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CORREOS/117: Kolumbien - Die unerträgliche Gewalt der Herrschenden


Correos des las Américas - Nr. 164, 9. Dezember 2010

Die unerträgliche Gewalt der Herrschenden

Die internationale Propaganda hat mit dem neuen kolumbianischen Präsidenten Santos einen neuen Strahlemann gefunden. Doch da gibt es Leute wie die «Mütter von Soacha». Sie zwingen uns, hinter den Schein zu blicken.

Von Leonardo Mendoza


Soacha liegt am südwestlichen Rand der Hauptstadt Bogotá. Wie viele andere Siedlungen rund um die grossen Städte ist es in den letzten Jahren rasant und chaotisch gewachsen. Viele seiner BewohnerInnen stammen vom Land, vertrieben von bewaffneten Gruppen im Dienst der Dogenhändler und Grossgrundbesitzer. Im Zentralpark dieser Stadt versammeln sich jede Woche Frauen, um Gerechtigkeit für ihre verschwundenen und ermordeten Söhne zu verlangen. Das Leben dieser Mütter veränderte sich Anfang 2008, als elf junge Männer, einige von ihnen noch minderjährig, aus verschiedenen Quartieren von Soacha verschwanden.

Angesichts dieses unerklärlichen Verschwindens begannen die Angehörigen, in Spitälern, Kliniken, Leichenhallen, Friedhöfen zu suchen, auch über Radio und Fernsehen. Acht Monate lang ohne Ergebnis, bis Luz María Bernal, Mutter des verschwundenen Fair Leonardo Porras, die Nachricht erhielt, die Leiche ihres Sohnes sei in der 400 km von Soacha entfernten Stadt Ocaña gefunden worden. Er lag als «NN» («unbekannt») in einem Gemeinschaftsgrab begraben. Laut offiziellem Armeereport war er als ein Chef der aufständischen FARC in einem Kampf gefallen. Tatsächlich war Leonardo Fair Porras geistig behindert gewesen, sein Verhalten hatte trotz seiner 26 Jahre dem eines Achtjährigen entsprochen. In einem anderen Grab in der Nähe wurde die Leiche von Jaime Estiven Valencia gefunden. Der 16-Jährige war zur gleichen Zeit wie Fair Leonardo aus einem anderen Quartier von Soacha verschwunden. Er war an seiner rechten Hand behindert, die er nicht benutzen konnte, dennoch hielt er mit ihr, dem offiziellen Armeebericht zufolge, die Waffe, aus der auf die Soldaten geschossen haben soll. Auch die anderen neuen Verschwundenen wurden gefunden, alle in Gemeinschaftsgräber, alle unter «im Kampf gefallene Guerilleros» eingeordnet, ihre Körper voller Schusswunden, während die Uniformen, die man ihnen übergezogen hatte, unbeschädigt und sauber waren.

Die Vorkommnisse von Soacha stehen für das, was Tausende von Amutsjugendlichen erlebt haben, deren Wunsch nach Arbeit mit dem Tod beantwortet wurde. Der Fall der Verschwundenen ist nur die Spitze des Eisberges. Sie enthüllte eine kriminelle Praxis der Streitkräfte unter dem Befehl des damaligen Verteidigungsministers und heutigen Staatspräsidenten, Juan Manuel Santos. Im kolumbianischen Militärslang steht «positivos» für vom «Feind» erlittene Verluste, die mit Beförderungen und Prämien für die betreffende Truppe verbunden sind. Die Praxis, Leute (meist mit physischen oder psychischen Behinderungen) unter Vorspiegelung falscher Tatsachen weg zu locken, umzubringen und sie anschliessend unter «gefallene Terroristen» zu führen, ist in Kolumbien als jene der falsos positivos bekannt.

Bis heute sind 3.183 Fälle von falsos positivos bekannt. 27 Militärs sind deswegen abgesetzt, aber nicht verurteilt worden. Der Modus operandi bei den falsos positivos ist nach und nach von angeschuldigten Soldaten enthüllt worden: Mittellose Personen werden in den Städten mit Arbeitsangeboten in entlegenen Zonen rekrutiert, wo sie ermordet werden. In anderen Fällen «schenken» Narcos und Paras die Toten einfach den Militärs, damit diese die Prämie einstreichen können. Dieses Vorgehen der Armee ist keine Abnormalität, sondern entspricht dem Verständnis eines Staates, der jedes oppositionelle oder schlicht nicht funktionale Subjekt als zu liquidierenden Feind begreift. Nun ist auch der kolumbianische Staat wie die anderen Staaten nicht unpersönlich, seine Politik vertritt die Interessen eines Konglomerates von Gruppen, welche die ökonomische Macht innehaben und von der Staatsleitung profitieren.

Präsident Santos, der traditionellen Oligarchie entstammend, setzt gegenwärtig die Sicherheitspolitik um, die er für seinen Vorgänger Álvaro Uribe Vélez mit entwickelte, einen Vertreter der mafiösen Bourgeoisie und Symbol für die Wichtigkeit, welche die Drogenkartelle für die herrschende Klasse gewonnen haben. Unter Uribe hat Santos etwa das Ministerialdekret 029 erlassen über «Belohungszahlungen für die Gefangennahme oder das Töten im Kampf von Anführern der ausserhalb des Gesetzes stehenden bewaffneten Organisationen, für Kriegsmaterial und Informationen [...], die als Grundlage für weitere geheimdienstliche Arbeiten und nachfolgende Operationsplanungen dienen». Diese von Santos firmierte Direktive legt die Zahlung von Geldern fest, die von 5 Mio. Pesos ($2.5 Mio.) für die führenden Chefs bis zu 3,8 Mio. Pesos ($1.900) für einfache Mitglieder der Guerilla gehen.

Mit diesen und anderen Direktiven verlor das Leben an Wert, es erhielt einen Preis und der Tod einen Gewinn. Von nun an mass sich der Erfolg dieser kriminellen Politik der «demokratischen Sicherheit» an der Anzahl von Leichen. Vom Moment der Verkündigung der Direktive an füllten sich die Medien mit Toten, die von den Militärs fast alle als «Finanzchefs», «rechte Hand» dieses oder jenes Chefs, oder, im Fall von Frauen, als «Geliebte» von X oder Y ausgegeben wurden. Einige Chefs der Paramilitärs gaben vor Gericht zu, der Armee Tausende von Ermordeten übergeben zu haben, damit die Soldaten die Prämie erhielten. Dies diente der falschen Behauptung vom Erfolg des antisubversiven Kampfes und vom Ende der Guerilla.

Für diese Verbrechen wurden 46 Militärs angezeigt. Im Januar 2010 wurden alle wegen Ablauf der Fristen freigesprochen. Die Menschenrechtsabteilung des Verteidigungsministeriums, das damals vom heutigen Präsidenten geleitet wurde, organisierte für sie ein Wiedergutmachungsfest mit Clowns, Psychotherapien, gutem Essen und viel Schnaps, als ob es etwas zu feiern gegeben hätte. Die Mütter von Soacha hingegen sind schon Ziel von Drohungen und Angriffen auf ihr Leben geworden.


Das grösste Massengrab in Lateinamerika

La Macarena im Department Meta liegt nicht sehr weit von Bogotá entfernt. Seit den 50er Jahren war die Kommunistische Partei dort stark, denn die Gegend diente als Zuflucht für aus anderen Einflussgebieten Vertriebene. Sie gehörte zu den während des Friedensdialogs von Caguán (1998-2002) entmilitarisierten und von den FARC-EP mitregierten Gemeinden. Nach der Abschaffung des Dialogs entwarf die kolumbianische Armee einen Rückeroberungsplan und installierte 2005 die Eliteeinheit Omega in dieser Gemeinde. 21.000 Männer hatten nun die [kürzlich von Erfolg gekrönte] Mission, den aufständischen Führer Jorge Briceño (el Mono Jojoy) zu verfolgen.

Anfang 2010 prangerten Campesinaorganisationen und einige MenschenrechtlerInnen die Existenz eines Geheimfriedhofes in der Nähe einer in der ländlichen Zone von La Macarena installierten Militärbase an. Demzufolge würden dort Armee und Paramilitärs ihre Opfer als «NN» begraben, nach Erhalt der Regierungsprämie für «feindliche Verluste». Die kolumbianischen Medien ignorierten dies, bis im Juli eine Untersuchungskommission von europäischen und US-ParlamentarierInnen vor Ort mit der erschreckenden Tatsache von 2000 Leichen im grössten Massengrab in der Geschichte von Lateinamerika konfrontiert wurde. Vor den internationalen BesucherInnen getrauten sich die BäuerInnen, detailliert die Verbrechen der Armee und der Paras an der Bevölkerung zu schildern. Die Opfer wurden als gefallene Aufständische vorgeführt und ihre Leichen dienten der «Belehrung» aller, die der Guerilla irgendeine Hilfe zukommen liessen.


Eine mutige Frau

Die kolumbianische Regierung versuchte diese Monstrosität mit der Denunzierung der ZeugInnen als FARC-nahe Personen zu verschleiern. Bilder vom Jugoslawienkrieg würden, so das Regime, gebraucht, um die Streitkräfte anzuschwärzen. Zu den mutigsten und konsequentesten KritikerInnen dieses Massengrabes gehört die Ex-Senatorin Piedad Córdoba. Die Afrokolumbianerin war politisch in der Liberalen Partei aktiv, der auch der aktuelle Präsident angehört hat. Sie hat sich mit der Verteidigung der Rechte der schwarzen Bevölkerung und der Menschenrechte hervorgetan und mit ihrer klaren und unbeugsamen Kritik an der Beziehung zwischen den Regierenden und den Narco-Paramilitärs, weshalb extreme Rechtsgruppen sie eine Zeit lang entführt hatten.

Piedad Córdoba hatte den Mut, der Gruppe «Kolumbianer und Kolumbianerinnen für den Frieden» vorzustehen, die eine entscheidende Rolle bei der Freilassung mehrerer von den FARC-EP gefangen gehaltenen PolitikerInnen und Militärs spielte. Die Regierung legte ihr dabei viele Hindernisse in den Weg. Für die Freilassung der Gefangenen musste Piedad Córdoba notgedrungen mit der FARC-Führung kommunizieren. Als Senatorin durchkreuzte sie die Welt auf der Suche nach Unterstützung für die Freilassung der verbliebenen Gefangenen und eine politische und nicht militärische Lösung des Krieges in Kolumbien. Die kolumbianischen Machthaber verziehen ihr dies nicht und beschuldigten sie auf der Basis angeblicher Informationen «aus dem Computer» des 2008 gefallenen Guerillaleaders Raúl Reyes der Terrorismusapologie. Der katholisch-integristische und sexistische Generalstaatsanwalt beschloss, die Senatorin ihres Amtes zu entheben und sie während 18 Jahren von jeglichem öffentlichen Amt auszuschliessen.


90 Tage - 50 Morde

Repression, Gewalt und Intoleranz herrschten unter der neuen Regierung vor, die in Sachen «Sicherheit» nichts anderes als die Fortführung ihrer Vorgängerin ist. Soeben informierte die Presse, dass in den ersten 90 Tagen 50 Aktivisten der Sozialorganisationen umgebracht worden sind. Das macht uns KolumbianerInnen pessimistisch, was das Ende des Krieges betrifft, denn es wird regiert, um ihn zu alimentieren, nicht, um ihn zu beenden.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 164, 9. Dezember 2010, S. 27-28
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Februar 2011