Zitat: "Gemäss meiner langjährigen Erfahrung an einem Akutspital haben die Erwartungen an die Pflegefachfrauen stetig zugenommen. Dies geht einher mit meiner zunehmenden Unzufriedenheit, weil eine Pflegequalität im Sinne von umfassender Pflege nicht mehr möglich, ja sogar wortwörtlich nicht mehr gefragt ist." Die Berichte aus den Schwarzbüchern sprechen eine deutliche Sprache: der Spitalalltag ist geprägt von immer schnellerem Tempo, von abnehmender Qualität, von fehlender Anerkennung und von steigendem Druck seitens der Führung. Kurz: die Profitlogik hat die Spitäler fest im Griff und diktiert immer penetranter eine Pflege nach rein "wirtschaftlichem Kriterien, wobei ethische Kriterien in den Hintergrund gedrängt werden.

Darauf zielt auch folgende These aus der Broschüre "Spital statt Fabrik": Die Verwaltungslogik der Spitalführung steht im Widerspruch zur Betreuungslogik und dies führt zu struktureller Gewalt, welcher die Pflegefachleute ausgesetzt sind.


Strukturelle Gewalt im Spital

Die strukturelle Gewalt ist ein grundlegendes Element im Kapitalismus und ist in allen Arbeitsverhältnissen, aber auch in persönlichen Verhältnissen, vorhanden (beispielsweise als Sexismus, Rassismus oder Konkurrenz am Arbeitsplatz). Es ist eine Gewalt, die nicht vorsätzlich von einem/einer TäterIn ausgeübt wird, sondern eine Gewalt die durch vorhandene gesellschaftliche Verhältnisse und Strukturen produziert wird. Auf den Punkt gebracht ist strukturelle Gewalt die Macht der Herrschenden über die ArbeiterInnen und über die Unterdrückten, die sich in ganz verschiedenen Formen ausdrücken kann.

So auch im Spital. Das Spezielle daran - oder der Unterschied zu einer ganz normalen kapitalistischen Fabrik - ist, dass im Spital nicht eine Ware im klassischen Sinne produziert wird sondern es wird Care-Arbeit geleistet. Und Care-Arbeit unterscheidet sich in verschiedenen Punkten von der normalen Güterproduktion. Die schweizer Ökonomin Mascha Madörin bezeichnet die Care-Arbeit als sogenannte "personenbezogene Dienstleistungen", das heisst es geht um eine Dienstleistung, die ohne Gegenwart der Empfängerin, des Empfängers gar nicht möglich ist. Oder anders gesagt: Der Produktions- und Konsumtionsprozess können nicht voneinander getrennt werden, weil eine persönliche Beziehung selbst Bestandteil der Leistung ist. Und um eine Beziehung aufbauen zu können, braucht es Zeit. Die AGGP stellt also fest: "Zeit gehört zur betreuerischen Beziehung wie Baumwolle zum T-Shirt." Die Arbeitszeit hat somit im Spital eine ganz andere Bedeutung für das Produkt als in der Industrie. Während bei der T-Shirt-Produktion die Arbeitszeit eine lästige Kosten-Komponente der Produktion ist (die mit technischer Entwicklung möglichst verringert werden kann), ist die Zeit wohl der wichtigste Rohstoff beim Aufbauen eines Betreuungsverhältnisses. Der Faktor Zeit in Form von Präsenz, Aufmerksamkeit, Verfügbarkeit, beeinflusst wesentlich die Qualität der Pflegearbeit. Und genau deshalb lässt sich die Care-Arbeit nur beschränkt rationalisieren, denn kürzt man diesen Rohstoff Zeit, so leidet sehr schnell die Qualität des Produkts (um beim Vergleich mit der Baumwolle zu bleiben: spart man zu viel Baumwolle, dann verliert das T-Shirt irgendwann seine Funktion/Qualität).

Mit dem Begriff der strukturellen Gewalt bringt die AGGP die Wirkung der widersprüchlichen Interessen zwischen Spittalleitung und Pflegepersonal auf den Punkt: die Spitalleitung will die Pflege nach Wirtschaftlichkeit, Produktivität und Rentabilität ausrichten, wo der Faktor Zeit durchaus NUR ein kostentreibendes Störelement ist und zu Gunsten des Profits möglichst klein gehalten werden soll. Ganz anders die Pflegefachleute: sie wollen gute, zweckdienliche Betreuung leisten, bei der die Betreuungszeit nicht nur störendes Nebenprodukt ist sondern Teil der Leistung. Kurz: Es ist der Kampf des Pflegepersonals um die Zeit zu Pflegen.

Dieser Widerspruch verschärft sich nun zusätzlich mit der Einführung der Fallkostenpauschalen, denn einerseits soll die Aufenthaltsdauer der PatientInnen gesenkt werden, und andererseits steigt der administrative Aufwand den die Pflegefachleute erfüllen müssen. Beides führt dazu, dass die Pflegenden noch weniger Zeit für die Betreuung haben.


Arbeit muss tauglich und schön sein...

Für das Personal ist eine Arbeit dann qualitativ gut, wenn sie zwei Bedingungen erfüllt: Sie muss tauglich sein, d.h. sie muss zur Lösung des gemeinsam (mit Team und PatientInnen) identifizierten Problems beitragen. "Und andererseits muss die Arbeit schön sein, d.h. sie muss nach den Regeln der Kunst entsprechend durchgeführt werden", schreibt die AGGP.

Wenn diese Kriterien erfüllt sind, dann dient die Arbeit nicht nur dem Produkt sondern sie führt auch zu Selbsterfüllung und Zufriedenheit bei der arbeitenden Person. Solche Arbeit sollte dann auch von der Spitalleitung gewürdigt werden, folgert die AGGP. Dem ist allerdings nicht so. Die fehlende Anerkennung ist eines der Themen, welches von den AutorInnen des Schwarzbuches immer wieder erwähnt wird. Schuld daran sei die Verwaltungslogik der Spitalleitung, die ein total anderes Verständnis von guter Arbeit habe, nämlich eines, das sich an Wirtschaftlichkeit und Rentabilität orientiere. Diese Logik ist aber nicht irgendeine Böswilligkeit der Spitaldirektion, sondern es ist die einfache kapitalistische Logik, die eben auch vor dem Spital nicht Halt macht. Und in dieser Logik zählt bekanntlicherweise der Profit. Ob dabei die Arbeit subjektiv als zufriedenstellend erachtet wird, ist dem Kapital egal.

Ein weiterer Punkt bezüglich fehlender Anerkennung ist unserer Meinung nach die Minderbewertung der Pflegearbeit durch die patriarchalen Massstäbe. Die Unterdrückung der Frau hat zur Folge, dass Männerarbeit generell mehr Wert hat, sowohl materiell wie auch ideell. Mit Handkuss übernimmt der Kapitalismus diese Tradition der Frauendiskriminierung und kann so den Lohn in diesen Arbeitsbereichen senken oder überhaupt nicht bezahlen (frau denke an all die unbezahlte Hausarbeit). Die oft angesprochene fehlende Anerkennung in der Pflege ist eine direkte Folge dieser gesellschaftlichen Realität.


Im Kommunismus ist Arbeit schön

Aus kommunistischer Sicht ist es interessant, dass es ein wichtiges Bedürfnis der Pflegefachleute ist, taugliche, schöne und somit zufrieden stellende Arbeit zu leisten. Die Forderung nach erfüllender Arbeit ist eine, die im Kapitalismus nicht erfüllt werden kann. Wenn Arbeit zufriedenstellend und nicht mehr entfremdet ist, dann findet sie nicht mehr unter der Logik des Profits statt. Wenn die Forderung nach einer zufriedenstellenden Arbeit gestellt wird, muss also über den Kapitalismus hinaus gedacht werden. Wer diese Forderung umsetzen will, muss den Kapitalismus generell bekämpfen und grundsätzlich neue Arbeitsverhältnisse und Beziehungen herstellen. Dass eine solche Forderung gerade aus dem Pflegebereich kommt ist erfreulich, denn: Die Tatsache, dass in der Pflege kranke Menschen im Zentrum stehen, hat die Kampfbereitschaft der Pflegenden oft gebremst. Durch die starke soziale und emotionale Verantwortung hat das Pflegepersonal in der Vergangenheit den PatientInnen zuliebe Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen hingenommen. Doch genau diese Nähe zu den PatientInnen könnte in Zukunft zum Auslöser für Arbeitskämpfe werden. Die Pflegenden artikulieren immer mehr, dass sie durch die Verschärfungen der Arbeitsbedingungen immer weniger die Möglichkeit haben, die PatientInnen gut und nach den Regeln der Kunst zu pflegen. Mit der Forderung nach tauglicher Arbeit geht der Kampf ein Schritt in diese Richtung.

In diesem Sinne unterstützen wir die Forderungen und Ziele der AGGP gegen Profitwirtschaft und strukturelle Gewalt, für die qualitative Pflege und für die Vision einer anderen "schönen" Arbeit.


Die AGGP

Die "Aktion Gsundi Gsundheitspolitik" entstand Ende der 80er Jahre aus der damaligen Spitalbewegung. Sie besteht zum grossen Teil aus Pflegefachleuten und ist somit eine der wenigen politischen Basisgruppen die sich berufspolitisch engagiert. Sie sehen Gesundheit als ein Menschenrecht und wehren sich gegen jegliche Zwei-Klassen-Pflege und -Medizin. Ein wichtiger Kampf, an dem die AGGP massgeblich beteiligt war, sind die Gleichstellungsklagen, die 1996 gegen den Kanton Zürich eingereicht wurden. Dies war ein wichtiger Schritt gegen die Geschlechterdiskriminierung, die gerade in den sogenannt "weiblichen" Pflegeberufen bis heute noch in fehlender Anerkennung und tiefem Lohn spürbar ist. Aktuell beschäftigt sich die AGGP mit der Ökonomisierung im Gesundheitswesen und den Auswirkungen auf Personal und Qualität der Arbeit.

*

Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Rote Hilfe International (rhi), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

*

Quelle:
aufbau Nr. 68, März / April 2012, Seite 6
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
aufbau erscheint fünfmal pro Jahr.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
aufbau-Jahresabo: 30 Franken, Förderabo ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. März 2012