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AUFBAU/421: Die Charlie-Euphorie ist verdampft. Was bleibt?


aufbau Nr. 81, mai / juni 2015
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Die Charlie-Euphorie ist verdampft. Was bleibt?


FRANKREICH Die Anschläge in Paris liegen bereits wieder einige Monate zurück. Für die französische Regierung waren sie wie ein Stoss frische Luft. Sie ging zunächst gestärkt aus der Situation hervor, langfristig aber verschärft sich die Krise der politischen Elite Frankreichs.


(agbs) Ende des Jahres 2014 hatte Hollande gerade noch 13 Prozent Zustimmung. Nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt Anfang Januar in Paris kletterte dieser Wert auf gut 40 Prozent hoch. Der ansonsten so ungeschickte Hollande inszenierte sich gekonnt als väterliche Integrationsfigur in schrecklichen Zeiten. Zugegebenermassen: es ist auch nicht sonderlich schwierig, politisch Kapital aus solchen Ereignissen zu schlagen. Der gleiche Effekt eines Popularitäts-Booms war auch nach dem 11. September in den USA zu beobachten.

Die französische Regierung ruft einige Tage später ihre Bevölkerung zum Demonstrieren auf. "Marche Républicaine" nennt sich das dann, 2 Millionen folgen dem Aufruf allein in Paris. Schulter an Schulter mit den höchsten Staatsrepräsentanten aus aller Welt, medial als Spitze der Demonstration inszeniert, erklärt Hollande Paris zur Welthauptstadt. Das Blutbad des Norwegers Anders Breivik 2011 war da weit weniger geeignet für die politische Elite, um sich selbst und die herrschende Ordnung in Europa zu zelebrieren. Schliesslich konnte es damals auch nicht als ein Angriff des "Anderen" dargestellt werden.


Der Pflicht-Slogan

Die Parole "Je suis Charlie" entwickelte sich schnell zum identitären Code: Identifizierst du dich mit der "westlichen Gemeinschaft" oder nicht? Wer nicht "Charlie" ist, zeigt unweigerlich seine Sympathien mit den Djihadisten. Nach dieser Logik wurde zum Beispiel der achtjährige Ahmed von seinem Schulrektor aufs Kommissariat geführt und wegen "Verherrlichung des Terrorismus" angezeigt, da er den Pflicht-Slogan nicht von sich geben wollte. Die Polizei leitete eine Untersuchung gegen den Jungen und dessen Vater ein.

Während auf den Strassen der französischen Städte die Republik gefeiert, gemeinsam die Marseillaise gesungen wurde, zeigte sich in der Einflusssphäre des französischen Imperialismus ein anderes Bild. Insbesondere in afrikanischen Ländern der Sahelzone wächst eine anti-französische Stimmung heran, die in Zukunft die Interessen der alten Kolonialmacht in Bedrängnis bringen könnte.


Die politische Krise ist zurück

Doch auch die Stimmung nationaler Einheit in Frankreich ist schnell verflogen und die allgemeine Missbilligung gegenüber der Regierung zurück. Die Departementswahlen Ende März haben der PS die vorausgesagte Niederlage beschert. Sie erreicht gerade noch in 34 (vormals 60) von 101 Departementen eine Mehrheit, die rechtskonservative UMP dagegen regiert fortan in 66 Departementen. Der rechtsextreme FN kann die Wahlen zwar nicht als Sieg verbuchen, er konnte sich aber ohne Zweifel weiter auf regionaler Ebene verankern. Die Gesellschaft in Frankreich scheint Jahr für Jahr weiter nach Rechts zu rücken. Die Perspektivlosigkeit ist grenzenlos: Nicolas Sarkozy wird bereits wieder als aussichtsreichster Kandidat für die nächste Präsidentschaft gehandelt.


Weiter im Takt der Austerität

Derweil versucht Hollande im europäischen Austeritäts-Wettlauf nicht abgehängt zu werden: Die Arbeitskraft muss billiger werden. Die Gesetzesvorlage ist bereits per Dekret durchs Parlament geboxt, nun steht die schrittweise Umsetzung der "Loi Macron" (nach Emmanuel Macron, dem Finanzminister und ehemaligen Investmentbanker) bevor. Massentlassungen werden erleichtert, Arbeitszeiten ausgedehnt, kollektive Verträge durch "Einverständniserklärungen" zwischen ChefIn und ArbeiterIn untergraben und juristische Mittel von Lohnabhängigen werden eingeschränkt. Die Loi Macron besteht aus vielen kleinen Angriffen in unterschiedlichen Bereichen, wodurch sich der Widerstand verzetteln soll. Denn nach wie vor fürchtet sich die französische Elite vor dem Druck der Strasse. Ein Rundumschlag wie die Agenda 2010 der deutschen sozialdemokratie wäre vorerst nicht durchsetzbar. Am 9. April gingen laut CGT insgesamt 300.000 Menschen "gegen die Austerität" auf die Strasse. Dies war die bisher grösste (linke) Mobilisierung gegen die Regierung Hollande. Letztere wird davon aber unbeeindruckt bleiben, nicht zuletzt weil sie weiss, dass das Gefühl einer Alternativlosigkeit zum Sozialabbau in der Gesellschaft weit verbreitet ist.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 81, mai / juni 2015, Seite 9
HerausgeberInnen:
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Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. August 2015

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