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CORREOS/107: Brasilien - Das Volk besitzt Selbstvertrauen


Correos des las Américas - Nr. 163, 13. September 2010

Das Volk besitzt Selbstvertrauen

Einblick in das Denken revolutionärer Kader in Brasilien. Die kommenden Wahlen wird der PT gewinnen. Dank Wirtschaftsboom und Ölförderung im Meer wird es neue Arbeitsplätze geben, damit steigt die Kampflust der ArbeiterInnen. Optimistische Positionen, zwischen Produktivismus und strategischer Neuausrichtung der Landkämpfe.

Dieter Drüssel interviewt Rubens Paolucci


DIETER DRÜSSEL: Wer seid ihr, was ist CEPIS?

RUBENS PAOLUCCI: Wir gründeten das CEPIS (Centro de Educação Popular) 1977, seine Hauptarbeit besteht in der politischen Schulung der Volksbewegungen, der BäuerInnen, der Gewerkschaften. Wir schulen die AktivistInnen, die Kader. Wir arbeiten auf zwei Ebenen: Die eine nennen wir «politische Beratung»; da geht es darum, zu helfen, Taktiken und Strategien der Volksbewegung zu denken. Die andere Ebene ist die wissenschaftliche, also die politisch-ideologische Schulung, ebenfalls in den Sozialbewegungen. An beiden Kampfabschnitten gibt es natürlich eine lateinamerikanische Artikulation, für uns ist die Allianz mit verschiedenen Kräften in Lateinamerika fundamental. Das machen wir seit 35 Jahren - politische Schulung.

DIETER DRÜSSEL: Ihr seid also unter der Diktatur entstanden?

RUBENS PAOLUCCI: Ja. Wir hatten damals eine Frage zu beantworten. Der Putsch fand 1964 statt; es gab dann den Volkswiderstand, den bewaffneten Kampf - und wir wurden besiegt. Wir mussten uns fragen: Was ist die Hauptaufgabe, warum hat das Volk damals den bewaffneten Kampf nicht unterstützt? Und wir kamen zum Schluss, dass es an politischer Schulung gefehlt hatte. 1977 bestand die Hauptaufgabe darin, gegen die Diktatur die Volksbewegung neu zu formieren und zu starten. Heute besteht unsere Hauptaufgabe darin, bei der politischen, ideologischen Qualifizierung mit zu helfen. Immer noch für das Ziel der Revolution und des Sozialismus.

DIETER DRÜSSEL: Und damit zur Aktualität! Wie sieht denn die Situation einen Monat vor den Wahlen aus?

RUBENS PAOLUCCI: Die Rechte ist sehr nervös. Sie weiss, dass Dilma Roussef, die Kandidatin des Partido dos Trabalhadores (PT, ArbeiterInnenpartei), im ersten Durchgang gewinnen kann, und zwar fast mit doppelt so viel Stimmen wie der Kandidat der Rechten, José Serra. Deshalb haben sie jetzt angefangen, Skandale zu produzieren, um Dilma Roussef angreifen zu können. Eine schäbige Taktik. Aber das ist mehr Ausdruck ihrer Mutlosigkeit. Sie wissen, dass sie auf eine politische Niederlage zusteuern.

DIETER DRÜSSEL: Nun prallen zur Regierung Lula die Meinungen in der Linken ja aufeinander. Die einen betonen, dass unter Lula Millionen Leute aus der Armut befreit wurden oder weisen auf die brasilianische Position gegen den Putsch in Honduras hin. Die andern heben etwa hervor, dass Lula die Landwirtschaft an Monsanto ausgeliefert hat. Kommt es wirklich darauf an, wer diese Wahlen gewinnt?

RUBENS PAOLUCCI: Ein Sieg von Dilma Roussef würde bedeuten, dass es uns gelungen wäre, den ganzen neoliberalen Sektor zu schlagen. Das wäre sehr wichtig. Der zweite wichtige Faktor eines PT-Sieges hängt damit zusammen, dass die politische Debatte grundlegend verändert ist. Sie dreht sich um die Wirtschaft, um das Projekt für die Nation, um die Entwicklung. Im Zentrum steht heute die ganze Frage der Entwicklungspolitik. Das ist gut. Die Wirtschaft ist natürlich für die Zukunft des Landes von grosser Bedeutung. Damit du dir eine Vorstellung machst: In den letzten drei Monaten ist die Wirtschaft um acht Prozent gewachsen.

Das erlaubt dir, die Debatte zu verändern. Die Volksbewegung, die Gewerkschaften lassen damit die Defensive der 1980er und -90er Jahre hinter sich. Mit den Arbeitsplätzen kommt der Kampf für mehr Rechte, für einen besseren Lohn ... Das Klima der politischen Debatte hat sich geändert. Nach einer neoliberalen Phase können wir die Debatte darüber beginnen, was für eine Entwicklung wir wollen, was für ein Wirtschaftswachstum, was für eine nationale Ökonomie - ein Thema, das bisher nicht diskutiert wurde. Wie sollen wir die Wirtschaft von Brasilien denken, von einem Land, das zu den vier, fünf führenden Mächten der Zukunft gehören wird?

DIETER DRÜSSEL: Also du siehst voll die Möglichkeit, dass diese Debatte jetzt geführt werden wird?

RUBENS PAOLUCCI: Ja. Diese Auseinandersetzung kommt. Denn die Ärmsten verändern ganz konkret ihre Lebensbedingungen. Und das erhält jetzt mit den neuen Ölfunden im Meer eine neue Dimension. Denn damit ist reales Geld für die Projekte vorhanden. Ich rede von den nächsten zehn Jahren. Der Wirtschaft geht es sehr gut. Wir haben Fabriken, wir haben Energie und wir haben Grossanlässe wie die WM. Das heisst, da wird viel gebaut werden, das gibt viele Arbeitsplätze. Das Volk ist voller Unternehmenslust und besitzt Selbstvertrauen. Von der Volksbewegung her haben wir Ziele, und da es Ressourcen gibt, wird die Kampflust der Leute steigen. Das Volk, die Werktätigen, die ArbeiterInnen haben die Möglichkeit, Siege zu erringen.

DIETER DRÜSSEL: Und du meinst, die Regierung von Dilma Roussef wird eine gewisse Sensibilität für diesen Druck von unten zeigen?

RUBENS PAOLUCCI: Ich denke schon. Es ist eine Sache, mit Lula zu verhandeln, eine andere, mit ihr.

DIETER DRÜSSEL: Warum?

RUBENS PAOLUCCI: Wegen der ganzen Aura von «Unantastbarkeit», die Lula mit seiner Biographie umgibt. Und weil die Rechte in diesen letzten acht Jahren stärker war. Wir konnten Lula nicht stark angreifen, weil das Wasser auf die Mühlen der Rechten gewesen wäre. Diese Phase aber ist überwunden, wir treten in eine neue Etappe ein.

Nun, die Medien hier sind eng mit dem neoliberalen Block verbunden. Sie merken, dass die Popularität von Lula wächst, sie können das nicht verhindern. Dilma wird hauptsächlich wegen zwei Faktoren gewinnen: wegen der Wirtschaft und der Popularität von Lula. Die Medien haben die ganze Zeit versucht, die Kandidatin von der Figur von Lula abzulösen, doch vergebens. Dieser ganze konservative Block wird auf der Parteiebene eine tief gehende Umwandlung erfahren. Und das wird auch den Parteien der radikalen Linken blühen.

DIETER DRÜSSEL: Du beziehst dich auf den PSOL und auf wen sonst noch?

RUBENS PAOLUCCI: Es gibt zwei linke Parteien, den PT und dann noch den Partido Comunista do Brasil. Der PSOL und die trotzkistische Arbeiterpartei gehen einer Niederlage entgegen. Sie werden sehr wenige Stimmen machen. Die Linke wird sich neu formieren müssen.

DIETER DRÜSSEL: Ist die KP stark?

RUBENS PAOLUCCI: Die stärkste Linkspartei ist eindeutig der PT. Er wird im Parlament und bei den Gouverneurswahlen zulegen. Aber auch die KP wird etwas wachsen.

DIETER DRÜSSEL: Steht die KP links vom PT?

RUBENS PAOLUCCI: Dem Diskurs nach scheint es so. In der Praxis sind sie an die politische und die Wahlstrategie des PT angekoppelt. Sie haben die gleiche Strategie. Die anderen Linksparteien werden nicht einen Abgeordnetensitz holen. Auch sie werden sich neu positionieren müssen.

Insgesamt also ist das Bild positiv. Der Kampf der Werktätigen, der ArbeiterInnen, wird zunehmen. Letztes Jahr gab es insgesamt etwa 300 Streiks. Früher sind die Staatsangestellten auf die Strasse gegangen. Und jetzt hast du ArbeiterInnen auf der Strasse, die ihre Löhne und ihre Rechte verteidigen.

DIETER DRÜSSEL: Spitze!

RUBENS PAOLUCCI: Einen Eindruck vermittelt etwa der Umstand, dass die Zahl der Gewerkschaften, die sich in CEPIS politisch schulen lassen, stark zugenommen hat. Die Leute wollen lernen, sich politisch schulen. Sie wissen, dass die Periode Lula sich nicht dafür eignete, grosse Sprünge zu machen, die Kämpfe rasant zu entwickeln. Da ging es mehr um konkrete Einzelschritte. Auf diesem Gebiet ist die Situation gut. Delikater ist die Lage für die GenossInnen auf dem Land.

DIETER DRÜSSEL: In welchem Sinn?

RUBENS PAOLUCCI: Im Sinn, dass sich der Feind geändert hat. Der Hauptfeind des MST (Movimento Dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, Landlosenbewegung) war der Grossgrundbesitz. Jetzt müssen sie und die BäuerInnen die Multis bekämpfen. Sie müssen eine neue Strategie, ein neues Programm entwickeln. Landbesetzungen reichen nicht mehr.

DIETER DRÜSSEL: Gibt es eine gemeinsame Diskussion zwischen den städtischen und den ruralen Bewegungen über die Perspektiven nach den Wahlen?

RUBENS PAOLUCCI: Die Leute der urbanen Bewegungen, also die ArbeiterInnengewerkschaften und so weiter, kommen gut voran. Das MST, die bäuerischen Gewerkschaften, andere Landorganisationen müssen ihre Kampfformen überdenken. Das Thema der Agrarreform muss jetzt verbunden werden mit dem Thema der Befähigung zur Lebensmittelproduktion. Nicht einfach Biodiesel, Zuckerrohr, Ethanol. Es gilt, den politischen Moment zu nutzen, um die Nahrungsmittelproduktion ins Zentrum der Debatte zu stellen. Es gibt ja schon einen Kampf gegen die Agrogifte; der muss jetzt zur nationalen Kampagne ausgeweitet werden. Die sind natürlich die Basis für die Produktion von Agrodiesel. Kurz, die Landbewegung muss ihre Strategie und Taktik ändern, denn der Feind ist nicht mehr nur der traditionelle Staat des Grossgrundbesitzes. Sie muss mit den Multis kämpfen, die von der Regierung unterstützt werden.

Nun, wenn die ArbeiterInnen ihren Kampf führen, hilft das natürlich der bäuerischen Bewegung viel, sehr viel. Es geht dabei natürlich um die ganze Debatte über die Allianz ArbeiterInnen/BäuerInnen.

DIETER DRÜSSEL: Wie gross ist eigentlich der Bevölkerungsteil in der Landwirtschaft?

RUBENS PAOLUCCI: Ungefähr 18 Prozent. Die Mehrheit der Leute lebt in den Städten. Die Mehrheit unserer ArbeiterInnen ist im Dienstleistungssektor. Auf dem Land liegt der Anteil der Erwerbsbevölkerung bei 18 Prozent. Wie bei den IndustriearbeiterInnen. Deren Anteil kann jetzt aber mit dem Wirtschaftsaufschwung zunehmen. In der kommenden Periode werden Strassen gebaut werden, Flughäfen, Häfen. Wir müssen die ganze Infrastruktur, sowohl für das Kapital wie für die internationalen Anlässe, aufbauen. Dafür ist Geld vorhanden, deshalb werden viele Arbeitsplätze entstehen.

DIETER DRÜSSEL: Das wird kritisch werden. Denn mit einer WM werden ja stets die Unterklassenquartiere der betroffenen Städte aufgemischt.

RUBENS PAOLUCCI: Genau. Da geht es dann um Wohnungen, um Wohnungsbau, um entsprechende Arbeitsplätze. Ein Projekt der Regierung Dilma für die nächste Periode besteht in der Qualifizierung der Arbeit. Wir haben die Infrastruktur, aber es fehlt uns an ausgebildeten Arbeitskräften. Für die nächste Periode existiert ein grosses Projekt der Erziehungsreform. Ein Teil besteht in der professionellen, technischen Qualifizierung, ArbeiterInnenuniversitäten ... Das alles hängt mit einem entscheidenden Faktor zusammen: Der Staat hat seine Fähigkeit, als ökonomischer Akteur zu handeln, wieder erlangt. Mit dieser professionellen Weiterbildung gibt es neue Arbeitsplätze, mit neuen Arbeitsplätzen wächst der Kampf der ArbeiterInnen.

DIETER DRÜSSEL: Mir war diese Perspektive bisher nicht klar. Ist ja spannend!

RUBENS PAOLUCCI: Und gut! Um nochmals auf die Wahlen zu kommen: Ein Teil der Rechten hat faktisch die Präsidentschaftswahlen aufgegeben und konzentriert sich jetzt darauf, einige Provinzen zu gewinnen, Sitze im Parlament ... Das motiviert natürlich. Klar, auf uns kommen grosse politische Herausforderungen zu, wir haben grosse Widersprüche. Aber der Moment ist sehr günstig. Und das macht ihn auch zu einem positiven Teil für ganz Lateinamerika, nicht?


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 163, 13. September 2010, S. 16-17
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Oktober 2010