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AUFBAU/559: Verdammte dieser Erde, was macht ihr bloss?


aufbau Nr. 95, Januar/Februar 2019
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Verdammte dieser Erde, was macht ihr bloss?


ORIENTIERUNGSLOSIGKEIT Die Welt der Gegenwart ist beängstigend! Die reaktionären Kräfte sind allgegenwärtig und erfolgreich, die Linke im Abwehrkampf. Wir haben wenig Grund für Optimismus, aber allen Grund, stark zu bleiben.


(az) In Brasilien hat die Wahl des Faschisten Jair Bolsonaro, der unverblümt zum Mord aufruft, eine dermassen ruchlose Kraft an die Spitze dieser riesigen Volkswirtschaft katapultiert, dass Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung für die linke Bewegung angemessen scheinen. Die Linke ist nicht nur in der Defensive, sie wird tätlich angegriffen und das allgemeine Repressionsniveau steigt.

Die historische Erfahrung zeigt aber, dass Angriff auch dazu führen kann, dass sich die Linke organisiert und stärkt. Jede bisherige Revolution ist aus einem unerbittlichen Kampf entstanden. Dafür müssen viele Bedingungen zusammenfallen. In Rojava hat der Angriff der barbarischen Daesh zu einer Intensivierung des Kampfes geführt, der international auf Sympathie traf und aufgrund seines antifaschistischen Charakters breit unterstützt wurde. Allerdings wäre das verraucht, wäre die erfahrene kurdische Bewegung nicht vor Ort gewesen, um den Menschen eine Perspektive und ein Rätemodell von unten zu bieten. Sicher, es braucht eine Ursache für eine Massenbewegung. Ein kurzes Aufflammen gibt es allerdings immer wieder, die wirklichen Schwierigkeiten beginnen nach den Massenmobilisierungen: Sich zu einer organisierten Kraft entwickeln und gemeinsam weiter kämpfen kann nur, wer eine gemeinsame Vision einer besseren Zukunft hat. Sozialistische Politik lebt davon, für etwas zu kämpfen. Dieses Gemeinsame zu entwickeln, braucht Verankerung und Anerkennung innerhalb der Bewegung, gemeinsame praktische Erfahrungen im Kampf und Analysefähigkeit. Derartige Strukturen zu erhalten, um sie im Moment der Notwendigkeit zu haben und weiterentwickeln zu können, ist in der gegebenen Lage die Aufgabe der revolutionären Kräfte weltweit.


Abweichung ist nur gefühlte Rebellion

Die bürgerliche Gesellschaft funktioniert anders als eine Militärdiktatur nicht ausschliesslich über Repression, sondern massgeblich über Verinnerlichung ihrer "Werte". Beispielsweise wird behauptet, alle seien vor dem Gesetz gleich. Man lehrt uns das Märchen der bürgerlichen Freiheiten und im wirklichen Leben müssen wir erfahren, dass das ein Konstrukt ist. In dieser durch Klasse, Geschlecht und Herkunft gespaltenen Gesellschaft, auf der der Kapitalismus beruht, ist die postulierte Norm nicht eine wohlgemeinte Naivität, als Regel ist sie ein Zwangsmittel, um Abweichung abzuwerten oder sogar zu kriminalisieren. Von der angeblichen Norm abweichen zu wollen, ist nachvollziehbar und gut, jede soziale Bewegung lebt davon. Die Frage ist, weshalb "Rebellion" im Moment oft reaktionäre Formen annimmt. Kann, wer unzufrieden ist, hauptsächlich nach rechts tendieren?

In der Tat ist es für die breiten Massen einfach, mit rechtem Gedankengut in Kontakt zu kommen und dabei zählt wenig, dass dieses in der Analyse nichts zu bieten hat. Überzeugend ist nicht das politische Projekt, das mehr Argumente hat, sondern jenes, das eine greifbare Veränderung verspricht. Das, was als "links" gilt, hat ausgedient und schon längst keinen Biss mehr. Die parlamentarische Linke vermittelt den Eindruck, der finale Kampf drehe sich um den Steuerfuss. Hand auf's Herz: Wer will schon dafür kämpfen, mehr Steuern bezahlen zu dürfen? Selbst wenn wir wissen, dass nicht nur der Polizeiapparat, sondern auch die Schule und das Sozialamt damit bezahlt werden, so liegt darin doch keine Vision für Subjekte, die ihr Leben in die eigene Hand nehmen und sich befreien möchten.

Was wirklich links ist, scheint dermassen utopisch, dass nur wer einen sehr langen Atem hat, diesen Kampf aufzunehmen gewillt ist. Das war nicht immer so. Nach der Russischen Revolution, aber auch in den 60er und 70er Jahren, war die revolutionäre Veränderung greifbar. Im Zuge der internationalen revolutionären Erfolge wurde die Klasse selbstbewusst und lernte im Kampf, was ihr bisher vorenthalten worden war: Eine erneuerte Gesellschaft, die auf Gleichheit und Kollektivität basiert, in der die einzelne Person und ihr Beitrag wertgeschätzt wird.


War früher alles besser?

Das ist heute in weite Ferne gerückt. Gehör können sich politische Gruppierungen verschiedenster Couleur verschaffen, religiöse Spinner_innen sowie reaktionäre Hetzer_innen. Sie versprechen eine bessere Zukunft durch Spaltung und Abwertung, bieten Visionen für "die Einheimischen", "das westliche Abendland" oder "den Mann". Es geht keinesfalls um die Enteignung der Produktionsmittel, sondern höchstens um Enteignung einiger zum Feind erkorener Kapitalist_innen. Ausgrenzung und Abwertung sind einfach realisierbar, als positive Vision dient die Rückkehr zu einer goldenen Vergangenheit, die es in Tat und Wahrheit nie gegeben hat. Am deutlichsten lesbar ist das im Anspruch einiger Islamist_innen, ein "Kalifat" zu gründen. Wie kommt es, dass Personen, die unter uns aufgewachsen sind, sich von dieser Splatter-Disney-World-Vorstellung einer Gesellschaft angesprochen fühlen? Als überraschendes Beispiel, kann Diam's angeführt werden. Sie war 2008 die bekannteste Rapperin von Frankreich. Eine zypriotische Seconda, die kein Blatt vor den Mund nahm, gegen Sarkozy agitierte und die Rolle der Frau in der Gesellschaft auf den Kopf stellte. Für Aussenstehende kam ihre Konversion zum Islam und die Heirat eines ebenfalls zum Salafismus konvertierten Hiphoppers nicht nachvollziehbar. Heute lebt sie in Saudi-Arabien und sagt, sie habe eingesehen, dass sie die Welt mit rebellischer Musik nicht habe verändern können, nun sei sie erfüllt. Diam's ist nicht wichtig, aber ihre Geschichte zeigt auf einfache Weise, dass die Sinnsuche relevant ist und zwar nicht nur - wie Mainstreammedien zu unterstellen versuchen - für die "Abgehängten", wie z.B. Trump-Fans oder ostdeutsche Nazis gerne genannte werden. Insbesondere wer den Anspruch hat, die Welt zu gestalten, muss frustrationstolerant sein. Wer es nicht ist, zieht sich zurück oder findet im schlechtesten Fall sogar in einfach gestrickten Wegen "Erlösung".

Wir wollen nicht missverstanden werden: Damit wollen wir nicht Verständnis für Reaktionäre herbeischreiben. Sie gehören bekämpft und geboxt. Was wir aber sagen wollen: Der politische Kampf ist immer in der realen Welt angesiedelt und diese formt das Bewusstsein der Menschen, die darin leben. Das kann sich schnell ändern, wenn die Perspektive auf Befreiung greifbar wird, weil sich das Kräfteverhältnis verschoben hat. Die Kräfte, die das zu verhindern versuchen, sind wahrlich zahlreich, dessen müssen wir uns bewusst sein, um nicht an der Lage zu verzweifeln, sondern den Mut zu haben, weiterzukämpfen. Unser Kampf bewirkt meist keine unmittelbar spürbare Verschiebung der Machtkonstellation, was nicht heisst, dass er nichts bewegt oder den Prozess nicht vorantreibt. Wer hätte gedacht, dass sich die indigene Bevölkerung Indiens so entschlossen in den Kampf werfen würde? Wer hätte vorhersagen können, dass der Krieg in Syrien zur momentan fortschrittlichsten Bewegung führen könnte? Die Geschichte ist weder determiniert noch geschrieben.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 95, Januar/Februar 2019, Seite 7
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2019

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