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CORREOS/080: Mexiko, Chiapas - Angriff auf Menschenrechtler


Correos des las Américas - Nr. 159, 28. Oktober 2009

Chiapas: Angriff auf Menschenrechtler

Paramilitärs schiessen auf oppositionelle Bäuerinnen und Bauern
und verletzen Anwalt schwer - Polizei duldet Angriff

Von Luz Kerkeling


Im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas wurden Oppositionelle erneut Opfer paramilitärischer Gewalt. Am 18. September attackierten etwa 60 Männer und Frauen mit Steinen, Stöcken und Schusswaffen den Anwalt Ricardo Lagunes, als dieser sich nach einer Besprechung in der Gemeinde Jotolá auf den Heimweg machen wollte. Der Anwalt, der für das international renommierte Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas arbeitet, wurde schwer zusammengeschlagen, konnte jedoch fliehen, da ihm die Gemeindemitglieder zu Hilfe eilten. Bei der Befreiungsaktion schossen die Paramilitärs in die Menge und trafen den Tzeltal-Indigenen Carmen Aguilar Gómez aus San Sebastian Bachajón in den Oberschenkel.

Die Angreifer sind Mitglieder der regierungsnahen "Organisation zur Verteidigung der indigenen und bäuerlichen Rechte" (OPDDIC), die über einen bewaffneten Arm verfügt, der von unabhängigen Menschenrechtsorganisationen bereits mehrfach für Übergriffe auf zapatistische und andere linksoppositionelle Gemeinden verantwortlich gemacht wurde. Darüber hinaus wird die OPDDIC beschuldigt, auf gewaltsame und illegale Weise Land an ihre Mitglieder zu verteilen, das 1994 von der zapatistischen Befreiungsarmee EZLN besetzt wurde.

Thomas Zapf, Mitarbeiter des Internationalen Friedensdienstes (SIPAZ) in San Cristóbal, bezeichnete im Interview die jüngsten Angriffe als "Ausdruck einer neuen Qualität von Repression". Es sei besorgniserregend, dass selbst vor Angriffen auf MenschenrechtsaktivistInnen nicht mehr zurückgeschreckt würde. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas kritisierte die Vorgehensweise der Polizei, die kurz vor dem Angriff noch mit OPDDIC-Mitgliedern gesprochen habe und danach verschwunden sei, und machte Gouverneur Juan Sabines von der sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) für die Repression verantwortlich.

Der Menschenrechtsanwalt Lagunes hatte sich in Jotolá aufgehalten, um mit den dort lebenden oppositionellen Kleinbäuerinnen und -bauern die juristische Situation zweier inhaftierter Dorfbewohner zu erörtern. Hintergrund der Auseinandersetzungen sind Landstreitigkeiten und umstrittene Entwicklungsprojekte in der Region. Sowohl die chiapanekische als auch die mexikanische Bundesregierung fördern Monokulturen, Autobahnen und Tourismusprojekte in Zusammenarbeit mit multinationalen Konzernen, ohne die jeweils betroffenen Gemeinden zu konsultieren. Viele Gemeinden haben sich daher der "Anderen Kampagne" angeschlossen, einer Mobilisierung des ausserparlamentarischen zivilen Widerstands, die von der EZLN 2006 initiiert wurde und sich für eine neue antikapitalistische Verfassung für Mexiko engagiert.

Die aktuelle Repression ist kein Einzelfall. "Die Regierung informiert uns nicht, sie macht uns nur Probleme, ihre Projekte stellen für uns keinerlei Verbesserung dar", so Camilo Perez, Aktivist der "Anderen Kampagne" aus Palenque im Interview. Die Andere Kampagne fordert daher einen Baustopp der Autobahn San Cristóbal-Palenque, die Einstellung der umstrittenen Tourismusprojekte, die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen und die Umsetzung der Abkommen von San Andrés über indigene Selbstverwaltungsrechte.


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Ein "zweites Cancún"

Agua Azul heisst der Brennpunkt dieser Auseinandersetzungen; dort soll laut dem Gouverneur Juan Sabinés ein "zweites Cancún" entstehen; eher eine Schreckensvision für die lokale Bevölkerung, welche die karibische Springbreaker-Retortenstadt Cancún durchaus kennt, und zwar als Bauarbeiter und Putzpersonal, wo sie unter miesesten Arbeitsbedingungen der Armut in Chiapas zu entkommen versuchen. Seit Ende September haben die BewohnerInnen von San Sebastián Bachajón nun wieder ihr Häuschen an der Strasse zu Agua Azul errichtet, an dem sie eine bescheidene Eintrittssumme fordern. Dieses Geld soll der autonomen Entwicklung der Region dienen. Ein Dorn im Auge der Behörden, welche schon vor einem halben Jahr erstmals mit polizeilich-militärischer Repression ein solches Ansinnen zunichte machten (siehe Correos 158). Zwei Dorfbewohner sitzen seither in Haft; über diesen Prozess wollte der Anwalt des Frayba vor Ort berichten. Die Gemeinden beharren auf ihrem Recht und berufen sich dabei auf das Abkommen 169 der ILO. Anfang Oktober meldete die Jornada neue Druckversuche: Nun drohen lokale staatliche Funktionäre, es gäbe "wegen der Anderen Kampagne" für niemanden mehr die Gelder des Armutsprogrammes "Oportunidades", von dem das tägliche Überleben von einer halben Million chiapanekischer Familien abhängt. Diese Drohung sprechen sie jedoch nicht gegenüber den widerständischen Gemeinden der "Anderen Kampagne" aus, sondern vor den versammelten AnhängerInnen der paramilitärisch organisierten der OPPDIC. Ein unverhohlener Aufruf zur Gewalt.


Der Autor ist Mitglied der Gruppe B.A.S.T.A. in Deutschland


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 159, 28. Oktober 2009, S. 29
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2009