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AUFBAU/596: Was kann eine Zeitung tun und wie können wir revolutionäre Medien machen?


aufbau Nr. 100, März/April 2020
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

MEDIEN
Was kann eine Zeitung tun und wie können wir revolutionäre Medien machen?


Wir leben unter einer Sturzflut aus fake news und bürgerlichen Medien. Aber es gibt Möglichkeiten, mit eigenen Medien am Aufbau von Gegenmacht zu arbeiten. Überlegungen nach 100 Ausgaben aufbau.


(az) "Tun Sie so, als seien Sie Gott." Das war der Tipp, den ein Redaktor des englischen Wirtschaftsmagazins The Economist einem jungen Kollegen gab, als dieser seinen ersten Artikel schreiben sollte. Gott ist allwissend, sein Bedarf an Kritik und Selbstkritik hält sich in Grenzen, und er spricht gern in Geboten, das heisst in bullet points, nummeriert von eins bis zehn. Das passt zum Economist, dem ältesten Intelligenzblatt der Kapitalisten: "Du sollst die Steuern für die Reichen senken", "Du sollst nicht zulassen, dass Arbeiter sich zusammenschliessen", und so fort.

Mit 1,4 Millionen Auflage ist der Economist das publizistische Flaggschiff für die weltwirtschaftlichen Aspekte kapitalistischer Klassenmacht. Er hat ein Netz an KorrespondentInnen auf der ganzen Welt, um jedes Ereignis auf dem Radar zu haben, das Auswirkungen auf die globale Ausbeutung haben könnte. Aber das ist nur die eine Seite dieser Zeitung. Die andere heisst Ideologie: immer wieder das Credo von den Segnungen der Konkurrenz und dem Abbau des Sozialstaats herunterbeten und im Bedarfsfall Durchhalteparolen ausgeben. Wenn, wie beim Econom, die Macht zu den Mächtigen spricht, tut sie es in zwei Stimmlagen: der Informationsprozessor wird ergänzt durch die Mantra-Maschine. So geht Gott spielen, in einer Zeitung komplett von und für Kapitalisten. Wenn das ist, wie Macht funktioniert, wie geht dann Gegenmacht?


Ausdruck kollektiver Intelligenz

Es geht darum, eine Zeitung zu machen, die genau nicht Gott spielt. Gegenmacht richtet sich organisiert gegen die Macht der Herrschenden, aber sie ist kein plattes Spiegelbild davon. Gegenmacht bedeutet, die Stimmen derjenigen zusammenzubringen, die unter der herrschenden Meinung (die die Meinung der Herrschenden ist) keine Stimme haben. Das Resultat, das im Kampf vom Widerstand gegen die Herrschaft entsteht, geht über das Gegensatzpaar von Herrschaft und Widerstand hinaus. Gegenmacht ist ein Projekt, in dessen Verlauf sich Alternativen aufbauen, sich etwas Neues eröffnet.

Warum? Weil eine Zeitung die Chance bietet, ein Ausdruck kollektiver Intelligenz zu sein. Unsere Beiträge sind ausschnitthaft, sie tun jeweils einen Blickwinkel auf ein konkretes Problem auf. Aber diese Ausschnitte stehen nicht vereinzelt, sondern kommen zusammen, oder anders gesagt: sie reflektieren sich gegenseitig. Und sie sind perspektivisch, d.h. sie sind bewusst gesetzt: die Reflexion erhellt mehr als ihren unmittelbaren Umkreis.

Wie sich das technisch umsetzt, ist nicht zweitrangig, aber keine Frage, die von vornherein abstrakt gelöst werden kann. Warum teuer, mühsam und langsam auf Papier drucken, wenn man auf dem Netz potenziell die ganze Welt mit Computerzugang erreichen könnte? Weil die Zeitung eben nur als konkretes Moment von Gegenmacht wirksam werden kann. Einfach Artikel schreiben und von Zeit zu Zeit ins Netz stellen, damit verpufft jede Wirkung, auch wenn man sich noch so viel Mühe gibt, die Beiträge per Social Media zu verbreiten. Für eine tagesaktuelle Web-Präsenz wiederum sind revolutionäre Organisationen häufig zu klein und zu schwach. Die kontinuierliche Arbeit einer Redaktion, in der die verschiedenen Interessen zusammenkommen und eine Zeitung, die in einem Zusammenhang steht mit anderen Praxisfeldern - Streiks, Demos, Soli-Aktionen -, das lässt sich am besten umsetzen, wenn Papier und Web sich ergänzen. Worauf dabei das Schwergewicht liegt - ob auf dem Papier oder dem Web -, ist eine Frage, die immer wieder neu und praktisch gestellt werden muss. Für ein solches Projekt einer Zeitung als Ausdruck kollektiver Intelligenz gibt es verschiedene Strategien. Eine davon heisst Gegeninformation.

Wir leben in der Zeit von fake news. Die manipulierende Realitätsverdrehung, die mit Fälschungen arbeitet, ist vielleicht die unverhohlenste Gott-Spielerei der Mächtigen, indem sie die Realität schlicht umschreibt. Trump und die Erdölbranche angesichts des Klimawandels sind deutliche Beispiele. Was dabei manchmal vergessen geht, ist, dass die bürgerlichen Qualitätsmedien durchaus auch mal lügen, wenn es drauf ankommt. Dass es heute FaschistInnen sind, die von der "Lügenpresse" reden, ist ein reales Problem - dass nämlich Faschos heute weitaus stärker den bürgerlichen Medienkonsens angreifen, als Linke das im Moment können -, heisst aber nicht, dass die bürgerlichen Medien nicht lügen. Ja, noch mehr: dass die bürgerlichen Medien stets Ideologie verbreiten, das heisst, eine Sicht auf die Welt, die die herrschende Ordnung stützt, indem sie sich als die einzig wahre und mögliche ausgibt.

Gegeninformation berichtet mit Fachkenntnissen über Zusammenhänge, die uns sonst unter den Tisch fallen. Der Coreos de las Américas, der auf Deutsch über die Lage in Lateinamerika berichtet, oder Labournet, die Online-Plattform zu Arbeitskämpfen, sind Medien der Gegeninformation, in der ein spezialisiertes Wissen zum Tragen kommt.

Gegeninformation kann verschiedene Formen haben - als gedruckte Zeitung verteilt, als Podcast, als Web-Plattform, oder, wie der "Internationalistische Monatsrückblick" in Winterthur, als zusammengeschnittene Filmschau, für die die Leute zusammenkommen, um sie sich anzusehen. Gegeninformation ist Aufklärung und Selbstaufklärung, eine nötige Grundlage für die Kämpfe. Aber sie ist ein Element von vielen.


Vorstellungskraft für die Selbstbefreiung

Es geht nicht nur darum, die Realität abzubilden, sondern darüber hinaus zu weisen. Wir brauchen Elemente, die unsere Vorstellungskraft erweitern, weil wir uns mit der Realität nicht abfinden. Hier geht es um Geschichten, die Mut machen und Möglichkeiten aufzeigen. Es geht um eine dialektische Fantasie, die die Realität nicht leugnet, aber zugleich die Aufklärung, wie sie Gegeninformation bietet, überschreitet. So etwas machen RevolutionärInnen auf der ganzen Welt, von der Zeit der ersten Druckerpressen bis zu den GIFs und memes von heute. Eine der frühesten kommunistischen Zeitungen hiess Die junge Generation, kam eine Weile lang aus Zürich und hatte eine Rubrik, die "Scenen vom Kriegsschauplatz" hiess. Sie wurde von Handwerkergesellen rund um den deutschen Schneider Wilhelm Weitling herausgegeben. Der Kriegsschauplatz, das war für Weitling und seine Genossen der Klassenkampf. In der Rubrik "Scenen vom Kriegsschauplatz" wurden dramatische Storys abgedruckt - wenn nicht erfunden, dann sicher ausgeschmückt -, wie die Geschichte einer englischen Bande, die in Frauenkleidern, ein Zollbüro voller Passpapiere niederbrannte, oder eines schwangeren Dienstmädchens, das sich zusammen mit einem Meisterdieb an einem reichen Lüstling rächte.


"Ab jetzt herrscht eine neue Zeit in dieser Stadt!"

Solche Geschichten sind wichtig für eine Politik der proletarischen Selbstbefreiung. Sie kursieren überall, zum Beispiel in den USA zur Zeit der Sklaverei: Etwa die Geschichte von Guinea Sam Nightingale, einem Heiler und Aufständischen. Guinea Sam Nightingale wurde von einer Kanone aus Westafrika geschossen, flog über den Atlantik, landete in Boonville, Missouri, einem Zentrum der Sklaverei, und verkündete: "ab jetzt herrscht eine neue Zeit in dieser Stadt." Ehemalige SklavInnen erinnerten später daran, dass der amerikanische Bürgerkrieg - eine Revolution gegen die Sklaverei und die Lohnknechtschaft gleichermassen - durch Aufrührer wie Nightingale ins Rollen gebracht worden sei. Hier verband sich Science Fiction und Kriegstechnik (eine menschliche Kanonenkugel über die Kontinente hinweg) mit einem handfesten revolutionären Programm, nämlich dass die SklavInnen sich selbst befreien müssen.

"Wenn kollektive Intelligenz in einem Zeitungsprojekt zum Ausdruck kommt, kann sie daran arbeiten, Wahrheiten aufzudecken, die von den Herrschenden unter dem Deckel gehalten werden. Und sie kann durch Kreativität helfen, mit Geschichten - mit realen und solchen aus der Vorstellungskraft - die Realität des Kapitalismus inakzeptabel zu machen. Denn: Die, die ihre Lage erkannt hat, wie soll die aufzuhalten sein?


Das Allgemeine über das Besondere anpacken

Aber die Lage erkennen und sich aufmachen, sie zu verändern, sind trotzdem zwei Dinge. Eine Strategie, die russische RevolutionärInnen verfolgt haben, um diese zwei Dinge zusammenzubringen, ist die Zeitung als Organisator. Lenin verglich die Zeitung mit einem Gerüst "um ein im Bau befindliches Gebäude"; das Gebäude war die Organisation. Das Gerüst erleichtert die Arbeit am kollektiven Projekt, in vielerlei Hinsicht ist es das kollektive Projekt. Die Zeitung hat einen Nutzen im Kampf - sie ermöglicht es, mit Teilen der Klasse ins Gespräch zu kommen. Ein Beispiel aus der aufbau-Zeitung ist das Interview mit einer Sexarbeiterin - nicht mit einer Sozialarbeiterin oder einer Soziologin, sondern mit einer Frau, die aus ihrem Blickwinkel und ihren eigenen Interessen heraus Auskunft gibt. Hinzu kommt: Die Berichte über die Momente, in denen sich etwas bewegt, unterstützen dann wieder die Kämpfe. Man kann Kontakte knüpfen. Und manchmal können die Berichte nach aussen wirken. In der aufbau-Zeitung sind Beispiele die Berichte über die Streiks der S-Bahnlokführer in Berlin, die Kämpfe gegen die Sparmassnahmen der Stadt Zürich oder gegen die Erhöhung des Rentenalters. Wenn es klappt - und häufig klappt es auch nicht -, kann der Konstruktionscharakter der Zeitung dazu beitragen, dass die Vielfalt von Erfahrung und Hintergründen, die in einer Organisation da sind, zum Ausdruck kommen. Erst Organisierung ermöglicht einen konkreten Ausdruck der Vielfalt der kämpfenden Klasse. Das geschieht ganz besonders dann, und leider zu selten, wenn Themen, an denen das Politische nicht von vornherein sichtbar ist, überraschend politisch behandelt werden. Durch die verschiedenen Ausschnitte auf die Gesellschaft, die sie aufmacht, erledigt die Zeitung das Allgemeine im Besonderen. Die Zeitung ist kein Theorieorgan, sie behandelt allgemeine Probleme - Aufbau von Gegenmacht, Kommunismus - von konkreten Kämpfen her. Das ist eine Perspektive, die sich eben nicht als Gott ausgibt, die nicht allwissend ist, aber unsere kollektive Intelligenz nutzt, um am Aufbau von Gegenmacht zu arbeiten. *

Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 100, März/April 2020, Seite 1+6
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz:
aufbau, Postfach 8224, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2020

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