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AUFBAU/493: "Für kämpfende Frauen verändert sich das Leben sehr direkt"


aufbau Nr. 88, März/April 2017
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"Für kämpfende Frauen verändert sich das Leben sehr direkt"


FRAUENBIOGRAPHIE 2016 hatten wir die Gelegenheit, ein Gespräch mit Silvia Baraldini, Revolutionärin und Frauenkämpferin, zu führen. Zusammen mit Paola Staccioni, Autorin des Buches "Sebben' che siamo donne" (Obwohl wir Frauen sind), befand sie sich auf einer Rundreise durch Europa. Wir wollten von ihr wissen, welche Ziele ihre Organisationen hatten, welches die wichtigsten Etappen waren und wie sie es geschafft hat, 20 Jahre Knast zu überstehen.


(fk) Als Kind italienischer Einwanderer in den USA startete Silvia Baraldini ihr politisches Leben 1965. Der Krieg in Vietnam war ein grosses und wichtiges Thema. Silvia studierte an der Universität in Wisconsin-Madison und begann, sich an der studentischen Antikriegsbewegung zu beteiligen. Das "Komitee zur Beendigung des Krieges" wurde zur dominierenden Organisation und hatte enge Beziehungen mit der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten. Ein Teil der Bewegung kritisierte jedoch deren Positionen. Es sollte nicht allein darum gehen, gegen den Krieg zu sein, sondern auch eine pro-vietnamesische Position zu beziehen und den militärisch-industriellen Komplex in den USA zu kritisieren. So kam es zur Spaltung und zur Gründung der "Students for a Democratic Society", kurz SDS, die zur führenden Anti-Kriegs-Organisation auf dem Universitätscampus wurde.

Entwicklung innerer Widersprüche

Während des Vietnamkriegs und der damit verbundenen Widerstandsbewegung an der Universität kam es 1969 ebenfalls zur Erhebung der schwarzen StudentInnen. Von 32.000 Studierenden waren damals lediglich rund 400 schwarz. Diese Bewegung führte innerhalb des SDS zu grossen Auseinandersetzungen und viele Fragen standen im Raum: Warum war die Führung der Bewegung weiss? Warum wurden andere Bewegungen und der afrikanisch-amerikanische Kampf in der Geschichte der USA nicht erkannt? Warum wurde das Selbstbestimmungsrecht der Völker anerkannt, aber nicht der Völker in den USA - also Afro-AmerikanerInnen, Puerto-RicanerInnen, MexikanerInnen und indigene AmerikanerInnen?

Ein weiterer Widerspruch zeigte sich innerhalb des SDS betreffend der Frauenfrage. Es gab den Widerspruch, dass Frauen zwar die ganze Arbeit machten, politisch aber kaum Einfluss hatten. So konzentrierten sich die Frauen anfangs darauf, die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Frau und Mann in der Organisation zu untersuchen und das Innere der Organisation der Kritik zu unterwerfen. Es ging darum, Frauen Anerkennung zu verschaffen und die Situation dahingehend zu verändern, dass Frauenpositionen nicht länger ignoriert werden konnten. So wurde ein Frauenausschuss im SDS gebildet, politische Positionen vorgelegt und interne Abläufe der Organisation kritisiert. Der zweite Schritt war die Festlegung der neuen Frauenpositionen der Organisation, die Frauenfrage sollte fortan ein wichtiger Punkt im politischen Programm sein. Wenn über den Krieg zu Hause geredet werden sollte, so musste auch die Frauenfrage thematisiert werden.

Solidarisierung mit der schwarzen Bewegung

Der Sieg des Vietcong, die weltweite 68er-Bewegung, die Besetzungen der Unis, die Gründung der Black Panther Party, u.a. haben die Positionen verändert und die revolutionäre Bewegung in den USA vorwärts gestossen. Dies rief das "Counter-Insurgency Program" (Aufstandsbekämpfungsprogramm) auf den Plan, worauf es einen Aufruf zur Einheit gegen die Repression gab. Als die Black Panther Party von Chicago Fred Anthony an die Uni Wisconsin delegierte, um für die Panthers zu agitieren und den SDS um Unterstützung anzugeben, wurde Silvia Baraldini zur Verbündeten der Schwarzen Bewegung.

Bald schon kam es innerhalb des SDS zu einer Spaltung aufgrund politischer Differenzen. Durch den Vietnamkrieg politisiert, entstand die Forderung, den Krieg nach Hause zu tragen. Silvia Baraldini konnte sich aber weder mit der Position der "Revolutionären Bewegung 1" (woraus die Weathermen entstanden), welche für den Aufbau einer klandestinen Struktur waren, noch mit der Position der "Revolutionären Bewegung 2", welche sich auf die Fabriken und die ArbeiterInnen konzentrieren wollten, um den Krieg zu Hause zu führen, identifizieren. So entschied sie sich, den Kampf für die Verteidigung der verhafteten Panthers aufzunehmen und zog nach New York, um in einem Komitee zur Unterstützung der politischen Gefangenen zu arbeiten.

Politische Arbeit in New York

In den 1970er Jahren wurde in New York eine Institution mit dem Namen "Frauenschule" gegründet. Jeden Abend kamen etwa 300 Frauen, um zu studieren und arbeiten: Ideologie, Geschichte, praktische Dinge wie Autos reparieren, Selbstverteidigung. Auch da gab es verschiedene Ansichten: die einen wollten sich nur noch mit Frauenfragen befassen, die anderen sahen den Frauenkampf nur in Zusammenhang mit anderen antiimperialistischen Befreiungskämpfen. Der Widerspruch wurde antagonistisch, als die Weathermen ihren Text "Präriefeuer" veröffentlichten. Silvia und andere Genossinnen hatten den Anspruch, den Text zu diskutieren, was nicht von allen geteilt wurde. Aus der Debatte entstand die kommunistische Organisation "19. Mai" - der 19. Mai war der Geburtstag von Malcolm X und Ho Chi Minh -, in der Silvia aktiv war und die bis etwa 1985 existierte. Im klandestinen Teil der Organisation waren 90 Prozent der Mitglieder Frauen, in der legalen Organisation waren ebenfalls nur 20 bis 25 Prozent Männer. Für Silvia war dies Ausdruck davon, dass Frauen, einmal im Kampf involviert, sehr direkt Veränderungen in ihrem Leben erfahren.

Ein Fehler der Organisation war, die klandestine Arbeit nicht von der offenen Organisation zu trennen. Als die Repression zunahm, war das Ergebnis verheerend. Die Regierung verklagte den "19. Mai" als klandestine Organisation und als kriminelle Vereinigung. Gegen Silvia Baraldini gab es zwei Anschuldigungen: Verschwörung und Mitglied einer Verschwörung. Für beides kassierte sie je 20 Jahre Haft. Die erste Verurteilung betraf die Befreiung von Assata Shakur, die zweite Verurteilung bezog sich auf einen Überfall auf einen Geldtransporter, der tatsächlich nie stattgefunden hat. Handfeste Beweise lagen keine vor - es genügte, dass ein Mitglied der Organisation zum Verräter wurde und Aussagen machte. Aufgrund seiner Aussagen wurden 20 GenossInnen verurteilt, drei davon sind noch heute im Knast.

Überleben im Knast

Silvia Baraldini sass fast 18 Jahre in den USA im Knast, mit unterschiedlichen Haftbedingungen. Die härteste Zeit verbrachte sie in einer speziellen unterirdischen Versuchseinheit mit Susan Rosenberg, ebenfalls Mitglied des "19. Mai", und Alejandrina Torres, Genossin aus der puertoricanischen sozialistischen Unabhängigkeitsbewegung. Breiter Widerstand gegen die Gefängnisse und die speziellen Haftabteilungen bewirkten, dass Silvia nach zwei Jahren in eine Hochsicherheitsabteilung verlegt wurde, wo sie auch Kontakt zu sozialen Gefangenen haben konnte. In den USA kämpften die politischen Gefangenen - anders als in Europa - immer dafür, mit den sozialen Gefangenen zusammen gelegt zu werden, da dies erträglichere Haftbedingungen, keine Isolationshaft und ganztags geöffnete Zellentüren ermöglichte. Silvia konnte als erste Gefangene 1994 in die allgemeine Abteilung wechseln und dort als Lehrerin für Afro-Amerikanische Geschichte arbeiten. Mit der grossen Solidaritätsbewegung draussen kämpfte Silvia dafür, nach Italien verlegt zu werden, was 1999 auch gelang und wo sie noch zwei Jahre Knast und fünf Jahre Hausarrest absitzen musste.

Das Leben draussen

Für Silvia wurde im Gefängnis klar, dass sie sich - einmal wieder draussen - nicht mehr organisieren möchte. Nicht, weil sie es falsch findet. Ihre Entscheidung, unorganisiert politisch aktiv zu sein, ist eine subjektive Entscheidung. Sie arbeitet heute in Solidarität mit oder für Organisationen oder revolutionäre Projekte.

In Italien gibt es viele regionale politische Initiativen. Silvias Meinung nach fehlt jedoch eine Verallgemeinerung der Kämpfe, um die Erkenntnisse für die Rekonstruktion eines anderen Typus von linker Organisation zu nutzen und eine revolutionäre Perspektive zu entwickeln. Dies müsse zuerst wieder aufgebaut werden und sei ein schwieriges und langfristiges Projekt. Dabei könne es nicht um intellektuelle ideologische Diskussionen gehen, sondern um reale praktische Kämpfe. Das Erbe der Niederlagen, welche vor allem der Transformation der Kommunistischen Partei Italien in eine reformistische Partei geschuldet sind, wirke immer noch schwer auf den revolutionären Bewegungen. Viele kleine linke Organisationen wirken oft innerhalb des Systems um ein Stückchen Macht. Darum könne es nicht gehen.

Silvia Baraldini denkt, dass es sicherlich Organisationen in Italien gibt, die sich diese Dinge überlegen, aber da sie selbst nicht organisiert sei, habe sie nicht genügend Innenansicht, um eine Analyse über den Stand der heutigen revolutionären Bewegung zu machen.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 88, März/April 2017, Seite 5
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. März 2017

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