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CORREOS/156: Kolumbien - Noch kein Frieden


Correos des las Américas - Nr. 171, 16. September 2012

KOLUMBIEN
Noch kein Frieden

Ein erster Versuch, Fakten, Desinformation und Perspektiven bei den angekündigten Friedensgesprächen zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung zu entwirren.

von José Rodríguez



«(...) und in Havanna, im revolutionären Kuba von Fidel und vom Che, unterschrieben unsere Delegierten am 27. August dieses Jahres das sogenannte Allgemeine Abkommen für die Beendigung des Konflikts und die Errichtung eines stabilen und dauerhaften Friedens. Damit wird erneut ein Dialogprozess begonnen, um in unserem Vaterland den Frieden zu erreichen. Eine noble und legitime Aspiration, welche die kolumbianischen Aufständischen schon seit einem halben Jahrhundert verteidigen (...) Es ist zehn Jahre her, dass Andrés Pastrana beschlossen hatte, seine Friedensvorschläge zum Alteisen zu legen und eine neue Etappe in der langen kolumbianischen Konfrontation zu eröffnen (...) Aber damals fiel nicht nur eine schreckliche militärische, paramilitärische, juristische, ökonomische, politische und soziale Angriffswelle über Kolumbien und sein Volk herein, die heute, wie es scheint, als vergeblich begriffen wird. Über uns fielen auch die Regimepropagandisten wie Raubvögel mit ihrem diffamierenden und vergifteten Diskurs her. Welches noch so niederträchtige Adjektiv wurde nicht gegen alle geschleudert, die eine unseren Worten nahe Position einnahmen? Mit welchem diffamierenden Stigma wurden wir nicht eingedeckt, die wir Krieg und Gewalt, von der Macht frenetisch entfesselt, entgegentraten? Welches entsetzliche Verbrechen wurde uns nicht angelastet? Aber auch diese demütigende sprachliche Erniedrigung erwies sich am Schluss als unnütz. Wir kehren an den Verhandlungstisch zurück. Anerkannt als militärische und politische Gegner, eingeladen und geschützt durch die, die uns verfolgten, begleitet von der internationalen Gemeinschaft.

Timoleón Jiménez, Comandante des Generalstabs der FARC-EP


Dieser Artikel versucht, zur Klärung der für das kolumbianische Volk freudigen Nachricht von der Unterzeichnung eines «Allgemeinen Abkommens für die Beendigung des Konflikts und die Errichtung eines stabilen und dauerhaften Friedens» durch die Regierung und die FARC-EP beizutragen. Zu betonen ist jedoch, dass diese Entwicklung noch frisch im Gang und Gegenstand von Spekulationen der offiziellen Medien ist. Aber wir wollen uns auf die offiziellen Verlautbarungen beider Seiten stützen, um zu verstehen, worum es geht. Zweifellos stellte die unvermittelte Bekanntgabe der Gespräche am 3. September nicht nur für die KolumbianerInnen, sondern auch für alle, die die lateinamerikanische Aktualität verfolgen, eine Überraschung dar. Dies wegen der intensiven militärischen Konfrontation der letzten Jahre, vor allem aber wegen des kriegerischen und fälschlicherweise triumphalistischen Diskurses, der die Regierung von Präsident Juan Manuel Santos charakterisiert hat.

Die sogennante exploratorische Phase, von den Aufständischen als «Annäherungen an einen Frieden mit sozialer Gerechtigkeit» bewertet, fand in Havanna vom 23. Februar bis 26. August statt, mit den Regierungen von Kuba und Norwegen als Garantiemächten und der logistischen Unterstützung und Begleitung durch Venezuela. Für diese Etappe hatte man Vertraulichkeit vereinbart, was von der aufständischen Organisation vollumfänglich respektiert wurde, aber nicht von der Regierung Santos, die nach und nach Aspekte der exploratorischen Phase über ihre Medien ventilierte und mit kriegerischen Kommentaren begleitete.


Kriegshetze gegen Friedenswunsch

Ein kurzer Blick auf Sprache und Tonlage der Diskurse des Präsidenten der Republik und des Comandante der FARC lässt klar erkennen, wie unterschiedlich diese Phase angegangen wird. So versichert der Präsident triumphalistisch, dass «die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt, die Militäroperationen nicht suspendiert und keine Territorien [für Verhandlungen] entmilitarisiert werden». Der FARC-Comandante hingegen zeigt Bescheidenheit und Entschlossenheit, wenn er sagt: «Für uns ist also klar, dass wir Aufständischen trotz der offiziellen Friedensbekundungen [aus der Sicht der Regierung] umzingelt zu diesem neuen Versöhnungsversuch stossen, belagert nicht nur durch den vor zehn Jahren entfesselten Militärangriff, sondern auch durch seine Verschärfung offen dazu genötigt, unsere politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen für eine miserable Kapitulation aufzugeben. Trotz dieser Signale halten die FARC-EP die aufrichtige Hoffnung aufrecht, dass das Regime nicht versucht, die Muster der Vergangenheit zu repetieren. Wir sehen einfach, dass die enormen Schwierigkeiten evident sind, mit denen sich dieses Engagement konfrontieren muss; das Erreichen eines demokratischen und gerechten Friedens verdient es, sich auch den schwierigsten Herausforderungen zu stellen. Über sie hinaus sind wir optimistisch. Wir sind überzeugt, dass die nationale Realität dem Willen der grossen Mehrheiten, die an den Frieden mit sozialer Gerechtigkeit glauben und ihn brauchen, zum Durchbruch verhelfen wird.»

Einige Abkommensinhalte überraschen. Wir können uns mangels offizieller diesbezüglicher Stellungsnahmen dazu kaum äussern. Sie haben zuvorderst mit der Form zu tun: Die FARC haben immer darauf beharrt, dass die Dialoge in Kolumbien, in entmilitarisierten Zonen stattfinden sollten, für die Sicherheit der Aufständischen, aber vor allem, um die Beteiligung der Bevölkerung zu ermöglichen. So wie vor zehn Jahren im Caguán, wo die Bevölkerung über die öffentlichen Hearings am Prozess teilnahm. Doch am 6. September versicherten die FARC über ihre Radiokette, dass «die derzeitigen Dialoge im Unterschied zu jenen des Caguán und von La Uribe im Exil beginnen. So will die Regierung Santos die reale und massenhafte Beteiligung der Volkssektoren verhindern. Jetzt stellt sich die Aufgabe, über den Volkskampf die dauerhafte Repatriierung der kolumbianischen Friedensgespräche zu erzielen und so zu erreichen, dass die Volksagenda an den Dialogtischen beachtet wird.»

Dies macht deutlich, dass die FARC-EP nicht auf ihre Prämisse verzichten, dass die kolumbianische Bevölkerung in ihrem Territorium Teil dieses Prozesses sein muss. Ein weiterer überraschender Punkt ist die Tatsache, dass in der Agenda von der «Waffenniederlegung und Wiedereingliederung der FARC-EP ins zivile Leben» die Rede ist. Doch dabei handelt es sich nicht um eine Vorbedingung des Prozesses, wie sie das Regime bisher stets gefordert hat, sondern um ein Resultat davon. Die offiziellen, staatstreuen Medien versuchen, diesen Punkt als Beleg für die Schwäche und «Kapitulation» der Guerilla zu präsentieren. Aber im schon erwähnten FARC-Communiqué vom 6. September heisst es klar: «Die beginnenden Dialoge öffnen ein Fenster der Hoffnung, solange man nicht von der falschen Voraussetzung ausgeht, dass der Frieden in der Waffenübergabe und Demobilisierung der Aufständischen besteht. ES GIBT NUR FRIEDEN, WENN ES SOZIALE GERECHTIGKEIT GIBT.»


Die Verhandlungsagenda

Einige regimenahe BeobachterInnen haben schon damit begonnen, auf die angeblichen Schwächen des Gegenübers, in diesem Fall der FARC-Guerilla, hinzuweisen, die in dieser Lesart die Friedensagenda des Caguán aufgegeben habe. Doch diese wird von den Aufständischen als Acquis für das Erreichen eines definitiven Friedens angesehen. Denn darin reflektiert sich letztlich der Punkt der FARC-Plattform über eine «pluralistische Regierung der Versöhnung und des nationalen Wiederaufbaus». Es stimmt, die Sprache der heutigen Agenda unterscheidet sich von der «Agenda von Caguán», aber im Grund werden alle Forderungen der Aufständischen gestellt. Sie sind jene der Bevölkerung und ohne sie gibt es KEINEN dauerhaften Frieden.

In der Einführung zum Allgemeinen Abkommen wird der beidseitige Entschluss, den Konflikt zu beenden, als wesentliche Bedingung für das Erreichen eines stabilen und dauerhaften Friedens festgehalten. Danach heisst es: «Das Erlangen des Friedens ist Angelegenheit der ganzen Gesellschaft, das die Teilnahme aller ohne Unterschiede bedingt; die Achtung der Menschenrechte im ganzen nationalen Territorium ist eine Pflicht, deren Einhaltung der Staat zu garantieren hat; die ökonomische Entwicklung mit sozialer Gerechtigkeit und in Harmonie mit der Umwelt ist eine Garantie für Frieden und Fortschritt. (...) Es ist wichtig, als Voraussetzung für den Aufbau einer soliden Friedensbasis die Demokratie zu erweitern.» Andere Guerillaorganisationen sind eingeladen, sich an den Verhandlungen zu beteiligen. Wir sehen also: In der Darlegung des Abkommens selbst werden die Volksziele eines Friedens mit sozialer Gerechtigkeit, soldiarischer Ökonomie, Ernährungssouveränität etc. festgehalten.

Der erste Diskussionspunkt betrifft die Agrarfrage, die weitere Reihenfolge entscheidet der Verhandlungstisch. Die Punkte beinhalten Folgendes:



1. POLITIK DER INTEGRALEN AGRARENTWICKLUNG:

Zugang zu Land, brach liegendes Land, Eigentumsformen, Infrastruktur, Sozialentwicklung, Gesundheit, Erziehung, Ausrottung der Armut, Stimulierung der landwirtschaftlichen Produktion, Kredite, Subventionen, solidarische Ökonomie, Nahrungssicherheit etc.



2. POLITISCHE BETEILIGUNG:

Rechte und Garantien für die Opposition und insbesondere für neue Bewegungen nach Friedensschluss. Demokratische Mechanismen und effektive Massnahmen für die BürgerInnenbeteiligung einschliesslich der besonders verletzbaren Bevölkerung unter gleichen Bedingungen und mit Sicherheitsgarantien.



3. KONFLIKTENDE:

Beidseitiger und definitiver Waffenstillstand, Waffenniederlegung, Revision der Situation der Gefangenen. Intensivierung der Bekämpfung der kriminellen Banden (Paramilitärs), der Korruption und der Straffreiheit durch die Regierung. Sicherheitsgarantien.



4. LÖSUNG DES DROGENPROBLEMS:

Substituierungsprogramme (für Coca) mit Plänen, an denen die Comunidades aktiv mitgearbeitet haben. Programme zur ökologischen Erholung. Lösung des Problems der Herstellung und des Handels mit Drogen.



5. OPFER:

Die Wiedergutmachung für die Opfer steht im Zentrum des Abkommens. Menschenrechte der Opfer, Wahrheit, Paramilitarimus.

Die Agenda enthält also klar alle Themen, die den Konflikt ausgelöst und alimentiert haben. Was die Reihenfolge betrifft, ist anzunehmen, dass der Punkt «Konfliktende» am Schluss kommt, jedenfalls für die FARC. Einer ihrer Sprecher hat schon gesagt: «Wir Guerillas der FARC sind Teil des kolumbianischen Volkes und wenn seine Probleme gelöst werden, werden auch unsere gelöst (...) Wir verlangen nichts für uns selbst».

Unterstreichen wir, dass die Agenda ziemlich offen ist. Die FARC-EP werden versuchen, die Dialoge zu «repatriieren» und Mechanismen der Volksbeteiligung zu entwickeln. Der Staatspräsident selbst hat gesagt: «Dieses Abkommen bedeutet weder Frieden schon jetzt noch ist es ein definitives Abkommen; es gibt die Route an, um zu einem Abkommen zu gelangen.»

Die Parteien haben schon ihre VertreterInnen am Verhandlungstisch ernannt. Hervorzuheben ist, dass die FARC-EP Simón Trinidad zum Mitglied ihrer Delegation ernannten, der in die USA ausgeliefert worden ist und dort im Gefängnis sitzt. Die Verhandlungen werden am kommenden 8. Oktober in Oslo (Norwegen) eröffnet und danach nach Havanna (Kuba) verlegt.

Hoffen wir, dass dieses Mal der Frieden Wirklichkeit wird und es nicht zu einer neuen Frustration für eine Bevölkerung kommt, die mehr als 60 Jahre Bürgerkrieg kennt.


Bildunterschrift einer im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
Als erste Ankündigung der Friedensgespräche stellten die FARC ein Rap-Video von einigen ihrer Militanten ins Netz.

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 171, 16. September 2012, S. 10-11
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
Tel.: 0041-(0)44/271 57 30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2012