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AUFBAU/586: Italien und die Krise der neoliberalen Krisenlösungen


aufbau Nr. 98, Sep/Okt 2019
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Italien und die Krise der neoliberalen Krisenlösungen


Im August wurde die italienische Regierung zur Neuformierung gezwungen. Die politische Instabilität und die prekäre wirtschaftliche Lage des Landes sowie der Umgang der EU-Instanzen zeigen erneut, welche Schwierigkeiten der Kapitalismus haben kann, um sich als System zu reproduzieren.

(agafz) Mit einer ernsten Rede eröffnete der italienische Premier Giuseppe Conte mitten im August die parlamentarische Sitzung zur Regierungskrise. Conte übte scharfe Kritik an Matteo Salvini, dem damaligen Innenminister und abtrünnigen Glied der Regierungskoalition. Sein Entscheid sei unverantwortlich, denn "im Rahmen einer sicherlich ungünstigen internationalen ökonomischen Konjunktur wäre eine neue Regierung nur schwer in der Lage der Erhöhung der Mehrwertsteuer und den finanziellen Konsequenzen der Fluktuationen des spread entgegenzuwirken". Dieses Zitat zeigt die Verschärfung der krisenhaften ökonomischen sowie politischen Lage beispielhaft auf.


Das Scheitern der neoliberalen Wende

Um sich als System zu reproduzieren, ist der Kapitalismus auf zwei wichtige Voraussetzungen angewiesen. Es braucht einerseits gewinnbringende Investitionsmöglichkeiten für das Kapital. So wird der Profit sichergestellt, der für den Kapitalismus überlebenswichtig ist. Eine zweite Bedingung ist die Legitimation dieses Systems gegenüber den Lohnabhängigen selber: Der Kapitalismus ist auf eine gewisse Zustimmung der Ausgebeuteten angewiesen, um langfristig stabil zu existieren. Um dies zu erreichen, verwendet er verschiedene kulturelle, ideologische, politische und institutionelle Vermittlungsorgane. Diese agieren sowohl als Vermittler zwischen Kapitalfraktionen mit widersprüchlichen Interessen als auch gegenüber der Arbeiterklasse. Der Staat hat dabei eine zentrale Rolle und eine doppelte Funktion. Auf der einen Seite muss er die Rahmenbedingungen für den Markt gewährleisten, auf der anderen Seite muss er durch sozialpolitische Massnahmen eine Legitimation den Massen gegenüber herstellen. Fehlen diese Voraussetzungen, kann es aufgrund zunehmender Unzufriedenheit zu einem Moment der systemgefährdenden Instabilität kommen. Man spricht von einer Hegemonie- oder Legitimationskrise.

Die 1970er Jahre forderten in zwei Aspekten die führenden Kreise der Politik und Wirtschaft heraus. Die schwere Rezession beendete den langen Aufschwung, der als "goldenes Zeitalter" der Nachkriegszeit bezeichnet wurde. Das Kapital war darauf angewiesen, neue Investitionsmöglichkeiten zu finden. Gleichzeitig waren die Regierungen diverser westlicher Länder vermehrt mit steigendem Druck sozialer Bewegungen konfrontiert. Diese Ausgangslage führte diverse konservative Intellektuelle zur Ansicht, dass das keynesianisch-fordistische Modell der Staatsführung an seine Grenzen gestossen sei, dass die bürgerliche Demokratie kein geeigneter Rahmen mehr sei, um die benötigten Reformen zur Bewältigung der Krise von oben durchzusetzen. Drei Entwicklungen stehen im Zentrum der sogenannten Neoliberalisierung des Kapitalismus: Erstens, die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft, in dem der Finanzsektor immer mehr Gewicht einnimmt. Dazu kommen auch deregulierende Massnahmen in vielen Bereichen, beispielsweise die Liberalisierung von Wirtschaftssegmenten, weitreichende Privatisierungen sowie der drastische Abbau des Sozialstaats. Zweitens, die regionale Integration der nationalen Wirtschaften. Die EU in ihrer modernen Form ist ein Beispiel davon. Und drittens, der längerfristige Prozess einer autoritären Wende der Regierungsform. Dieser beinhaltet Entwicklungen, die die Staatsführung selber betreffen (Verlagerung der Macht auf Exekutive und Administration, Mechanismen zur Schwächung der parlamentarischen Kontrolle wie die Gesetzgebung per Dekret) oder die Bindung des Handlungsspielraums an externe Sachzwänge oder an supranationale Instanzen wie es in der EU der Fall ist.

Die Auswirkungen dieses neoliberalen Auswegs aus der Rezession werden immer klarer. Gemäss Daten der Weltbank ist das wirtschaftliche Wachstum in den letzten 50 Jahren stark zurückgegangen: 1960 betrug die Wachstumsrate des weltweiten BIP 9%, seither ist es stetig gesunken. Seit den 1990ern stagniert es unter 3%. Weder die Globalisierung der Märkte, noch die Finanzierung, noch die Verschuldung der privaten Haushalte, noch das Aufkommen neuer Technologien, noch die Senkung des Lohnanteils am BIP konnten dieser Tendenz nachhaltig entgegenwirken. Ende der 2000er kam es sogar zu einer globalen Rezession, aus der sich der Kapitalismus nur mit Mühe erholt. Zum Beispiel stösst die von der Europäischen Zentralbank eingesetzte Negativzinspolitik, die grosse Investitionen hätten auslösen sollen, an Grenzen. Somit ist die Krise 2008 nicht lediglich eine Krise eines Teils des Finanzsektors, wie die Herrschenden gerne darstellen, sondern die Verschärfung einer seit den 1970er Jahren andauernden Krise und in diesem Sinne eine Krise der neoliberalen Krisenlösungen.


Wirtschaftliche Stagnation und politische Krise in Italien

Die jüngste Geschichte Italiens spricht nicht gerade für politische Stabilität. Ende 2011 wurde Berlusconi von der EU-Elite weggeputscht und durch die technokratische Regierung von Mario Monti ersetzt. Seither gab es fünf Regierungen, von denen nur zwei direkt gewählt wurden. Die Regierungskoalition der Movimento Cinque Stelle (M5S) und Lega Nord entstand nach zähen und langen parteipolitischen Machtspiele, hielt mühevolle 14 Monate durch, bevor sie im August zusammenbrach und das Land erneut in die politische Krise verabschiedete. Dies zeigt beispielhaft, was für Schwierigkeiten die Bourgeoisie hat, ihr neoliberales Programm durchzuziehen. Trotzdem war Italien immer ein gefügiger Schüler: Um die Jahrtausendwende kamen erste arbeitsrechtliche Flexibilisierungswellen, 2012 wurde unter Monti mit dem Fornero-Gesetz das Rentensystem angegriffen und 2015 wurde unter Renzi das Arbeitsgesetz mit seinem Jobs Act weiter abgebaut. In diesem Rahmen wurden grosse Steuerentlastungen für Arbeitgeber eingeführt, was die Arbeitslosigkeit 2015 tatsächlich von 12.7% auf 11.9% senkte. Dieser Trend ist aber schnell versandet. Es ist klar, dass diese - wie auch weitere Reformen - keinen langfristigen Ausweg aus der Stagnation bieten.

Dieser Prozess, in dem sich die Regierungsformen stetig von demokratischer Kontrolle lösen, ist in Europa besonders fortgeschritten. Zu den Grundpfeilern der EU gehört ein Arsenal an Massnahmen und Regulierungen, mit denen die EU die Union und ihre Währung schützen will.

Der Europäische Fiskalpakt enthält beispielsweise eine "goldene Regel", die ein Maximum von 0.5% des BIP als Haushaltsdefizit erlaubt. Ein nicht Einhalten dieser Regel kann zu Sanktionen bis hin zu Bussen in der Höhe von 0.5% des BIP führen. Diese finanzpolitischen Aspekte sind in Bezug auf die aktuelle Situation in Italien besonders brisant. Der Haushaltsplan für das kommende Jahr muss den europäischen Institutionen präsentiert und von diesen validiert werden. Die Verhandlungen um den italienischen Staatshaushalt vor einem Jahr lösten grosse Panik aus, weil das vorgesehene Budget für das Jahr 2019 massiv gegen die Vorschriften des Stabilitäts- und Wachstumsspakts verstiess. Ein Bruch mit den Vorschriften über das Haushaltsdefizit hätte die Eurozone in eine Krise führen können, die von deutlich grösserem Ausmass gewesen wäre als die griechische Krise 2011. Dies, weil es sich um die dritte Volkswirtschaft der Währungsunion handelt. Konsequenterweise wurde Italien noch stärker an die kurze Leine genommen als bisher. Automatische Mehrwertsteuererhöhungen wurden für den Fall verordnet, dass Italien die Vorgaben nicht erfüllt. Somit versteht man die Sorgen Contes, dass Neuwahlen Sparmassnahmen verzögert hätten und es zu einer Erhöhung gekommen wäre. Jede Reformskizze dieser Regierung, so unsympatisch sie sein mag, die den Kurs ein wenig lockern würde, wurde umgehend von den Märkten dadurch bestraft, dass der spread in die Höhe geht. Dieser Index misst den Abstand zwischen den Zinsen der italienischen und deutschen Staatsanleihen. Die Höhe dieser Zinsen bestimmt, wie teuer die Staaten Geld ausleihen können.

Die aktuelle Lage in Italien veranschaulicht deutlich das Scheitern neoliberaler Krisenlösungsansätze: Austeritätspolitik und Reformen schaffen es nicht, das Land aus der Krise zu führen. Gleichzeitig zeigt es, wie ein vermeintlich demokratisch legitimierter Rechtsstaat vollständig dem Diktat des Marktes unterliegt. Erfolgreiche Staatsführung bedeutet in diesem Kontext Sozialabbau, Verarmung breiter Bevölkerungsgruppen und Angriffe auf elementare Lebensgrundlagen - so geschehen beispielsweise in Griechenland oder Süditalien. Diese Verschärfungen und eine wachsende Unzufriedenheit lassen je nach Kontext düstere Perspektiven erahnen. Falls sich keine ernsthafte Linke Opposition der neuen Regierungskoalition zwischen M5S und der Austeritätsaffinen Partito Democratico entgegensetzen kann, könnte sich bei der nächsten Gelegenheit der Wunsch Salvinis nach der "unbeschränkten Vollmacht", wie er es vielleicht in Anlehnung an Mussolini formulierte, doch verwirklichen.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 98, September/Oktober 2019, Seite 10
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2019

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