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DAS BLÄTTCHEN/1151: Zwei bittere Pillen. Anmerkungen zur Polenpolitik der DDR


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
14. Jahrgang | Nummer 24 | 28. November 2011

Zwei bittere Pillen. Anmerkungen zur Polenpolitik der DDR

von Holger Politt, Warschau


Weil die Sowjetunion als Siegermacht ihre Grenzen in Europa im Vergleich mit der Situation vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs weit nach Westen vorlagern konnte, galt es im Stalin-Lager zwei neue Fragen zu entscheiden. Erstens die nach dem territorialen Zuschnitt des befreiten Polens, zweitens - daraus folgend - nach der künftigen deutsch-polnischen Grenze. Da hierbei den Westalliierten durch Stalin de facto nur noch ein bedingtes Mitspracherecht zugebilligt wurde, gelang es, die Grenze weit in den Westen an Oder und Neiße zu schieben. Zwar legte das Potsdamer Abkommen noch fest, den genauen Verlauf der Grenze zwischen Deutschland und Polen festzulegen bleibe einer großen europäischen Friedenskonferenz vorbehalten, doch diese Festlegung war wenige Jahre später bereits Makulatur. Aufs Papier gesetzt wurde ein anderer Vertrag, mit dem die kurz zuvor auf dem Boden der sowjetischen Besatzungszone gegründete DDR ihr außenpolitisches Leben recht eigentlich begann. Eine bittere, aber bitter notwendige Pille, die durch die DDR stellvertretend für alle Deutsche geschluckt wurde.

Das Abkommen von Zgorzelec zwischen der DDR und Polen aus dem Jahre 1950 legte die Grenze zwischen Deutschland und Polen in der Mitte von Oder und Neiße fest, bestätigte zudem, dass die Hafenstädte Szczecin und Swinoujscie nun endgültig bei Polen blieben. Im Westen Deutschlands gab es Hoffnung auf den kalten Krieg, der die Grenzerklärung im Osten sozusagen zu einer nicht verbindlichen inneren Angelegenheit des "Sowjetblocks" machte. Noch einige Jahrzehnte mussten ins Land ziehen, bis dieser Irrtum restlos beseitigt war.

Ein Teil der bundesdeutschen Hoffnungen gegen diese Nachkriegsgrenze beruhte auch darauf, dass der DDR kein seetüchtiger Hafen mehr blieb und dass das kleine Land auch wegen dieser Grenzziehung vor einer gravierenden, fast unmöglichen Neustrukturierung seiner gesamten Wirtschaftsstruktur stand. Die Nagelprobe auf diese neue Ostgrenze der Deutschen wurde tatsächlich mit der inneren und vor allem wirtschaftlichen Entwicklung der DDR gemacht. Und natürlich mit den entsprechenden Entwicklungen in Polen. Während die Grenze noch 1950 fast ausschließlich vom politischen Willen Moskaus abhing, schafften es die Menschen in der DDR und in Polen in den Jahrzehnten danach, sie zu einer dauerhaften, stabilen und unverrückbaren Grenzlinie zu machen.

Schizophren war lange Zeit die Haltung des Westens, denn in den Beziehungen zum neuen Polen erkannten die Westmächte stillschweigend auch das Territorium des Landes an, somit auch die Oder-Neiße-Grenze. Indem sie in ihrer Deutschlandpolitik, anders als übrigens die Sowjetunion, aber nur zu dem einen Teil Deutschlands ihre hohen politischen Beziehungen pflegten, akzeptierten sie mindestens ebenso stillschweigend den entschiedenen Widerspruch Bonns gegen die Oder-Neiße-Grenze. Dessen Hallstein-Doktrin zielte wesentlich gegen diese deutsche Ostgrenze, denn wer die DDR diplomatisch anerkannte, bestätigte auch diese. Erst die neue Ostpolitik unter der Brandt-Scheel-Regierung trug auch den beträchtlichen Veränderungen Rechnung, die in Washington, London und Paris kraft des Faktischen mittlerweile eingetreten waren.

Während sich nun aber in den folgenden Jahrzehnten der Westen Deutschlands gegenüber dem Osten als ein überlegenes gesellschaftliches System erweisen sollte, gelang es ihm dennoch nicht, auch nur einen Zentimeter dieser immer wieder in Frage gestellten Grenze zu ändern. Während fast nichts von der untergehenden DDR Bestand haben sollte, musste die neue Bundesrepublik im Nachhinein die Entscheidung von 1950 akzeptieren. Und es gehört zu den großen Merkwürdigkeiten der europäischen Nachkriegsgeschichte, dass sich dieser Vertragsschluss zwischen der DDR und Polen als einer der tragenden Pfeiler für die europäische Integration überhaupt erweisen sollte. Auch wenn es die Sowjetunion, die DDR und die Volksrepublik Polen längst nicht mehr gibt, die Grenze, die sie nach dem Krieg finden mussten, hat sich als ein fruchtbares politisches Erbe erwiesen - für die Deutschen, für die Polen, für alle Europäer. In diese Wertung eingeschlossen ist die große Anerkennung für die Leistungen der so genannten Aufbaugenerationen in der DDR und in Polen, mit denen bewiesen wurde, dass Deutsche und Polen an ihrer gemeinsamen Grenze friedlich miteinander auskommen können.

Wie widersprüchlich das alles auch sein konnte, verdeutlicht die Maßnahme, mit der die DDR-Regierung im Oktober 1980 die damals bereits über acht Jahre an der Grenze funktionierende liberale Reiseregelung einseitig außer Kraft setzte. Damit blieb fortan eine private Polen-Reise den DDR-Bürgern in den meisten Fällen verwehrt. So blieb es übrigens bis zum Fall der Berliner Mauer, die 1961 ja auch gebaut wurde, weil die Oder-Neiße-Grenze gesichert bleiben sollte. Die Einschränkungen im freien Reiseverkehr galten dem "Solidarnosc"-Polen, jenem einschneidenden Vorgang, mit dem die Machtstrukturen im sowjetisch dominierten Europa grundlegend und dann endgültig unterminiert wurden. Nichts fürchteten die DDR-Mächtigen mehr als das Überschwappen jenes gefährlichen Bazillus aus dem Nachbarland, mit dem Arbeiter sich Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Organisationsfreiheit erkämpften.

Durch das Kriegsrecht in Polen wurde dem angeschlagenen politischen System noch einmal eine letzte Atempause verschafft. Diese zu nutzen, wäre für die DDR-Führung darauf hinaus gelaufen, eine zweite bittere - polnische - Pille zu schlucken, nämlich die sich durch die politischen Massenstreiks östlich der Oder ändernden gesellschaftlichen Verhältnisse - mit offenem Ausgang - zu akzeptieren. Das hätte allerdings bedeutet, sich nicht so engstirnig und letztlich unverantwortlich auf eine durchgehende und bloße Verdammung des "Solidarnosc"-Aufstands festzulegen. Mit dem trügerischen Argument übrigens, die Vorgänge in Polen basierten allein auf Fehlentwicklungen in der polnischen Politik und der Einmischung aus dem Westen.

Dabei hatte bereits Marx im Zusammenhang mit polnischen Aufständen klug und sensibel auf jenen demokratischen Faktor hingewiesen, der in den Kämpfen der Polen gegen die russische Bevormundung immer eine wesentliche Rolle spiele und übrigens stets gesamteuropäischen Charakter trage. Rosa Luxemburg ging mit dieser Marxschen Einschätzung später hart ins Gericht, doch tat sie es in der tiefen Überzeugung, die Arbeiterbewegung trage auf dem Weg zu einer neuen Gesellschaft das freiheitlich-demokratische Erbe mit, wie es sich in der bürgerlichen Gesellschaft durch harte gesellschaftliche Auseinandersetzungen ausgeformt hatte. Deshalb, so Luxemburgs Schluss, werde es auch keiner spezifischen polnischen Aufstände mehr bedürfen. Sie hielt einen Sozialismus für unvorstellbar, in dem nicht die drei grundlegenden Freiheitsideale der bürgerlichen Gesellschaft tief verankert sind: die Freiheit der Meinung, die Freiheit des Versammelns und die Freiheit des Zusammenschlusses.


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Quelle:
Das Blättchen Nr. 24/2011 vom 28. November, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 14. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Dezember 2011