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AUFBAU/335: Den Sozialismus bauen!


aufbau Nr. 70, sept/okt 2012
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Den Sozialismus bauen!

ARCHITEKTUR - Die Sowjetunion der 1920er und Anfang 30er Jahre war eine Blüte der avantgardistischen Kunst. Insbesondere in der Architektur wurde versucht, einen neuen baulichen Ausdruck für die entstehende sozialistische Gesellschaft zu finden. Die Ausstellung "Baumeister der Revolution" beleuchtete diese Epoche von 1915-1935 auf eindrückliche Weise.



(agkkzh) In fünf grossen, funktional-hellen und nüchternen Räumen gibt die Ausstellung "Baumeister der Revolution", welche zur Zeit durch verschiedene Städte Europas wandert, einen Einblick in die sowjetische Architektur der Jahre 1915 - 1935. Die Ausstellung verspricht einen Einblick in eine Zeit des künstlerischen Schaffens, in der man sich radikal von allem Bestehenden abwandte und nach einem neuen, eigenen Ausdruck strebte: Einer neuen Kunst für eine neue Gesellschaft. Anhand von archivarischen Zeugnissen wie alten Plänen, Zeichnungen und Modellen, aber auch anhand von zeitgenössischen Fotografien, die den aktuellen Zustand der Bauwerke zeigen, führt die Ausstellung durch völlig verschiedene Arten von Bauten. Seien dies Fabriken, Gemeinschaftsküchen, technische Einrichtungen, Erholungszentren oder kollektive Wohnanlagen. Dabei wird das Verhältnis von Kunst und Architektur, nämlich die gegenseitige Beeinflussung und Bestärkung, aufgezeigt. Ein weiterer Fokus legen die InitiantInnen auf die aktuellen Zustände der noch vorhandenen Bauwerke. So dokumentieren die Bilder des Fotografen Richard Pare die meist schon schwer beschädigten Werke. Inmitten von historischen Zeugnissen architektonischen Schaffens kommen seine Fotografien einem Appell gleich, die Bauten vor dem Zahn der Zeit oder der Verschacherung an Immobilienfirmen zu schützen. Von den Machern der Ausstellung, an der Eröffnungsfeier in Berlin im April 2012, wurde betont, dass Ziel und Zweck der Ausstellung sei, Bewusstsein für den Erhalt revolutionärer Kunst und Architektur zu schaffen.

Ein weiteres Ziel der Ausstellung sei es, so hiess es weiter, die revolutionären Ideen und Visionen der Kunstepoche und der Gesamtgesellschaft zu vermitteln. Dieses Ziel hat die Ausstellung leider verfehlt. Zwar gibt sie einen hübschen Einblick in die sowjetische Architektur von 1915 - 1935, doch dem architektonischen Laien fehlt es an Erklärungen für grundsätzliche Fragen. So fehlen beispielsweise Informationen über die historische Einbettung dieser kurzen Schaffensperiode. Deshalb fällt es dem Laien schwer zu eruieren, was denn genau an der revolutionären Kunst und Architektur "revolutionär" war. Welche Bauelemente und Materialien galten als neu? Was war vorher, was kam nachher? Ebenfalls nicht weiter geklärt oder nur am Rande erwähnt wird in der Ausstellung der Gegenstand, inwiefern sich sozialistische Ideen konkret auf die Planung von Gebäuden niederschlug: Der Laie verlässt die Ausstellung zwar mit einigen ästhetischen Erlebnissen, aber ohne genau sagen zu können, was denn die sowjetische Architektur ausmachte.


Kulturelle Blüte nach der Revolution 1917

Die Jahre nach der sozialistischen Revolution in Russland waren geprägt von einer blühenden kulturellen und architektonischen Produktion. Es entwickelte sich eine Strömung von progressiven ArchitektInnen um 1921, welche den Begriff des Konstruktivismus und Funktionalismus prägten. Erklärtes Ziel war es, den materiellen Werten kommunistischen Ausdruck zu verleihen. Kunst und auch Architektur sollte nicht länger nur Selbstverwirklichung und Selbstzweck der Handelnden sein, sondern der geschaffene Gegenstand solle als aktive Kraft ins Leben eingehen, die das Bewusstsein des Menschen organisiere und so auf ihn einwirke, dass sie ihn zu energievoller Arbeit mitreisse.

Entscheidend für diese neue, junge Architekturform der Sowjetunion der 1920er Jahre war der praktisch-konkrete Versuch, Form und Inhalt, respektive Materialität und Funktion, im architektonischen Sinne, zusammenzubringen. Methodisch hiess das: Die Gestalt des Raumes wie auch ihre materielle Konstruktion selbst wurden auf den Zweck und die Funktion des Raumes anzupassen versucht. Symbolhaftigkeit und Repräsentanz traten in den Hintergrund. So wurden etwa die Gebäude in verschiedene Funktionskomplexe zerlegt und anschliessend wieder in nutzungs- und sozialtechnischer Hinsicht bestmöglich durch Gänge oder Aulen zusammengeführt. Zwei der bekanntesten Konstruktivisten der Sowjetunion waren Konstantin Melnikow, der u. a. 1929 das Russakowa Arbeiterinnen-Klubhaus in Moskau konstruierte, sowie Wladimir Tatlin, welcher mit seinem Projekt eines spiralförmigen Turmgebäudes ein Denkmal für die III. Internationale setzen wollte. Die aufstrebende Spirale war Sinnbild für die Revolution. [Anmerkung der Schattenblick-Redaktion: Arbeiterinnen-Klubhaus und Denkmal sind in der Printausgabe des Aufbau abgebildet.]

Obwohl die konstruktivistische, funktionalistische Architektur hauptsächlich der Zweckdienlichkeit verschrieben war, beinhaltete sie Bruchpositionen zum Vorhergehenden sowie Innovation. Denn neu und revolutionär war die damalige Architektur nicht nur in der Umsetzung sozialistischer Ideen, sondern auch in der Wahl und Kombinationen von geometrischen Formen und Baumaterialien. Abstrakte Formen und futuristische Bauweise waren zentral und wurden gut und gerne auch mit Altem kombiniert. Für das heutige Auge mögen die Bauten und Entwürfe, welche zwischen 1915 bis 1935 entstanden sind, zwar nicht allzu neu erscheinen, doch sie legten den Grundstein moderner Architektur.


Neue gesellschaftliche Anforderungen

Der revolutionäre Umsturz in der Sowjetunion und der beginnende Aufbau des Sozialismus erforderte also eine neue Architektursprache, welche die Konstruktion des Alltagslebens im Sozialismus auszudrücken wusste. Ein wichtiger Bestandteil davon war selbstverständlich der Bau von Wohnraum in den Städten. Moskaus Bevölkerung wuchs. nämlich von 1923 bis 1926 von 1.54 Millionen EinwohnerInnen auf rund 2.02, Millionen. Dieser enorme Zuwachs bedurfte einer neuen Wohnbauweise, die auch dem kollektiven Moment des Wohnens Rechnung trug. So wurde in Moskau ein Prototyp eines Gemeinschaftshauses entwickelt, in welchem durch lange, breite Flure Zimmer miteinander verbunden wurden, und sie hatten gemeinschaftliche Küchen und Sanitäranlagen.

Ebenso wurden zahlreiche Wohnkomplexe gebaut, welche im Innern eine begrünte Fläche hatten. Diese dienten als Begegnungsstätten. Denn die Grundüberlegung war zumeist: Minimale Individual- und maximale Kollektivfläche. Die Umsetzung all jener Vorhaben, die durch die avantgardistischen ArchitektInnen geprägt waren, stagnierte jedoch Anfang der 1930er Jahre allmählich. Grund dafür war eine Änderung der politischen Linie in der Sowjetunion.


Der Übergang in den sozialistischen Realismus

Im Juli 1932 wurden die zahlreichen Architektur-Verbände der konstruktivistischen Avantgarde in einem Unions-Verband sowjetischer ArchitektInnen aufgelöst. Die Experimentierfreude der KonstruktivistInnen galt fortan als verpönt und die neue Linie im Verband hiess: Sozialistischer Realismus. Dieser zeichnete sich insbesondere durch die Monumentalität bei gleichzeitiger Schlichtheit in den architektonischen Konstruktionen aus. Die Versuche des Konstruktivismus, neue Formen und Linien in die Architektur zu bringen wurden teilweise als Selbstdarstellung und -verwirklichung der ArchitektInnen abgetan und nicht mehr als proletarische Kultur gesehen. Nebst damaligen finanziellen Engpässen ist dies mitunter ein Grund, weshalb nur ein kleiner Prozentsatz an konstruktivistischen Bauvorhaben umgesetzt wurden.


Perspektiven der Architektur

In der Auseinandersetzung mit der Ausstellung "Baumeister der Revolution" und anhand den darauffolgenden Recherchen über sowjetische Baukunst wurde deutlich, dass Architektur nicht nur beinhaltet, nach welchen Massen ein Wohnhaus, eine Fabrik oder eine Schule gebaut werden soll. Architektonische Planung hat eine grössere, schwerwiegendere Bedeutung: Da die Architektur die Planung von strukturellen Bedingungen beinhaltet, beeinflusst, sie unser Leben, vor allem dessen sozialen und politischen Aspekt, massgeblich. Je nachdem, wie Wohnanlagen, Schulen, Erholungszentren und Arbeitsstätten konstruiert sind, steigen oder sinken die Möglichkeiten für diverse Tätigkeiten. So wird beispielsweise kollektive Betätigung nur gefördert, wenn für das Kollektiv Raum und Platz konzipiert wurde, wie etwa eine grosse gemeinsame Küche. Diese Überlegung ist bestimmend für die funktionalistische sowjetische Architektur und lässt sich auch auf grössere Dimensionen, wie etwa die Städteplanung übertragen: Wie Raum geplant wird, entscheidet darüber, wie Raum genutzt werden kann.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 69, sept/okt 2012, Seite 16
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
Redaktion und Vertrieb Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2012