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AUFBAU/352: Denken in Widersprüchen - Clausewitz und der Volkskrieg


aufbau Nr. 72, märz / april 2013
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Denken in Widersprüchen

BUCHHINWEIS
T. Derbent: Clausewitz und der Volkskrieg
Zambon-Verlag, O.J., Frankfurt,
herausgegeben vom Revolutionären Aufbau Schweiz(1)



Carl von Clausewitz, preussischer General und Kriegstheoretiker aus der Zeit der napoleonischen Kriege, ist bei bürgerlichen Wirtschaftsstrategen in Mode gekommen. Das Buch zeigt, wie sehr er die Grundlage für die revolutionäre Strategie von Engels über Lenin bis Mao bildet.


(gpw) Die revolutionäre Bewegung befindet sich in einem Stadium der Defensive. Es gibt in Westeuropa keine kommunistische oder andere revolutionäre Kraft, welche auf eine breite gesellschaftliche Basis orientierend wirken kann. Andererseits steckt die kapitalistische Produktionsweise seit Jahrzehnten in einer generellen Krise, aus der es keinen anderen Ausweg gibt als die sozialistische Revolution.

Unser Motiv, T. Derbents Clausewitz und der Volkskrieg in deutscher Sprache herauszugeben, sehen wir einerseits in dieser Situation selbst und andererseits in den Aufgaben, welche KommunistInnen darin haben: Am Aufbau der subjektiven Kräfte der Revolution zu arbeiten. Dabei geht es auch darum, wissenschaftlich an den revolutionären Prozess heranzugehen. Bei der Kritik der politischen Ökonomie versteht sich das von selbst, und der dialektische Materialismus bildet ohnehin das Fundament marxistischer Erkenntnis. Im militärischem Bereich, den wir als Teil des wissenschaftlichen Sozialismus betrachten, scheint das weniger klar zu sein. Was bringt es, in Zeiten, in denen das Thema einer Machteroberung in weiter Ferne scheint, militärische Fragen zu behandeln? Eine marxistische Herangehensweise lehrt uns auch hier, in Widersprüchen zu denken.


Theoretiker des Guerillakrieges

Die Widersprüche beginnen schon bei der Person von Clausewitz: Er war ein Anhänger der feudalistischen Reaktion während der napoleonischen Kriege, die er wissenschaftlich studierte, um die preussische Monarchie zu schützen. Nach der Niederlage begab er sich in den Dienst des Zaren, um den Kampf gegen die französischen Heere bis zu ihrer Niederlage fortzusetzen. Auf der anderen Seite studierte er die ersten Guerillakriege der Neuzeit: In Spanien, im Tirol und in der Vendée führten informelle KämpferInnen aus dem Volk den Widerstand gegen Napoleon weiter. Clausewitz hielt 1812 Vorlesungen über den "Kleinen Krieg", bestimmte das Konzept des preussischen "Landsturms", einer Volksbewaffnung nach der Niederlage der regulären Streitkräfte. Clausewitz sieht darin "das Recht des Besiegten zur eigenen Auferstehung" und unterstreicht den Unterschied zwischen Guerilla und revolutionärem Krieg (S. 84). Kein Wunder, dass die Theoretiker und Praktiker des revolutionären Krieges diese Aspekte von Clausewitz' Werk aufgegriffen haben. Und es gibt viele militärische Erfahrungen revolutionärer Bewegungen auch in den Metropolen, die in den wenigsten Fällen politisch aufgearbeitet, geschweige denn theoretisch verallgemeinert worden sind, was aber für den gegenwärtigen und zukünftigen revolutionären Prozess unumgänglich wäre. "Clausewitz und der Volkskrieg" kann diese Aufarbeitung zwar nicht ersetzen, aber wichtige Grundlagen dafür liefern.


Der Krieg als Ganzes

Allerdings ist der Guerillakrieg nur ein Teil des revolutionären Volkskrieges, wie ihn vor allem Mao theoretisierte und bis zur Machteroberung erfolgreich umsetzte. Wir wissen heute konkret, dass auch er Clausewitz eingehend studierte (2). T. Derbent geht sehr wissenschaftlich vor. Nach je einem kurzen biographischen und allgemein historischen Kapitel stellt er wichtige Prinzipien dar, die in "Vom Kriege" entwickelt werden, aber auch Clausewitz' philosophischen Hintergrund. Dabei bleibt die Frage offen, wie weit er Hegel studiert hat. Jedenfalls entwickelte der eine "sonderbare Art zu philosophieren"(3), deren dialektischer Gehalt vor allem von Lenin herausgearbeitet wurde. Anschliessend beleuchtet Derbent Clausewitz' Beziehung zu früheren Militärtheoretikern wie Deibrück, Machiavelli oder den Schweizer Jomini und geht dann in je einem Kapitel auf das Verhältnis ein, das Engels, Lenin, die KPD, die sowjetische Militärschule, Stalin und Giap zu Clausewitz hatten. Selbstverständlich wird auch der Bezug zu Mao immer wieder hergestellt.


Der Zweite Weltkrieg

Die "Versammlung der Kräfte" im Hinblick auf eine "Hauptschlacht" und vor allem "der absolute Krieg" sind Konzepte von Clausewitz, die ihm den Vorwurf eingetragen haben, Vorläufer des "totalen Krieges" zu sein, den Luddendorff im 1. Weltkrieg entwickelte und der von den Nazis grausam angewendet und in die Niederlage geführt wurde. Hitler hat Clausewitz verherrlicht, aber seine Prinzipien mit Füssen getreten, während Stalin (4), im Gegensatz zu Lenin, ihn als veraltet betrachtete, seine Prinzipien aber im Zweiten Weltkrieg korrekt angewendet hat. Solcherlei zeigt Derbent spannend und allgemein verständlich auf und erläutert, dass Clausewitz' "absoluter Krieg" als dialektische Abstraktion zu verstehen ist, um den Gegenstand in seiner Reinheit darzustellen und konkrete Kriege in ihren Widersprüchen zu dieser Abstraktion fassen zu können. Das ist das Gegenteil des "totalen Krieges", der auch das wichtigste Clausewitz'sche Konzept von den Füssen auf den Kopf stellte: Dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln und sein Zweck immer ein politischer ist und die Kriegsziele zu bestimmen hat. Im "totalen Krieg" ordnet sich. das Politische dem Militärischen unter statt umgekehrt.


Lenins Notizheft und Militärstrukturen der KPD

1914, nach Ausbruch des Ersten imperialistischen Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale begab sich Lenin von September bis November, wenn immer möglich, in die Berner Landesbibliothek, um Hegels Wissenschaft der Logik zu studieren und zu exzerpieren. In ähnlicher Weise wie zur Logik hat er uns ein Exzerptheft zu seinem Studium von Clausewitz' "Vom Kriege" hinterlassen. Er las das Werk zwischen Herbst 1914 und Frühling 1915 ebenfalls in Bern, und das Buch befand sich in seinem Gepäck, als er im Sommer 1917 vorübergehend untertauchen musste. Als Anhang ist sein Notizheft dazu abgedruckt, wie er 1957 vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED in deutscher Sprache herausgegeben worden ist. Leider fehlt der Text in den 40-bändigen Lenin-Werken.

Ferner findet sich im Anhang ein von uns erarbeitetes Schema Organisationsstruktur und Militär-Apparat der KPD 1920-1933. Es dient als, Illustration zum Kapitel 22: Clausewitz und die militärischen Strukturen der KPD (1920-1945). Wir verweisen in diesem Zusammenhang auch auf das im gleichen Verlag erschienene andere Buch von T. Derbent mit dem Titel Der deutsche kommunistische Widerstand 1933-1945. Auch dazu liefert das Schema Anschauungsmaterial.

Viele Gedanken von Clausewitz lassen sich auch auf eine militante Alltagpraxis von heute übertragen, wobei der militärische Begriff der Defensive, der Clausewitz in der Regel die Überlegenheit vor der Offensive zuspricht, nicht mit dem oben verwendeten politischen Begriff verwechselt werden darf.

Die aktive Defensive hat nichts mit beschaulichem Abwarten zu tun. Die Defensive ist eine unumgängliche Kampfphase zur Formierung von Kadern und Sammlung der Kräfte in Erwartung kommender Veränderung der objektiven Verhältnisse. Auf allen Feldern der subjektiven Seite, das heisst der Strategie, der Methoden, der Organisierung und der Mittel sollte der Aufbauprozess vorangetrieben werden. Die Phase der Defensive verstehen wir als Ausgangspunkt, als eine Periode des Aufbaus, der Verteidigung und der Sammlung der Kräfte. Unter Vermeidung unvorteilhafter Konfrontationen besteht die momentane Aufgabe darin, den Feind in permanenter Anspannung zu halten und so Schritt für Schritt die revolutionären Kräfte zu stärken.

T. Derbent hat sich eine hoch wissenschaftliche Herangehensweise zu eigen gemacht, die sich auf die Verarbeitung einer Unzahl von Quellen stützt. Selbstverständlich setzt er die Arbeit an diesem Thema fort: Auf der Webseite www.agota.be/t.derbent/ kann man sich darüber auf dem Laufenden halten.


Anmerkungen:

(1) Wir danken Marco Camenisch, Langzeitgefangener Italiens und der Schweiz, für die sorgfältige Rohübersetzung und Nicole Weiss für professionelle Unterstützung bei den Recherchen und der sprachlichen Glättung des Textes. Das Buch kann über den Aufbau-Vertrieb, Kanonengasse 35, 8004 Zürich (im Hinterhaus) bezogen werden, info@aufbau.org.

(2) Zhang Yuan-Lin: Maozedong und Carl von Clausewitz, Diss. Mannheim 1995.

(3) Engels an Marx, MEW 29, 252.

(4) In der Einleitung des Buches, die im Umschlagstext zitiert ist, wird Stalin als "revolutionärer Stratege" mit Marx, Engels, Lenin und anderen in eine Reihe gestellt. Im Rahmen einer militärwissenschaftlichen Studie kann die Bedeutung Stalins, der ja eine - wie fehlerhafte auch immer - Revolution zu verteidigen hatte, so gewürdigt werden. Das bedeutet aber nicht, dass wir ihn im Allgemeinen auf dieser Ebene einordnen. In der Einleitung heisst es dann weiter: "Erst durch die militärischen Schriften von Mao Tse Tung wurde eine revolutionäre militärische Politik theoretische vollständig und zusammenhängend niedergeschrieben" (S. 10).

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 72, märz / april 2013, Seite 13
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2013