Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

CORREOS/101: Schmutziger Sozialkrieg in El Salvador


Correos des las Américas - Nr. 162, 16. Juli 2010

EL SALVADOR
Schmutziger Sozialkrieg

Von Dieter Drüssel und Mela Wolf


Passagiere werden in einem Kleinbus in einer Armutsgemeinde mit Benzin übergossen und lebendigen Leibes verbrannt. StrassenverkäuferInnen geraten dem rechtsradikalen Bürgermeister von San Salvador ins Terrorismusvisier, während er den Putschführer aus Honduras hofiert. Die Armee will immer mehr Kontrolle im Land. Die grosse Hoffnung: Der FMLN trägt den Kampf gegen die schleichende «Warlordisierung» in die Armutszonen.


Am Sonntag, dem 20. Juni 2010, hat sich in Mejicanos ein entsetzlicher Vorfall ereignet. Ein «öffentlicher» Kleinbus der Rute 47 wurde am Abend angezündet. 14 Passagiere starben sofort, drei weitere der rund 16 meist mit schweren Verbrennungen Überlebenden sind seither ihren Verletzungen erlegen.

Mejicanos ist eine Unterklassen-geprägte Vorstadtgemeinde von San Salvador, von der Bevölkerungsgrösse her etwa vergleichbar mit Basel. Eine FMLN-Bastion. Bericht einer Augenzeugin, veröffentlicht in El Mundo am 22. Juni:

«Plötzlich hörte ich entsetzliche Schreie. Es war halb acht abends und mit meinen schlechten Augen versuchte ich, die Quelle der verzweifelten, makabren Schreie ausfindig zu machen. Ich fuhr in meinem Wagen vorbei, als ich merkte, dass etwas geschah. Ich sah, dass die Schreie aus einem in der Nähe abgestellten Kleinbus stammten. Plötzlich wurde es hell auf der Strasse. Der Kleinbus fing Feuer. Von drinnen hörte ich Schreie von Frauen, die verbrannten.

Ich zitterte. Ich rief die 911 (Polizeinotruf) an, doch vergeblich. Es war stets besetzt. Draussen um den Kleinbus gossen mindestens drei Männer Benzin auf den Bus, damit er noch stärker brenne. Sie lachten wie Wahnsinnige.

Ich betete. Ich konnte nicht mehr fahren. Ich schaffte es nur noch, den Motor abzustellen. Nicht einmal in den gewalttätigsten Filmen habe ich so etwas gesehen. Es waren Augenblicke. Minuten. Ich weiss es nicht. Aber ich sah, wie eine Frau aus dem Fenster flog, während der Bus immer mehr brannte. Nachher wurde mir klar, dass es ihr Gatte war, der sie, um sie zu retten, aus dem Fenster geworfen hatte. Es war eine Señora aus dem Quartier Argentina. Sie lebte nahe von mir. Nachher sah ich die Silhouette eines Mannes (es war ihr Gatte), der versuchte, aus einem Fenster zu springen, nachdem er seiner Frau geholfen hatte. Aber als er das versuchte, schrieen ihm mehrere mit Pistolen und Gewehren bewaffnete Männer zu, dass es zu spät sei. Sie sagten ihm, falls es ihm gelänge, herauszukommen, würde er unter ihren Kugeln sterben.

Die Flammen wuchsen. Die Männer gossen weiter Benzin auf den Bus mit den Leuten drin. Ein Mal hörte ich ein Weinen wie von einem Bébé. Dies traf mich, denn diese Verruchten hörten nicht auf, über das zu lachen, was sie taten.

Es war die Hölle. Man hörte die Schreie der Leute, die im Bus verbrannten. Die Verfluchten hörten nicht auf zu lachen. Sie waren sicher auf Drogen. Wer weiss.»


«Eine verrückte Woche»

Das Massaker von Mejicanos erfolgte kaum 20 Minuten, nachdem zwei Strassenzüge entfernt ein anderer Kleinbus mit Maschinengewehren beschossen wurde. Es starben zwei Mädchen und ein Mann. Ein ungewöhnlich blutiger Sonntagabend, der eine Woche abschloss, die im rechten Boulevardblatt MAS in seinen Klatsch-Spalten als «semana loca» angekündigt worden war. Quelle der Ankündigung: alte Geheimdienstseilschaften. Da die Armee neu für die Kontrolle der Knäste, in denen die Bosse der Maras (Strassenbanden) einsitzen, zuständig sei, hätten die Kriminellen eine «Aktionswoche» als Retorsionsmassnahme geplant. In den Tagen zuvor hatte der Bürgermeister der Hauptstadt, Norman Quijano, im Zusammenhang mit der Bekämpfung von StrassenverkäuferInnen eine Sicherheitspsychose angeheizt (s.u.).


Gewaltverhältnisse

Dieses Massaker sprengt den Rahmen der «gewohnten» Gewalt selbst in diesem Land. Glaubt man einem Bericht, den das UNO-Menschenrechtskommissariat und die Menschrechtskommission der OAS in San Salvador vorgestellt haben, hat das Land in Zentralamerika die höchste Mordrate (Co-Latino, 14.6.10. Guatemala: 48 Morde auf 100.000 EinwohnerInnen, Honduras: 58:100.000, El Salvador: 71:100.000). Allein in diesem Jahr sind nach Angaben von Busunternehmern schon 77 Angestellte des öffentlichen Transportsystems umgelegt worden. Diese Morde werden immer mit Erpressungsaktionen der Maras erklärt; allerdings haben bei einer unbekannten Anzahl dieser Morde die Maras auf Geheiss von konkurrierenden Busunternehmern gehandelt. So oder so werden dabei «normalerweise» die Passagiere ausgeraubt und laufen gelassen.

Schon am Tag nach der Matanza hatte die Polizei ein Dutzend Mitglieder der Mejicanos-Gruppe der Mara 18 verhaftet. Die Mara-Hypothese gilt nicht als unplausibel. In den Medien zirkulieren zwei Erklärungen, die von der Polizeiführung nicht ausgeschlossen, aber auch nicht einfach bejaht werden. Die eine geht von einer Racheaktion der Mara 18 gegen die jetzt einsetzende Militarisierung der Knäste aus. Armeeeinheiten sollen auf Geheiss der Regierung das Umfeld von Gefängnissen absichern. Die andere Version besteht in den üblichen «Erklärungen» mit territorialen Konkurrenzkämpfen zwischen den Banden. Bisher galt die Mara 18 allerdings als weniger brutal als ihre Rivalin Mara Salvatrucha.


Die Staatsanwaltschaft mauert

Auffallend ist, dass der Generalstaatsanwalt Romeo Barahona, ein Mann der Rechten, erst gegen die von der Polizei Verhafteten nur wegen illegalem Waffenbesitz vorgehen wollte. Nur unter massivem öffentlichen Druck wird er nun gegen einige der Verhafteten Anklage wegen Beteiligung am Massaker erheben.

Äusserst merkwürdig: Einige Tage nach der Tat stellte sich der laut Presseversionen für das Massaker angeblich verantwortliche Mara-Boss der Justiz. Damit haben wir es mit einem alle bisherigen Mara-Übeltaten sprengendem Vorfall zu tun und mit einer weiteren Premiere: ein Marajefe stellt sich freiwillig...


Eine Erinnerung

Ausgerechnet in diesem Fall lassen Exponenten der Rechten wie der Generalstaatsanwalt jenen «Schneid» vermissen, den sie ansonsten als politisches Rübe-ab-Postulat noch so gerne an den Tag legen. Umgekehrt fordern etwa der FMLN oder Vizepräsident Sánchez Cerén eine reale, umfassende Aufklärung und eine klare Kooperation von Staatsanwaltschaft und Justiz. Sicherheitsminister Manuel Melgar (FMLN) dazu: «Das ist ein typisch terroristischer Vorfall. Er will die Bevölkerung in Angst versetzen. Man muss untersuchen, welches Motiv dahinter stecken kann» (LPG online, 21.6.10).

Natürlich ist es noch zu früh für definitive Aussagen zum Massaker. Allerdings steigt die Erinnerung an ein anderes Busmassaker hoch, begangen an Weihnachten 2004 in der honduranischen Stadt San Pedro Sula. Damals waren 28 Passagiere in einem Linienbus erschossen worden. Die Täter liessen ein mit «Cinchoneros» firmiertes Spruchband zurück, in dem sie dem damaligen Präsidenten Maduro (Mit-Putschist vom letzten Jahr) den Krieg wegen seiner brutalen Antimara-Kampagne erklärten. Cinchoneros, so hatte in den 80er Jahren eine seither längst aufgelöste linke Guerillaformation geheissen. Es war damals Wahlkampf, den der heute als Präsident amtierende Porifirio Lobo gegen einen gewissen Mel Zelaya schliesslich verlor... Dazu ein Auszug aus Correos 150 (August 2007):

«Der Präsident Zelaya gab mir eine haarsträubende Information, die ich nicht verbreiten möchte, solange wir nicht davon überzeugt sind, dass sich diese Vorgänge zugetragen haben». Dixit der guatemaltekische Präsident Óscar Berger vor einigen Wochen. Mario Taracena, Parlamentarier der UNE-Partei, deren Präsidentschaftskandidat Álvaro Colom in den Umfragen vorne liegt, beeilte sich am 3. Juli, die Worte Bergers zu verdeutlichen. Der US-Bürger Mark Klugmann habe «in Honduras die Morde an Buschauffeuren ersonnen und es erscheint uns seltsam, dass jetzt, während er den Partido Patriótico (PP) berät, das Gleiche in Guatemala passiert». In der ersten Jahreshälfte sind 75 Buschauffeure im Land umgebracht worden, angeblich von Strassenbanden. Klugmann hatte in Honduras als Berater die knapp gescheiterte Wahlkampagne des rechtsradikalen Law-and-Order-Kandidaten Pepe Lobo geleitet, während der es am Vorabend von Weihnachten 2004 in einem Aussenbezirk der Industriemetropole San Pedro Sula zu einem Massaker gekommen war: Alle InsassInnen eines Busses, mehrheitlich von der Arbeit heimkehrende Fabrikarbeiterinnen, wurden massakriert. Der Berater Klugmann wurde im Land mit diesem Massaker assoziiert, der honduranische Sicherheitsminister unterstrich kürzlich, dass dies Gegenstand einer Untersuchung sei.

Die Person von Klugmann ist auf jeden Fall von Interesse. Er stammt aus dem neokonservativen Milieu in den USA, ist Redenschreiber für die beiden Präsidenten Reagan und Bush I. gewesen und agiert seit 1989 im pinochetistischen Umfeld in Chile. In El Salvador hatte Klugman für [Ex-Präsident] Flores den Wahlberater markiert und ist in einer nicht näher bestimmten Funktion auch für den heutigen Präsidenten Saca aktiv gewesen, während dessen Wahlkampagne sich die Morde an Buschauffeuren dramatisch gesteigert haben. (Hauptquellen zu Klugmann: die honduranische Zeitung El Heraldo, 29.11.05, 30.6.07)».


Destabilisierungsstrategie?

Das Massaker passt auffallend in eine Dynamik, wie sie der Bürgermeister von San Salvador und einzig verbliebene Hoffnungsträger für die rechte Partei ARENA, Norman Quijano, im Juni losgetreten hat. Drei Entwicklungen spielten wie zufällig für das Zustandekommen jener «verrückten Woche» zusammen, wie sie im Massenblatt MAS, einem traditionellen Transportvehikel für rechtsradikale «Knüller», angekündigt worden ist: 1. Angriffe auf StrassenverkäuferInnen durch die Gemeinderegierung, 2. Einladung des honduranischen Putschisten Roberto Micheletti und 3. das Massaker von Mejicanos.

In der zweiten Juniwoche startete die Alcaldía (Gemeinderegierung) von San Salvador in der Nacht vom Freitag eine gross angelegte Räumungsaktion mit über 500 Elementen der Gemeindepolizei CAM gegen StrassenverkäuferInnen im Zentrum um das Spital Rosales und der Calle Arce, eine Hochburg der VerkauferInnen der CD-DVD-Bewegung. Diese war ursprünglich als Kampfbewegung gegen das Freihandelsabkommen mit den USA entstanden. Das CAM wird jetzt von einem Ex-Militär befehligt und vom unterlegenen ARENA-Präsidentschaftskandidaten und ehemaligen Polizeichef Rodrigo Ávila «beraten». Fernziel derartiger Aktionen: eine von den abertausenden ambulanten HändlerInnen «gesäuberte», von kapitalkräftigen Verkaufsketten dominierte Innenstadt. Zwischen 12 bis 20 tausend VerkäuferInnen sollen in den nächsten zwei Jahren weggesäubert werden. Trotz Wirtschaftskrise, die den Strassenhandel für viele zur einzigen Einkunftsmöglichkeit macht.


Die Inszenierung

Es kam, wie erwartet, zu Widerstand. An die 400 VerkauferInnen verbrachten die Nacht in der Innenstadt, um ihre Stände zu verteidigen. Pikantes Detail: Wahrend der Auseinandersetzungen zwischen CAM und VerkäuferInnen «verirrte» sich ein Abfallcamion der Alcaldía in einen hermetisch abgeriegelten Quadranten von zehn Strassenzügen und wurde just neben brennenden Autoreifen parkiert. Die VerkäuferInnen bemerkten, wie der Camion von einem Trupp von Unbekannten in Beschlag genommen wurde, der Fahrer abhaute und die Gefahr bestand,dass derWagen in Flammen aufgehen würde. Derartige Manöver, wo irgendwelche Wagen abgefackelt werden und dann soziale Proteste als Terrorakte verbraten werden, kannten insbesondere die CD/DVD-VerkäuferInnen aus früheren Jahren. Sie nahmen den Camion fix in Beschlag, schlugen die Unbekannten in die Flucht und händigten den unbeschadeten Wagen dem CAM aus. Kurioserweise griff kurz darauf die Polizei-Grenadierabteilung UMO die VerkäuferInnen an. Ein Abfallcamion sei entführt worden sei, und da müsse, im Gegensatz zur Räumung, die Gemeindeangelegenheit sei, die nationale Polizei «eingreifen».

In der Nacht auf Sonntag explodierte eine aus einem Wagen geworfene Handgranate im Wagenpark eines Postens der Gemeindepolizei, wobei drei Angehörige des CAM leichte Verletzungen davon trugen. Quijano konnte jetzt von «Terrorismus» sprechen. In einem anonymen Medienanruf übernahm ein «urbanes Kommando» die Verantwortung - so hiessen während des Krieges die städtischen Einheiten des FMLN. Wochen zuvor hatte der ARENA-Hardliner mehrfach die Verwicklung von «Parteiexponenten» in die VerkäuferInnenszene betont - mehrmals nannte er dabei Martín Montoya, bekannt als Sprecher der CD/DVD-Bewegung.

Einen Tag darauf erstattete Quijano bei der Generalstaatsanwaltschaft Anzeige gegen sechs VerkäuferInnen-Chefs, die bekanntesten Gesichter von links bis rechts aussen aus der Szene, wegen «intellektueller Urheberschaft» beim Bombenanschlag. Die Staatsanwaltschaft nahm, anders als sonst, subito die entsprechenden Ermittlungen auf und die Rechtsmedien feierten Quijanos «mutigen Akt», der endlich klare Verhältnisse schaffe. Umgekehrt führte dies unter den VerkäuferInnen zum Zusammenschluss in der «Bewegung der unabhängigen VerkäuferInnen».

Für den Morgen des Donnerstags, des 18. Juni, zwei Tage vor dem Massaker in Mejicanos, und drei Tage nach dem ersten «Terrorismusakt», war eine Grossmobilisierung der VerkäuferInnen angesagt. Doch die HändlerInnenorganisationen hatten in der Nacht zuvor Wind von geplanten Provokationen erhalten und versuchten an den Treffpunkten, die Mobilisierung zu stoppen. Zu spät, noch während sie ihre Leute zum Abziehen aufforderten, traten Gruppen in Aktion, die sofort eine Auseinandersetzung mit der Polizei provozierten. Es kam zu einer mehrstündigen Szenerie im Stadtzentrum, bei der Presseleute oder etwa Wagen des Gesundheitsministeriums Angriffsziele waren. Marodierende Schlägertruppen sorgten während Stunden für ein aufgeheiztes Klima. Für die VerkäuferInnen steht fest: Es handelte sich um eingeschleuste Agents Provocateurs. Die (grossen) Medien berichteten hingebungsvoll vom VerkäuferInnen-Terror. Laut Polizeiangaben handelte es sich bei den 36 Festgenommenen zum Teil um Mara-Mitglieder.

Am Vorabend, um 9 Uhr nachts, hatte Quijano höchstpersönlich in eine Tagesschau-Sendung angerufen, um mitzuteilen, dass für den folgenden Tag gewalttätige Aktionen inklusive neue Handgranatenanschläge geplant seien. Die Bevölkerung rief der Mann zu besonderen Vorsichtsmassnahmen auf. Eine Stunde nach dem Aufsehen erregenden Anruf explodierte an einer Eingangstüre der Alcaldía eine Handgranate, ohne jemanden zu verletzen. Insgesamt seien aber acht Anschläge geplant gewesen, wusste Quijano zu berichten. (Wie dann später «korrigiert» wurde, explodierte die Granate nicht in einem Eingang, sondern im Alcaldía-Lager für Geburtsurkunden. Damit sind «drohende» Kontrollen von mutmasslichen Falsch- und MehrfachwählerInnen über den Abgleich der dafür zentralen Geburtsurkunden für die Hauptstadt weitgehend abgewendet. Das ist im Hinblick auf die nächsten Gemeindewahlen 2012 besonders spassig.)


Die Putschkomponente

Die grossen Massenmedien heizten von Mittwoch bis Samstag mit ihrer Hetze gegen die VerkäuferInnen ein Klima von «Unsicherheit» an. Dann kam am Sonntag das beängstigende Massaker von Mejicanos. Drei Tage danach, am 23. Juni, empfing Bürgermeister Quijano zusammen mit anderen Exponenten von ARENA und Unternehmerkreisen den Gorilla Roberto Micheletti, der in Honduras nach dem Putsch als «Präsident» waltete. Quijano verlieh seinem Spezi einen Orden für die «Verteidigung der Demokratie» und erklärte sich zu seinem «Bewunderer». Es ist denn auch kein Zufall, dass während der Vertreibungen der StrassenhändlerInnen im rechtsradikalen Blatt Diario de Hoy (online) Kommentare erschienen, die kurzen Prozess mit den VerkäuferInnen und «anderen Gewalttätern» forderten, «so wie in Honduras».


Militarisierung

Diese Vorkommnisse stehen im Kontext eines generellen Angstklimas wegen der extrem hohen Mordrate im Land. Die FMLN-/Funes-Regierung reagiert widersprüchlich, aber leider gibt sie auch dem Ruf nach einer militärischen «Antwort» nach. So kontrollieren jetzt die Militärs neu alle Menschen, die 5 der insgesamt 19 Knäste betreten oder verlassen. Begründung: Nur so könne der Schmuggel auch mit Handys unterbunden werden, welche die einsitzenden Marabosse benutzten, um ihre Banden draussen zu neuen Übeltaten anzuleiten.

Die Armeeführung unter dem von Präsident Funes ernannten Verteidigungsminister und General Munguía Payés lässt keinen Zweifel daran, dass sie auch das bloss als Zwischenschritt sieht. Munguía Payés bedauert in Interviews, dass die Armee nicht die direkte Kontrolle über alle InsassInnen aller Gefängnisse ausüben darf. «Wenn wir die totale Kontrolle übernehmen würden, könnten wir die Verbrechen um 40% reduzieren», so der Gorilla (Prensa Gráfica, 20.6.10). Das Lamento über die den Soldaten aufgezwungenen «gesetzlichen Fesseln» bei ihrem Einsatz im Innern ist ein Dauerbrenner. Dieser Tage will die Regierung ein neues Gesetz zur Bekämpfung von «Strassenbanden und Ausmerzgruppen» (Todesschwadronen) vorlegen. Offenbar beinhaltet es auch eine nochmalige mehrjährige Straferhöhung für Mitgliedschaft in einer «kriminellen Organisation», speziell in den Maras - wie immer die auch «bewiesen» werden soll. Der General begrüsst die Vorlage als Hilfe für das Vorgehen der Armee und meint: «Nach sechs Monaten im Territorium wissen wir, wer wer ist» - eine entsprechende Datenbank der Streitkräfte stehe jetzt zur Verfügung (Prensa Gráfica, 1.7.10). Munguía Payés weiss ohnehin viel, etwa, dass der Befehl für das Massaker von Mejicanos «aus einem Gefängnis» kam (Diario de Hoy, 22.6.10).

Am 30. Juni legte ARENA ein Vorschlagsbündel für die weitere Militarisierung vor (Schaffung eines die Polizei befehlenden «Anti-Banden-Militärkommandos», militärische Gefangenenlager auch für unter 16-jährige Mareros, ein «hochsicherer» Militärknast auf einer Insel im Golf von Fonseca). Es ist eindeutig, dass die extreme Anheizung des Unsicherheitsklimas dazu dient, den Zug auch unter Funes in Richtung Militarisierung zu lenken. So deutlich, dass kürzlich die Menschenrechtskommission der OAS (CIDH) in einem zusammen mit Unicef und dem UNO-Menschenrechtskommissariat verfassten Bericht vor dieser Entwicklung warnte. CIDH-Kinderrechtsexperte Paulo Sergio Pinheiro meinte: «Die Geschichte zeigt, dass die Beteiligung der Streitkräfte einer Einladung zu Menschenrechtsverletzungen gleich kommt. Es handelt sich um eine verkrampfte Antwort für die öffentliche Meinung, aber sie stellt eine Katastrophe am Horizont dar» (Contrapunto, 15.6.10).


FMLN: Wir lassen uns nicht in die Knie zwingen!

Tatsache ist, wie Sicherheitsminister Melgar sagt, dass mit dem Massaker Angst und Schrecken in der Bevölkerung verbreitet werden soll und wird. Kinder haben Angst, in den Schulbus zu steigen. Die Schulen in Mejicanos konnten erst eine Woche später wieder den normalen Betrieb aufnehmen.

Umso wichtiger vielleicht die Initiative der FMLN-Regierungen der Gemeinden im Grossraum San Salvador, gegen Angst und Psychose eine Kampfinitiative zu lancieren. Motto:Wir lassen uns nicht in die Knie zwingen! Unter diesem Motte demonstrierten in Ilopango am Samstag 1000, in Mejicanos 2000 Menschen. Ein wichtiges Zeichen: Der FMLN konfrontiert sich ab jetzt direkt mit den Kräften hinter der Gewaltspirale. Der FMLN-Bürgermeister von Mejicanos, Roger Blandino Nerio, sagte: «Wir sind hier in tiefem Schmerz wegen der Opfer. Es kann nicht sein, dass einige Gewalttäter dieses Volk in die Knie zwingen wollen.Wir können vorwärts kommen und wir müssen mit dieser Verpflichtung von hier weggehen».

Das ist aus zweierlei Gründen sehr wichtig: Wer ohnmächtig einer Situation ausgesetzt ist, in der selbst das Besteigen eines Busses nunmehr mit der Angst erfolgt, dafür lebendig verbannt zu werden, muss darunter schwer leiden. Und lässt sich dann eventuell einfacher instrumentalisieren für Pläne der Herren des Terrors. Kollektiv den Kampf gegen Lähmung und Angst aufzunehmen, kann eine Art sozialen Heilungsprozess einleiten. Zum anderen kann nur der Aufbau einer Bewegung gerade in den Unterklassenquartieren die Tür zu einer Alternative zur Maramitgliedschaft öffnen. Und auch jene Informationen an den Tag befördern, welche die (minoritären) nicht-korrupten Teile der Polizei brauchen, um dem alltäglichen Terror zu begegnen.

Sonst verstärkt sich die Militarisierungsmisere. Es ist bekannt, dass das Offizierskorps nach wie vor mit den alten Seilschaften aus dem Krieg kommuniziert und im Dienste des Pentagons steht. Klar ist auch, dass es dereinst extrem schwer fallen wird, die Geister der Militarisierung wieder in die Flasche zurückzuholen. Aber auch, dass heute jede/r BusfahrerIn in El Salvador erleichtert sein wird, wenn im Bus schwer bewaffnete PNC-Uniformierte mitfahren oder Chauffeure und Passagiere einer Schnellkontrolle unterzogen werden und an jeder belebten Haltestelle Uniformierte stehen.


*


Die Maras, die Mafias und die Ausbeutung

Das Wiener United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) veröffentlichte in seinem jüngsten Bericht vom Juni (The Globalisation of Crime) Interessantes:

«Das nördliche Dreieck von Zentralamerika [Guatemala, Honduras, El Salvador] weist von allen Regionen auf der Welt die höchste Mordrate und sehr hohe Raten an anderen Formen von Gewaltverbrechen auf. Es hat auch politische Gewalt erfahren und zuweilen kann die Unterscheidung in kriminelle und politische Gewalt nur schwer fassbar sein. Strassenbanden scheinen eher ein Symptom als eine treibende Kraft dieser zugrunde liegenden Gewalt zu sein» (S. 240).

Eine Seite zuvor wird auf den zunehmenden Transport von Kokain durch Zentralamerika eingegangen:

«Für die meisten Gewaltformen in der Region wird die Schuld oft zwei Strassenbandenföderationen zugeschrieben. Aber es gibt wenig Anhaltspunkte dafür, dass diese Gruppen, die aus Strassenjugendlichen bestehen, die intensiv auf Themen ihrer Nachbarschaft ausgerichtet sind, gross in transnationalen Drogengrosshandel engagiert sind».

Allerdings zirkulieren in El Salvador Aussagen über eine straff hierarchisierte Struktur der Maragruppen: nicht mehr als 25 schwerreiche Bosse, 200 Stellvertreter, 2000-3000 Auftragskiller und Erpresser und 20 bis 30 tausend Mareros, meist Jugendliche ab 14 Jahren, die über Kleingewaltakte in die Struktur eingebunden werden. Diese erst in den letzten Jahren so gestraffte Struktur verrichte die Dreckarbeit für die so genannte Organisierte Kriminalität, vom Drogenhandel bis zum Organdeal.

Soziales «Schmiermittel» an der Basis dieser Struktur: die paar Dollars, die so auch für die Tausenden von Unterklassenfamilien anfallen, die, ihre Kleinsthütten, so sie denn eine haben, mit Schulden belastet haben. Eine linke Regierung kann dem nur mit einer Doppelstrategie entgegenwirken: Aufbrechen der Führungsstruktur und langfristig die prekäre soziale und wirtschaftliche Situation der Tausenden von Familien durch strukturelle Veränderungen verbessern, um ihre Abhängigkeit vom kriminellen Kreislauf zu durchbrechen.

Wir haben es mit einem «schmutzigen Sozialkrieg» zu tun. Erpressungsgelder ziehen die Maras fast ausschliesslich bei den Unterklassen ein und bei den Busunternehmen, bei denen nicht die Besitzer die Toten stellen, sondern die Fahrer und Cobradores. Terror gegen die Armen, jene 80 Prozent, die im Bus unterwegs sind, ausgeführt von jugendlichen Armen, aber gelenkt von Kartellen, die den immer eindringlicheren Mahnungen von Präsident Funes zu Folge tief in die Strukturen der Staatsanwaltschaft, der Justiz, der Polizei und (man staunt) des Privatsektors Eingang gefunden haben. Eine fast perfekte Strategie des Chaos gegen den ersehnten Cambio, im Einklang mit den Prognosen des US National Intelligence Council über die «Gescheiterten Staaten in Zentralamerika». Dem steht eine beinahe stoische Überzeugung der Frentebevölkerung entgegen, fast einer Million, dass dieses Volk sich nicht unterkriegen lassen will und dass niemand dachte, dass es einfach sein würde, wenn eine ehemalige Guerillaorganisation mit an die Regierung kommt. Nicht zufällig sind unter der neuen Regierung mehr korrupte Elemente der Polizei aufgeflogen als in den 20 Jahren zuvor. Möglich, dass sich bei einer klugen und mutigen Politik des FMLN die Strategen der Spannung verrechnen. Denn ihr Feind ist nicht einfach nur die ehemalige Guerilla, sondern etwa jene Abertausenden von Hausangstellten, Gärtnern, Chauffeuren oder selbst viele der miserabel bezahlten Angestellten von privaten Sicherheitsunternehmen, die jetzt erstmals einen garantierten Mindestlohn und Anrecht auf Vollversorgung im Gesundheitssystem haben, als ob sie Bankangestellte wären....

«Es geht nur langsam vorwärts, aber es geht vorwärts, denn die von ARENA sind hartnäckig», sagte vor wenigen Tagen ein Taxifahrer, dessen Klapperkiste noch immer kein billigeres Benzin kriegt, weshalb er doch vor einem Jahr zu den Roten rüber geschwenkt war. «Aber ich bleibe beim Frente und bei Funes, insgesamt kann ich ihnen viel mehr glauben. Heute erhalte ich die Schuluniformen für die Kinder, das hat es noch nie gegeben».


*


Geheimdienstlich «Organisierte Kriminalität»

Wie zur Illustration der in diesem Artikel thematisierten Verbindungen zwischen «Organisierter Kriminalität», imperialistischen Destabilisierungsplänen und Geheimdienst Machenschaften kam es am 2. Juli zur Aufsehen erregenden Verhaftung des Salvadorianers Francisco Chávez Abarca im internationalen Flughafen von Caracas. Die venezolanischen Behörden verdächtigten Abarca eines Planes, im Hinblick auf die Parlamentswahlen vom kommenden September mit Sabotageplänen eingereist zu sein. Vor laufender Kamera schien der Mann das zu bestätigen, als er auf die Frage, was er denn hier vorgehabt habe, meinte: «Nun, Pneus auf der Strasse zu verbrennen, oder eine politische Partei angreifen, um es einer anderen anzulasten» (Faro, 7.7.10). Also rechte Selbstattentate zu organisieren, die dann den Chavistas zugeschrieben werden sollen.

Möglicherweise ist dies aber noch eine harmlose Schutzbehauptung. Denn Abarca fiel 1997/98 mit einer anderen Aktivität auf, in Kuba, wohin ihn die venezolanischen Behörden aufgrund eines Interpol-Haftbefehls auch überstellt haben. Damals fungierte der Salvadorianer als rechte Hand des «berüchtigsten Terroristen» im Kontinent, von Luis Posada Carriles. Der früher offiziell für die CIA arbeitende Miami-Kubaner hatte eine Reihe von Anschlägen auf kubanische Ziele organisiert, darunter 1976 den Bombenanschlag auf einen Linienflug der Cubana de Aviación, dem alle 73 an Bord befindlichen Menschen zum Opfer fielen. In einer Interview-Serie mit Anne Louise Bardach und Larry Rohter von der Ney York Times gab Posada Carriles diese Tat 1998 auch stolz zu. In den 80er Jahren arbeitete Posada für die CIA auf dem salvadorianischen Kriegsflughafen von Ilopango mit an dem, was als Contragate berüchtigt wurde: Die CIA lieferte den nicaraguanischen Contrasöldnern klandestin Waffen, die sie aus dem Erlös der über Ilopango in die USA geflogenen Kokainlieferungen des kolumbianischen Grossdealers Pablo Escobar finanzierte. 1997/98 kam es in Kuba zu mehreren von Posada Carries befehligten und von Chávez Abarca organisierten Bombenanschlägen, bei denen ein italienischer Tourist starb. 2000 wurde Posada Carriles in Panama aufgrund kubanischer Geheimdienstinfos verhaftet, als er einen Anschlag auf den zu Besuch erwarteten Fidel Castro am Vorbereiten war. Die rechte Präsidentin Moscoso liess ihn laufen, er kehrte mit falschem Pass in die USA zurück, wo ihn die Administrationen Bush und Obama seither, abgesehen von einem läppischen Verfahren wegen ... Visavergehen, schützten und schützen.

Mehrere salvadorianische und guatemaltekische MittäterInnen bei den Anschlägen von 1997 sind den kubanischen Sicherheitsorganen in die Hände gelaufen. Ihre detaillierten Aussagen vor Gericht bestätigten nicht nur Informationen über das Posada-Netzwerk, Teil der berüchtigten Cuban-American National Foundation, und die Rolle von Chávez Abarca als rechte Hand von Posada, sondern auch dessen jahrelangen, von den ARENA-Regierungen protegierten Operationen auch in den 90er Jahren in El Salvador. Abarca lernte Posada über seinen Vater kennen, der in den 80er Jahren Waffen, welche die salvadorianische Armee von der Guerilla erbeutet hatte, auf- und an Posada für die Contras weiter verkaufte.

Im September 2005 hatte die salvadorianische Polizei Abarca als Kopf einer grossen, international agierenden Autodiebstahlbande zusammen mit 22 anderen Mitglieder seiner Organisation verhaftet. 2007 wurden Abarca & Co. dank der Vorarbeit der nicht-ermittelnden Staatsanwaltschaft laufen gelassen. Die Bombenanschläge oder die Verbindung der Autdiebstahlbande mit Posada waren der salvadorianischen Justiz keine Silbe wert.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Mejicanos, am 22. Juni vor dem Eindunklen: Menschenleere Strassen, wo sonst um diese Zeit emsiges Treiben herrscht. Die Leute haben Angst vor neuen Gewalttaten.Quelle: El Faro.
San Salvador, Juni 2010: Armee kontrolliert angebliche Mara-Verdächtige.Quelle: El Faro.
San Salvador, 3ra Avenida Sur: Informeller Markt im Zentrum.
Polizeikontrolle in einem Bus. Die Männer müssen aussteigen und sich einer genauen Untersuchung unterziehen, die Frauen müssen nur ihre Taschen zeigen.Quelle: El Faro.
Mejicanos, 26. Juni: Auch Schulklassen demonstrieren gegen den Terror. Quelle: Co-Latino.

*


Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 162, 16. Juli 2010, S. 10-14
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
Tel.: 0041-(0)44/271 57 30
E-Mail: zas11@sunrise.ch

Correos erscheint viermal jährlich.
Abonnement: 45,-- CHF


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2010