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DAS BLÄTTCHEN/1058: Die soziale Mauer


Das Blättchen - Nr. 19 vom 27. September 2010
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft

Die soziale Mauer

Von Jürgen Fenn


Zwanzig Jahre nach dem 3. Oktober 1990 ist auch der deutsche Sozialstaat nicht mehr wiederzuerkennen. Gewiß, sogenannte Reformen gab es schon vorher, und immer mehr liefen sie schon damals aufs Sparen hinaus, auf die Rücknahme von Sozialleistungen oder auf deren gänzlichen Abbau. Mit dem Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten begann trotz allem aber eine neue Phase von Sozialreformen, denen ein völliger Paradigmenwechsel zugrundeliegt und die zu einer Umgestaltung des Sozialstaats geführt haben, die in ihrem Vorfeld nicht ohne weiteres absehbar gewesen ist. Einige Punkte mögen das im folgenden veranschaulichen.

1. Nicht nur die politischen Parteien und die westdeutschen Konzerne steckten ab 1989/1990 ihre Claims in Ostdeutschland ab, auch die westdeutschen Sozialversicherungsträger "erstreckten ihre Zuständigkeit" auf das "Beitrittsgebiet", wie es im Einigungsvertrag hieß. Seitdem bedienten sie nicht nur die Ansprüche ihrer bisherigen Mitglieder, sondern darüber hinaus auch die laufenden Sozialleistungsansprüche der ehemaligen DDR-Bürger. Überwiegend waren es Bestandslasten, die aus Versicherungsfällen zu DDR-Zeiten herrührten, und der genaue Umfang dieser Lasten ist bis heute unbekannt, weil er in keiner Statistik je ausgewiesen worden wäre. Diese (aus westlicher Sicht nicht zufällig etwas lästig klingend so genannten) "Altlasten Ost" oder "DDR-Altlasten" mußten mit Transfers aus dem Westen erbracht werden. Bundeskanzler Helmut Kohl setzte sich damals gegen den Sozialminister Norbert Blüm durch und sorgte persönlich dafür, daß diese Lasten aus Sozialversicherungsbeiträgen aufzubringen waren. Man war sich damals auch unter Juristen darüber einig, daß es keinen Rechtsgrund gebe, aus dem heraus die Sozialversicherungsträger für diese Lasten einen Ausgleich aus Steuermitteln hätten verlangen können. Erst heute ist man sich weitgehend darüber einig, daß der Verzicht auf einen solchen Ausgleich und die faktische Finanzierung eines beträchtlichen Teils der deutschen Vereinigung über Sozialversicherungsbeiträge zu erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen geführt hat, die bis in die Gegenwart fortwirken. Franz-Xaver Kaufmann hatte schon 1997 darauf hingewiesen, daß ein Gutteil der darauffolgenden sozialpolitischen Diskussion in Deutschland sich letztlich um die Verteilung der vereinigungsbedingten Lasten gedreht habe.

2. Die Arbeitsförderung wurde mit Beginn des Jahres 1998 neu geregelt. An die Stelle des Arbeitsförderungsgesetzes von 1969 trat das Sozialgesetzbuch III, und anders als in anderen Zweigen des Sozialrechts, in denen der Gesetzgeber das Prinzip der "begrenzten Sachreform" bei der Eingliederung des Sozialrechts in das Sozialgesetzbuch walten ließ, kam es hier zu tiefgreifenden Reformen, die nicht nur dazu führten, daß die Arbeitslosen bis heute von der "Arbeitsagentur", die bis dahin Arbeitsamt hieß, als "Kunden" bezeichnet werden. Denn auch die ganze Zielsetzung der Arbeitsförderung selbst wurde geändert. Während § 1 AFG noch bestimmte, ein "hoher Beschäftigungsstand" solle "erzielt und aufrechterhalten, die Beschäftigungsstruktur" solle "ständig verbessert und damit das Wachstum der Wirtschaft gefördert werden", bestimmte von nun an § 1 SGB III: "Die Arbeitsförderung soll dem Entstehen von Arbeitslosigkeit entgegenwirken, die Dauer der Arbeitslosigkeit verkürzen und den Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt unterstützen." Der "hohe Beschäftigungsstand" taucht hier erst im darauffolgenden vierten Satz der Norm auf. Das waren keine rein kosmetischen Veränderungen, sondern es ging hierbei um einen ersten Paradigmenwechsel, der das Sozialrecht und die Erfahrungen, die die Bürger mit der Arbeitsverwaltung machen, nachhaltig verändert haben. Wenn ihnen § 2 Nr. 1 AFG noch versicherte, das Arbeitsamt werde "insbesondere dazu beitragen, daß weder Arbeitslosigkeit und unterwertige Beschäftigung noch ein Mangel an Arbeitskräften eintreten oder fortdauern", spricht das SGB III durchgängig in ökonomischen Marktmetaphern und erklärt den Arbeitsuchenden damit zum homo oeconomicus, der zu verwerten sei, ganz gleich, wie.

3. Von hier aus dauerte es dann noch einmal sieben Jahre bis zur Abschaffung der zeitlich unbegrenzten Arbeitslosenhilfe und zur Einführung des Workfare-Programms "Hartz IV" im Jahre 2005. Die Sozialversicherung wurde endgültig durch die Fürsorge ersetzt, die Betroffenen wurden nach dem Auslaufen des Arbeitslosengelds auf Sozialhilfeniveau gesetzt, sowohl was die Geldleistungen angeht als auch, was die Anspruchsvoraussetzungen betrifft. Seitdem betreibt der Gesetzgeber ein Geschäft, zu dem er als Sozialstaat verfassungsrechtlich gar nicht ermächtigt ist: Er schafft Armut beziehungsweise er bereitet sie in ganz großem Stil vor. Statt Mindestlöhne einzuführen, werden die Betroffenen in prekäre Beschäftigungsverhältnisse gezwungen ("Dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen ist jede Arbeit zumutbar..."), bei denen sie so wenig verdienen, daß ihr Arbeitsentgelt durch ergänzende Leistungen auf das Sozialhilfeniveau "aufgestockt" werden muß. Und ihre Beiträge zur Rentenversicherung sind so niedrig, daß die davon Betroffenen ihr Leben lang nicht mehr aus ihrer "Hilfebedürftigkeit" herausfinden werden. In Westdeutschland betrifft es den einen oder die andere, vor allem Alleinerziehende, im Osten aber sind es ganze Landstriche, die von diesem Regime betroffen sind, das auch schon mal als " schlanker Sozialstaat" apostrophiert wird. Nur an einer Stelle gibt sich dieser Staat noch wohlgenährt, in seiner Sozialgerichtsbarkeit nämlich. Denn statistisch gesehen ist jeder zweite Hartz-IV-Bescheid fehlerhaft und muß von den Sozialgerichten aufgehoben werden. So eine Erfolgsquote hat es in der Geschichte der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit noch nicht gegeben. Der Staat handelt damit nachweislich in einem solchen Umfang rechtswidrig, wie noch niemals zuvor, und die diesbezüglichen Behörden sind so unzureichend ausgestattet, daß die eigentliche Sachbearbeitung faktisch an die Sozialgerichte outgesourct worden ist.

4. Gleichzeitig wurde aber auch die Rentenversicherung in einem entscheidenden Punkt geändert. Die Rentenformel, nach der sich der Betrag berechnet, der monatlich als Altersrente auszuzahlen ist, wurde ebenfalls 2005 um einen Nachhaltigkeitsfaktor ergänzt, der lediglich zum Ziel hat, den Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung möglichst konstant zu halten, auch wenn die Zahl der Beitragszahler demographisch bedingt zurückgeht und im Verhältnis zu ihnen die Zahl der Rentenbezieher steigen wird. Seitdem muß man etwa 27 Jahre lang kontinuierlich mit dem durchschnittlichen Verdienst eines gesetzlich Versicherten in die Rentenversicherung einzahlen, um einen Anspruch auf eine Altersrente in Höhe der Sozialhilfe zu erhalten. Das entspricht nach Anlage 1 zum Sozialgesetzbuch VI derzeit einem monatlichen Bruttoarbeitsentgelt von ca. 2.600 Euro. Wer weniger erhält, wird spätestens im Alter zum "Aufstocker", auch wenn er sein Leben lang gearbeitet hat. Am Bundessozialgericht wurde schon beim Erlaß dieses Gesetzes darüber gearbeitet, ob es bei einer typisierenden Regelung wie dem Nachhaltigkeitsfaktor verfassungsrechtlich hinzunehmen sei, daß nur die wenigsten Bürger in der Lage sein werden, angesichts sinkender Realeinkommen noch zusätzliche Ersparnisse in Form einer sogenannten Riester- oder Rürup-Rente werden bilden können. Zumal diejenigen, die dazu in der Lage sind, ihre staatlichen Zuschüsse aus den (Konsum-) Steuern gezahlt bekommen, die ihrerseits vor allem von all denjenigen stammen, die nichts mehr sparen können. Über all dies ist bisher nur sehr zurückhaltend in wissenschaftlichen Fachzeitschriften geschrieben worden; in den Massenmedien wird der Diskurs über diese vorprogrammierte Verarmung der Bevölkerung bis auf weiteres nicht geführt.

5. Derzeit wird auf Betreiben der FDP der nächste Schritt beim Sozialabbau vorbereitet: Die Einführung der sogenannten Kopfpauschale in der gesetzlichen Krankenversicherung. In welcher Form sie kommen wird, ob als "kleine" oder als "große" Lösung, ist dabei letztlich egal. Der erste Schritt zum Abbau des der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung wurde bekanntlich noch von Rot-Grün getan, als - ebenfalls im annus horribilis 2005 - ein zusätzlicher Beitragssatz eingeführt wurde, der von den Versicherten allein aufzubringen ist. Langfristig soll der Arbeitgeberanteil eingefroren werden, um ihn von der Kostenentwicklung im Gesundheitswesen zu entkoppeln. Die Unterschiede zwischen den Krankenkassen werden sich durch die immer größer werdende Bedeutung der "kassenindividuellen Zusatzbeiträge", die dieses Jahr erstmals erhoben werden, ganz wesentlich verstärken. Der Solidarausgleich innerhalb der Versichertengemeinschaft tritt immer mehr in den Hintergrund. Und wer erhalten möchte, was ihm von Gesetzes wegen zusteht, muß nicht nur im Bereich Hartz IV klagen. Auch bei den Krankenkassen bekommt man Antragsleistungen mit steigender Tendenz nur noch im Rechtsbehelfsverfahren zugesprochen.

Was bleibt, ist ein Bild der zunehmenden Umverteilung von unten nach oben, das Bild eines Staats, der sich genau in dem Moment aus dem sozialen Ausgleich zurückzieht, in dem er hierfür am meisten gebraucht wird, und der - im Gegenteil - sogar soziale Ungleichheit verstärkt und zu ihrer Verfestigung beiträgt.

Die eigentliche Mauer, die heutzutage durch Deutschland geht, ist eine Mauer zwischen Arm und Reich, die sich immer weniger zu sagen haben. Das Erstarken der politischen Klientelparteien und die Schwäche der SPD sind ein Zeichen hierfür.

Ein zukunftssicherer Umbau der sozialen Sicherung kann sich heute nicht mehr auf das Normalarbeitsverhältnis stützen, auch nicht hinsichtlich seiner Finanzierung, sondern muß von der Prekarität ausgehen und diese soweit wie möglich arbeits- und sozialrechtlich beseitigen beziehungsweise, wo das nicht möglich ist, ihre Folgen mildern.

Man darf sich ziemlich sicher sein, daß sich die DDR-Bürger auch deshalb 1989/1990 mehrheitlich für die deutsche Einheit entschieden, weil sie Vertrauen in den deutschen Sozialstaat hatten. Man darf auch annehmen, daß sie sich ganz anders in den politischen Prozeß eingebracht haben würden, wenn der vorstehend beschriebene Sozialabbau von Anfang an absehbar gewesen wäre.


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Quelle:
Das Blättchen Nr. 19 vom 27. September 2010, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 13. Jahrgang
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Redaktion: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2010