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DAS BLÄTTCHEN/1188: Rebellion als Lebensform - Erich Mühsam


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
15.‍ ‍Jahrgang | Nummer 9 | 30. April 2012

Rebellion als Lebensform: Erich Mühsam

von Dieter Schiller




1. Boheme

Fünfzigjährig schrieb Erich Mühsam seine Unpolitischen Erinnerungen für die Vossische Zeitung, ein bürgerliches Blatt, das wenig Bedarf hatte für Bekenntnisse, Programm und Erfahrung eines politischen Rebellen. Gegenstand seines Rückblicks ist die so genannte "literarische Boheme" der Vorkriegszeit in Berlin und München, als deren Symbolfigur der Autor Mühsam galt. Das "Unpolitische" des Titels ist nicht ganz als bare Münze zu nehmen: Es sind unpolitische Erinnerungen eines politisch sehr wachen Zeitgenossen. Mühsam lässt es an selbstironischen Untertönen nicht fehlen. Da ist vom "Zirkushaften" seiner eigenen Haltung die Rede, die Frank Wedekind einmal auf die Formel gebracht habe: "Sie reiten stehend auf zwei Gäulen". Mühsam akzeptiert das Bild. Seine - wie er sagt - "Daseinsbemühungen [...] um Wandlung von Welt und Gesellschaft", das heißt die "Kleinarbeit" in anarchistischen Gruppen um Gustav Landauer, kontrastieren äußerlich mit seiner Existenz und dem Ruf als "Prototyp eines Kaffeehausliteraten". Mühsam setzt diese Kennzeichnung in Anführungsstriche - aber die Distanzierung wischt das Dilemma nicht aus. Tatsächlich führte er ja in jenen frühen Jahren ein Leben "auf zwei getrennten Geleisen". Doch für den Rückschauenden ist das vorbei, die Rechnung des "Zigeunertums", der Cafehäuser, der Boheme also, kann abgeschlossen werden. Und das geschieht nüchtern, vielleicht nicht ganz ohne Wehmut, was Freunde und Gefährten angeht.

Sicher, Mühsam hat diese Memoiren auch niedergeschrieben, um seine finanzielle Lage aufzubessern. So bekannt er als Autor auch war, als radikaler Kritiker gesellschaftlicher Zustände musste er immer um Publikationsmöglichkeiten für seine Bücher kämpfen. Denn eine Anpassung an die "marktgängige Konjunktur" war seine Sache nicht. Mit bitterer Ironie schreibt er 1931, ein Verleger, der ihn mit der Mitteilung überraschen möchte, er plane alle des Drucks harrenden Bücher Mühsams herauszugeben, hätte das Glück, eine ganze Serie druckfertig vorzufinden. Nur komme ein solcher Verleger nicht. Und das war nicht übertrieben. Selbst die allzu schmale Bilanz seines Lebenswerks, die 1928 erschienene Sammlung 1898-1928 kam nur unter großen Mühen zustande - und auch hier machte der Konkurs des Verlags jede Chance eines nachhaltigen literarischen Erfolgs zunichte. Und es passt in diesen Kontext, dass die Unpolitischen Erinnerungen selbst nur in sehr reduzierter Form als bibliophile Ausgabe in sage und schreibe 175 Exemplaren zu Lebzeiten des Autors erscheinen konnten. "Ich habe", schreibt Mühsam, das Buch "mehr als einem Dutzend Verlegern angetragen. Einigen war das Werk zu wenig, andern mein Name zu politisch, keinem das Geschäft sicher genug".

Mühsam wusste, dass die "Leser dieser Bekenntnisse" - die Leser der Vossischen Zeitung also - andere Ziele hatten als er selbst. Ihr Interesse an "hübschen Anekdoten, Charakterbildern, vergessenen Persönlichkeiten" zu bedienen, "Kleinigkeiten zusammenzutragen, von denen dies und jenes späterhin einmal einem fleißigen Seminaristen als Beitrag zu seiner literarhistorischen Doktordissertation dienen mag", ist das eine. Ein anderes ist es, auch vor diesem Publikum Zeugnis abzulegen von der Veränderung der literarischen Szene, von dem tiefen Einschnitt, den die Novemberrevolution und die revolutionäre Nachkriegskrise auch auf dem literarischen Feld in der Republik von Weimar bewirkt hatten. Unpolitisch ist der Gegenstand, nicht die Intention des Autors, der etwa gleichzeitig seinen persönlichen Rechenschaftsbericht über sein Wirken in der Münchener Räterepublik unter dem Titel Von Eisner bis Leviné herausgab - nicht zuletzt, um sich gegen den Vorwurf zu wehren, er sei als "unpolitischer Cafehausliterat" gleichsam zufällig in die politischen Wirren der Revolution geraten, indem er einen vergangenen Abschnitt literarischer Geselligkeit und künstlerischer Existenz als vergangen darstellt, lenkt er den Blick seiner intellektuellen Leser auf Züge dieser Vergangenheit, die er nicht übersehen wissen möchte. Er entwirft ein Deutungsmuster dieser Epoche vom Blickpunkt der Gegenwart aus. Er will zeigen, dass es kein Zufall war, dass der Reiter auf den zwei Gäulen nun fest im Sattel saß, "wenn auch gerade auf dem Pferd, von dem Wedekind mich gern befreit gesehen hätte".

Die Frage, um die es hier geht, heißt: Inwiefern und inwieweit hatten die persönlichen politischen und künstlerischen Entscheidungen in der Epochenwende des 20. Jahrhunderts auch Wurzeln in der scheinbar so unpolitischen "Absonderung künstlerischer Naturen" von gängigen Normen der Moral und der öffentlichen Ordnung? Indem Mühsam das "Verhalten künstlerischer Menschen im Wechselspiel ihrer Beziehungen zueinander und zu ihrer Zeit" aus dem autobiographischen Blickwinkel zeigt, bringt er ein, was zunächst ausgeschlossen schien: das "unzerlegbare Ganze" seiner eigenen Haltung zum Leben, zu den Menschen und den Verhältnissen, unter denen sie fühlen, denken und handeln.

Es ist nicht ganz unwichtig, sich einige der biographischen Fakten bewusst zu halten, die Mühsams Haltung bestimmt haben. In seiner Selbstbiographie berichtet er von seinen frühen Dichtversuchen, die den Autoritäten in Elternhaus und Schule suspekt waren. Und als der Sohn eines angesehenen Lübecker Apothekers die Widerspenstigkeit so weit trieb, "geheime Berichte über Schulinterna" an eine sozialdemokratische Zeitung zu geben, wurde er sogar "sozialistischer Umtriebe" wegen relegiert. Das mag im Rahmen der generationstypischen Erlebnisse junger Menschen im wilhelminischen Deutschland der Jahrhundertwende so aufregend nicht sein. Aber natürlich hat das Bewusstsein, als "verlorener Sohn" zu gelten, sicherlich zur Ausformung ernsterer Oppositionshaltungen gegen die tradierten Denk- und Verhaltensnormen beigetragen. Der junge Apothekergehilfe, der am l. Januar 1901 beschloss, freier Schriftsteller zu werden, hatte sich 1899‍ ‍in einem polemischen Artikel gegen die sozialdemokratische Bildungspolitik noch als ein "sozialer Demokrat" gesehen. Die Übersiedlung in die Reichshauptstadt Berlin war Ausgangspunkt einer lebensentscheidenden Wende.

Hier nämlich kam er in Berührung mit den sozialethischen und sozialutopischen Vorstellungen eines Schriftstellerkreises um die Brüder Heinrich und Julius Hart. Im Gegensatz zu den pomadetriefenden impotenten "Ästheten" der Berliner Nachtcafes sah Mühsam in den lebensreformerischen Bestrebungen der beiden Harts eine ernst zu nehmende Alternative zur herrschenden Lebensweise und zur Lebensweise der Herrschenden. Die "Neue Gemeinschaft" der Brüder Hart trug Züge einer sozial-religiösen Sekte, die auf durchaus individualistischer Basis eine neue Lebensform anstrebte. Gegen die materiellen und geistigen Zwänge der kapitalistischen Gesellschaft sollte eine freiheitliche Gemeinschaft solidarisch verbundener Menschen gestellt werden. Die zu ihr gehörten, wollten sich ausgliedern aus den kapitalistischen Geldverhältnissen, wollten in Siedlungen das Modell einer künftigen Gesellschaft vorleben. Solche - anarchistischen Gedankengängen nahe stehenden - Vorstellungen und Experimente waren zu Beginn des Jahrhunderts nicht vereinzelt und besonders in Künstlerkreisen von beträchtlichem Einfluss.

Dass dieser Kreis für ihn Anziehungskraft gewann, ist sicherlich nicht nur dem Streben des jungen Literaten nach Kontakten mit den namhaften Mitgliedern und Gästen der Gemeinschaft geschuldet, sondern ebenso einer Suche nach neuen praktischen Betätigungsfeldern. Noch im Dezember 1900 hatte Mühsam vom erfreulichen "Anwachsen wahrhaft volksfreundlicher Elemente in den gesetzgebenden Körperschaften" geschrieben, in den ersten Berliner Jahren vollzieht sich eine radikale Wandlung seiner Auffassungen. Er sieht sich einem charakteristischen Widerspruch konfrontiert: Die sozialistische Arbeiterbewegung zog den jungen Intellektuellen an, der sich aus den Bindungen seiner bürgerlichen Herkunft zu befreien suchte, aber die politische Organisation dieser Bewegung - die Sozialdemokratie - scheint ihm nichts anderes zu sein als ein verbürgerlichter Apparat. Sein Blickpunkt war von der radikalen Antibürgerlichkeit des Schriftstellerkreises bestimmt, in dem er lebte. Hier waren die Traditionen einer Gruppe von ehemaligen Sozialdemokraten lebendig, der so genannten "Jungen", die anarchistischen Ideen nahe standen und in den neunziger Jahren aus der Sozialdemokratie ausgeschlossen worden waren. Die opportunistische Praxis führender Kreise der sozialdemokratischen Parteiführung leistete einer solchen Sicht Vorschub. Das führte Mühsam zu der Überzeugung, die deutsche Arbeiterbewegung stagniere und die Sozialdemokratie sei revolutionsfeindlich. Dass die "wahlbeflissenen Proletarier" wenig Aussicht auf eine grundsätzliche Veränderung der Gesellschaft böten, war ihm eine ausgemachte Tatsache.

Entscheidende Prägung erhielt sein Denken durch die Bekanntschaft und enge Freundschaft mit Gustav Landauer, dem hoch gebildeten Schriftsteller und Gegner des deutschen Militarismus, der freilich den Marxismus als "die Pest unseres Jahrhunderts" betrachtete und ein sozialethisch begründetes anarchistisches Konzept des Sozialismus vertrat. Landauers Grundsatz, "durch Absonderung zur Gemeinschaft" zu gelangen, blieb für Mühsams Denken zeitlebens bestimmend. Es spricht jedoch für Mühsams Realitätssinn, dass er - wenn auch zuweilen auf eine skurrile Weise - seinen Erfahrungskreis auf Keime sozialer Veränderungsmöglichkeiten durchforschte. Man mag rückblickend einwenden, dass dies oft eingebildete Keime waren. Für Mühsam und die Tendenz seines Wirkens ist wichtig, dass auch in den Irrtümern und quälenden Umwegen immer ein unbedingter Wille nach praktischer Revolutionierung der gesellschaftlichen Grundlagen erkennbar bleibt.

Nachdem er zunächst "mit dem ganzen Enthusiasmus eines vom bourgeoisen Betrieb Angeekelten in der Neuen Gemeinschaft Zuflucht" gesucht hatte, schrieb er schon 1904 eine scharfe Abrechnung mit dieser Gemeinschaft. Nicht weil er den Utopismus des Experiments schon voll durchschaut hätte - er hält dieses Experiment im Gegenteil noch immer für "gesund und durchführbar". Was er ablehnte war, sich mit "philosophischem Sport" zufrieden zu geben. Die "Dichterphantasie" des - noch immer verehrten - Julius Hart reichte ihm nicht mehr aus, wenn in Wirklichkeit statt des "sozialistischen Experiments" in der "Neuen Gemeinschaft" nur eine Selbstbedienungs-Pension realisiert worden war. Selbstbetrug ist nicht Mühsams Sache. Und es ist ein beachtenswerter Erkenntnisschritt, wenn er aus der Beobachtung eines ähnlichen Experiments im Schweizerischen Ascona den Schluss zieht, "kommunistische Siedlungen, die nicht auf der Basis einer revolutionär-sozialistischen Tendenz erwachsen sind, werden stets Fiasko machen".

Mühsam bemüht sich intensiv, seinen Affront gegen die wilhelminische Gesellschaft nicht in einem literarischen Zirkel- und Sektenwesen versanden zu lassen. Die Suche nach neuen Lebensformen und solidarischen menschlichen Beziehungen, nach Ansätzen eines positiven Gesellschaftsideals schlägt sich in seinem Versuch nieder, all das, was er in seiner Erfahrungswelt an antibürgerlichen Verhaltensweisen wahrzunehmen vermochte, was er an gesellschaftssprengenden Potenzen zu erkennen meinte, verallgemeinernd zu analysieren. Das Symptom, an dem Mühsam all dies zu reflektieren versucht, ist die Boheme. Als er 1906 in der Zeitschrift von Karl Kraus Die Fackel über das Phänomen der Boheme schreibt, wendet er sich entschieden gegen ihre Romantisierung oder die Hervorhebung des äußerlichen Habitus der Bohemiens. Eine Anmerkung des Herausgebers (also von Karl Kraus) zitiert als Muster solch unangemessener, nur auf die Neugier eines zahlungskräftigen Publikums abzielender Sicht die Ankündigung eines Cabaret-Conferenciers: "Jetzt wird auftreten Erich Mühsam. Er hat kolossal lange Haare. Er ist das Prototypus von einem Bohemien. Er kann rauchen, wie wenn nichts wäre". In diesem Sinn als komisches Musterexemplar eines Bohemien präsentiert zu werden, lehnt Mühsam ab. Denn er interpretiert die Boheme als sozialpsychologische Haltung und als Gruppenbildung, die unmittelbar verbunden sei mit dem Widerstand gegen geistige und moralische Zwänge eines staatlich organisierten und durch die kapitalistische Gesellschaftsordnung ökonomisch gefestigten "Philistertums".

Aus solcher Perspektive gesehen, ist freilich das sozialdemokratisch geführte Proletariat kein Träger der sozialen Revolution mehr. An seine Stelle treten in Mühsams Vorstellungen die Minderheiten der "untereinander fast gar nicht liierten, materiell gänzlich wehrlosen [...] Paria", die "unorganisierten Gruppen [...]: Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler". In einer charakteristischen Umkehrung von Outcast-Erfahrungen und gesellschaftlicher Funktionslosigkeit in einen bewussten Willensakt heißt es bei Mühsam, das seien "Menschen, die die gesellschaftliche Nutzarbeit verweigern" und deshalb gesellschaftlichen Zwängen weniger unterworfen sind. Aus dieser Stilisierung von Randgruppen zum revolutionären Potential erklärt es sich, dass Mühsam in der Besitzlosigkeit kein Kriterium von Bohemehaltungen sieht. Denn ihm geht es ja gerade darum, Quellen subjektiver Energien für die Gestaltung neuer gesellschaftlicher Beziehungen und einer neuen Kultur aufzuschließen - wo immer er sie zu finden meinte.

Das geschieht auf zweifache Weise. Zum einen verweist er auf eine Besonderheit des Künstlers innerhalb dieser Gruppen. Denn der Künstler könne nicht einfach abgetan werden und erzwinge - sofern er seine Kunst nicht zum "Gewerbe erniedrigt" - durch seine "kritische Überlegenheit" sogar öffentliche Anerkennung. Natürlich ist hier die Illusion einer "Souveränität gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit" unverkennbar im Spiel - aber Mühsams Überlegung geht darin nicht auf. Denn er leitet davon - ohne zu einer schlüssigen Lösung zu gelangen - zwei weitere Aspekte ab. Zum einen begreift er die Boheme als eine gesellschaftliche Institution, welche diese "kritische Überlegenheit" ins Abseitig-Skurrile und gesellschaftlich Wirkungslose ablenken soll. Das sind dann geduldete und in wachsendem Maße auch kommerzialisierte "unkonventionelle Schaustellungen", die letztlich zu einem Zweig des Vergnügungsgewerbes pervertieren müssen. Zum ändern aber richtet er seine ganze Aufmerksamkeit auf solche Züge geselliger Künstlergemeinschaft, in denen er Lebensformen zu erkennen meint, die solchen Versuchen der Unterordnung unter kapitalistische Ware-Geld-Beziehungen widerstehen, spricht er denen den Charakter als Künstler ab, die gewerbsmäßig und ohne künstlerischen Antrieb produzieren, so rechnet er auch solche Naturen durchaus zur Künstlerschaft, die "ohne überhaupt produktiv zu sein, in allen ihren Lebensäußerungen von künstlerischen Impulsen geleitet werden".

Boheme ist in dieser Sicht "eine Eigenschaft, die tief im Wesen eines Menschen wurzelt, die weder erworben oder anerzogen werden, noch durch die Veränderung der äußeren Lebenskonstellation verloren gehen kann". Schon in seiner Broschüre über Ascona, dem zeitgenössischer Sammelpunkt der Boheme, hatte Mühsam die Haltung des Bohemiens als die eines Menschen beschrieben, "der aus der großen Verzweiflung heraus, mit der Masse der Mitmenschen innerlich nie Fühlung gewinnen zu können, [...] darauf losgeht ins Leben, mit dem Zufall experimentiert, mit dem Augenblick Fangball spielt und der allzeit gegenwärtigen Ewigkeit sich verschwistert". Diese Verzweiflung, in der Lyrik Mühsams als "Weltschmerz" emotional erfasst, betrachtet er als "die eigentliche Künstlernot". Und das verweist auf ein Leiden an der sozialen Isolierung als Künstler, auf die dringende Suche nach neuen konstruktiven Funktionen der Kunst, nach Kommunikation und Wirksamkeit. Mühsam verknüpft, was er als "Methode" des Bohemiens betrachtet, nämlich: "sein eigenes Ich gegen die Masseninstinkte durchzusetzen", mit dem anarchistischen Prinzip der "direkten Aktion". "Die Verzweiflung über die Unüberbrückbarkeit der Kluft zwischen sich und der Masse, die Wut gegen den vertrottelten Konventionsdrill der Gesellschaft mag natürlich den Bohemien oft genug zum bewussten Auftrotzen gegen das Gewöhnliche verführen, das sich in der brutal zur Schau getragenen Unterstreichung des Andersseins äußert". Aber eben dies ist für Mühsam nur eine Äußerungsform, eine Provokation, die auf Wiederherstellung der zerstörten und korrumpierten Bezi ehungen zielt. Im Hintergrund steht der bekannte Grundsatz des Anarchisten Bakunin, die Lust am Zerstören sei eine schaffende Lust. Künstlertum und Anarchie verschmelzen hier zur Einheit. Die zwei Pferde, von denen Wedekind sprach, sind für Mühsam letzten Endes nur eines.

Gegen die Bezeichnung des Bohemiens als "asozial" setzt er seine Überzeugung, die "schroffe Ablehnung der bestehenden Zustände mit allen ihren Ausdrucksformen" sei "in den allermeisten Fällen mit der sehr sozialen Sehnsucht nach einer idealen Menschheitskultur verbunden". Und auf diese Weise stellt Mühsam - ungeachtet der im Grunde extrem ahistorischen Antinomie des Künstlers zur Gesellschaft - doch wieder eine Verbindungslinie zur geschichtlichen Wirklichkeit sozialer Kämpfe her. "Was in Wahrheit den Bohemien ausmacht, ist die radikale Skepsis in der Weltbetrachtung, die gründliche Negation aller konventionellen Werte, das nihilistische Temperament, wie es etwa in Turgeniews 'Väter und Söhne' zum Ausdruck kommt, und wie es Peter Krapotkin als das Charakteristikum der russischen Nihilisten in den 'Memoiren eines Revolutionärs' schildert". Auch hier ist das "Temperament" die entscheidende Bestimmung geblieben, aber - wie subjektivistisch und anachronistisch auch immer - in die Tradition tatsächlicher sozialpolitischer Befreiungsbestrebungen gestellt.

Der Begriff der Boheme wird damit politisiert, er erhält soziale Relevanz. Die Boheme selbst ist aus solcher Sicht weit mehr als eine Randerscheinung der bürgerlichen Kultur. Sie wird als sozialer Boden einer "Allianz von deklassierten Intellektuellen und Proletariern" (Fähnders/Rector) begriffen. Lag der Akzent im Fackel-Aufsatz auf der künstlerischen Boheme, so bringt Mühsam in seinem Aufsatz "Neue Freunde" von 1909 einen für ihn wichtigen, ja grundlegenden Aspekt ins Spiel, wenn er schreibt: "Unter den Vagabunden und Lumpen waltet Leichtigkeit und Skepsis, Fröhlichkeit und Verzweiflung, die sich ihrer selbst kaum bewusst sind, ich möchte sie die proletarische Boheme nennen. Theoretische Schulung ist in ihre Kreise noch nicht eingedrungen: Ihr Hass gegen die bestehende Wirtschaft äußert sich vorerst noch lediglich in elementarem Durchbrechen der heiligen Satzungen, ihre Liebe zur Freiheit in begehrlicher Untätigkeit, ihre Hoffnung in dumpfen, sehnsüchtigen Träumen".

Charakteristisch für die Aktionsbereitschaft Mühsams ist allerdings, dass er sich nicht mit der gedanklichen Konstruktion zufrieden geben wollte, sondern tatsächlich versucht hat, die Vagabunden und Lumpen der "proletarischen Boheme" durch anarchistische Propaganda zu erreichen und sogar in einer Gruppe zu organisieren, die er programmatisch Gruppe "Tat" nannte. Der Fall wurde 1909 sogar durch den Strafprozess wegen Geheimbündelei gegen Mühsam zu einem öffentlichen Justizskandal. Der Prozess endete mit Mühsams Freispruch, aber auch einem Boykott in der bürgerlichen Presse - gegen den selbst Persönlichkeiten der Literatur wie Heinrich und Thomas Mann, Hermann Bahr und Frank Wedekind protestierten.

In den "Unpolitischen Erinnerungen" ist die Rede vom "Rebellentrotz der Fronde", der bei allen Boheme-Naturen lebendig gewesen sei, ob sie "aus dumpfen Proletarierkreisen, aus bigotter Kleinbürgeratmosphäre, aus behütetem Bürgerwohlstand oder aus dem Museumsstaub adliger Herrenschlösser zur Freiheit der Künste und zur Geselligkeit auf sich selbst gestellter Menschen geflüchtet" waren. Die Voraussetzung von Mühsams Konzept der Boheme - einschließlich ihrer "proletarischen" Variante - war die "unüberbrückbare Kluft zwischen sich und der Masse" als die "eigentliche Künstlernot". Die Boheme war für Mühsam sowohl "Zuflucht der Besonderheit" als auch Basis der "Arbeit für die soziale Befreiung aller", wie er schon 1906 schrieb. In ihr sah er eine Äußerung des Solidaritätsgefühls der Ausgestoßenen der Gesellschaft, "seien sie nun ausgestoßen von der kaltherzigen Brutalität des Philistertums, oder seien sie Verworfene aus eigener, vom Temperament diktierter Machtvollkommenheit". Deshalb heißt es am Schluss der Erinnerungen, nun gar nicht mehr unpolitisch: "War ich früher den wenigen verbündet, die der Menschheit vorausliefen zu einer frohen Welt, so will ich auch den vielen verbündet bleiben, die die Not lehrt, dass eine frohe Welt erkämpft werden muss, eine Welt, in der wieder Lachen und Freude Raum hat, aber nicht als das Vorrecht rebellierender Außenseiter, sondern als Inhalt des Lebens und der befreiten Menschheit."


2. Der Zweck heiligt die Kunst

Mühsame Leben und Schaffen ist nicht das eines linksbürgerlichen Schriftstellers schlechthin. Im ersten Weltkrieg gehörte er zum Kreis revolutionärer Pazifisten, die aktiv für die Beendigung des Krieges eintraten. Als Anarchist war er ein Gegner des bürgerlichen Parlamentarismus und hasste nicht nur die großkapitalistischen und militaristischen Stützen des Kaiserreiches, sondern ebenso diejenigen, die glaubten, ein Sturz der Monarchie allein werde eine Lösung der Nachkriegskrise herbeiführen. Deshalb bekämpfte er nicht nur die Kriegssozialisten in der Führung der Sozialdemokratie, sondern trat auch gegen Kriegsgegner - wie etwa Kurt Eisner in München - auf, die die anwachsende revolutionäre Massenaktion gegen Ende des Weltkrieges in die Bahnen einer parlamentarischen Demokratie lenken wollten. Für Mühsam stellte deshalb die Errichtung einer Räteordnung unter Lenins Führung in Russland ein historisches Vorbild dar, wie "die Revolution [...] bis zu ihrem letzten Ziel" geführt werden könne: "Abdankung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und ihre Ersetzung durch den kommunistischen Sozialismus". Als leidenschaftlicher und massenwirksamer Agitator suchte er eine revolutionäre Opposition zu organisieren und forderte - nach der Niederschlagung des Berliner Spartakus-Aufstands durch konterrevolutionäre Truppen - die Errichtung einer Räterepublik in Bayern. All das beruhte auf der Illusion, Lenin und Bakunin könnten einander ergänzen. Als Anarchist bestritt er jeden Führungsanspruch einer Partei, wusste jedoch, dass eine Räterepublik, wie er sie in München selbst gefordert und gefördert hatte, nicht auf die wenige Wochen zuvor gegründete Partei der Kommunisten verzichten konnte. Nicht weil er plötzlich ein Anhänger des politischen Parteienwesens geworden wäre, sondern weil diese Partei vom aktivsten Teil des Münchner Proletariats unterstützt wurde und dessen revolutionäre Energien zu bündeln verstand. Deshalb, meinte er, solle sie die Macht übernehmen. Mühsam hat die zweite, in aussichtsloser Lage von Kommunisten unter Eugen Leviné geführte Phase der Bayrischen Räterepublik nur als Gefangener der Bamberger sozialdemokratischen Regierung erlebt und wahrscheinlich nur deshalb überlebt. Sein Freund und Lehrer Landauer wurde während der Niederschlagung des Münchner Proletariats von der Soldateska der Regierung erschlagen und Eugen Leviné von einem Bayrischen Sondergericht zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Mühsam - zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt - bemühte sich in den folgende Jahren ernstlich, Klarheit über die Ursachen der Niederlage zu gewinnen. Seinen Rechenschaftsbericht "Von Eisner bis Leviné" hat er ausdrücklich an Lenin adressiert. 1924 aus der Festungshaft entlassen, kehrte er ins politische und literarische Leben der Weimarer Republik zurück. Doch eine "relative Stabilisierung" des kapitalistischen Systems mochte er nicht akzeptieren, sondern hielt eine solche Stabilisierung für die Erfindung marxistischer Parteiideologen. Hartnäckig bestand er darauf, eine Revolution sei überall und immer möglich, wo die revolutionäre Energie, der Wille einer entschlossenen Minderheit wirksam sei und nicht durch Parteien und Parteiapparate gehemmt werde. Er unterschied zwischen - notwendigem - Klassenkampf als einer ökonomischen Tatsache innerhalb des kapitalistischen Systems und dem revolutionärem Kampf, der nur vom Freiheitswillen der solidarischen einzelnen Individuen getragen werde. Allein von hier aus sei eine "Befreiung der Gesellschaft vom Staat" als Kernpunkt der Befreiung der Menschheit möglich - und diese schloss für Mühsam eine Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft ein. Sein Idealbild war eine herrschaftsfreie kommunistische Gesellschaft, als deren Grundlage er in den zwanziger und dreißiger Jahren ein Rätesystem betrachtete. Trotz seiner starken Vorbehalte gegen jede Art zentralistischer Parteiorganisation trat er für eine Aktionseinheit mit der Kommunistischen Partei Deutschlands ein, und wurde eben deshalb 1925 aus der "Föderation kommunistischer Anarchisten Deutschlands" ausgeschlossen.

Als Sprachrohr seiner Auffassung gründete er 1926 eine eigene Zeitschrift mit dem Titel Fanal. Die Beiträge waren zum größten Teil von ihm selbst geschrieben: Politisch-publizistische Abhandlungen und Analysen zur Zeitgeschichte, Kommentare und Glossen polemischer Art zu politischen und gesellschaftlichen Tagesereignissen, anklagende Berichte über die reaktionäre Klassenjustiz der Weimarer Republik, Betrachtungen und Rezensionen zur Entwicklung der revolutionären Kunst in den zwanziger Jahren. Solche Themen bestimmen das Profil der Zeitschrift, sie werden ergänzt durch programmatische Erörterungen zur Geschichte des Anarchismus und der Arbeiterbewegung. Und schließlich kommt auch der Dichter Mühsam zu Wort mit Bekenntnisgedichten und satirischen Versen. Aber es ist auffällig, dass dieser Teil keinen sehr großen Raum einnimmt: Unverkennbar hat sich Mühsam in jenen Jahren weit mehr als ein anarchistischer Publizist verstanden denn als ein Literat im traditionellen Sinne. Literatur stand für ihn im Dienst der revolutionären Sache. Seine These war: Der Zweck heiligt die Kunst.

Das heißt nicht, dass er sich vom zeitgenössischen literarischen Leben abseits gehalten oder als Kunstproduzent abgedankt hätte. Sicherlich hat er manches geschrieben, weil Schriftstellerei sein Beruf war und er schließlich seinen Lebensunterhalt verdienen musste. Mühsam war ein bekannter, freilich kein finanziell erfolgreicher Autor. Um leben zu können, war er auf publizistische Arbeit, meist in linksbürgerlichen Blättern, sowie auf Vorträge und Lesungen angewiesen. Er war dabei nicht wahllos und ist seinen Überzeugungen niemals untreu geworden. In einem "Offenen Brief an die Gefangenen" konnte er 1928 mit gutem Gewissen schreiben: "Ich bin nicht reich, Genossen, und muss mir das tägliche Brot recht sauer erarbeiten. Ich bin nirgends angestellt, lebe nicht von einem Gehalt und schreibe auch für bürgerliche Auftraggeber nichts, was ich nicht jederzeit vor Euch und vor allen Proletariern ohne Erröten vertreten und rechtfertigen kann."

Erich Mühsam verstand sich selber als ein revolutionärer Schriftsteller und wurde auch von den Zeitgenossen so verstanden. Seine Gedichte aus der Revolutionszeit wurden in den zwanziger Jahren häufig auf Arbeiterversammlungen vorgetragen. Erich Weinert zählte Mühsam im Jahr 1928 neben Gorki, Barbusse, Becher und Kisch zu den "wichtigsten Vertretern" einer "Literatur und Kunst, die dem Befreiungskampf der Arbeiter Ausdruck verleiht". Doch so überzeugt Mühsam war, die Kunst müsse in den Dienst des proletarischen Kampfes gestellt werden, so entschieden lehnte er die Möglichkeit einer proletarischen Kunst ab. Für ihn war der Künstler notwendig ein Anarchist. Ein Parteiprinzip in der Literatur zu akzeptieren, wie es die kommunistisch organisierten Schriftsteller verlangten, war für ihn unmöglich. Als "Übertragung seelischer Vorgänge in sinnliche Wahrnehmbarkeit" erschien ihm die Kunst, und das Dichterische betrachtete er deshalb als notwendig klassenindifferent.

Dennoch hat er seinen Platz in der fortschrittlichen Kunstbewegung der zwanziger Jahre. Aktiv hat er - um nur dieses Beispiel zu nennen - eine Zeitlang Piscators Theaterexperimente unterstützt, im Jahr 1927 sogar als Mitglied des dramaturgischen Beirats der Piscator-Bühne. Den Vorwurf ultralinker Gesinnungsgenossen, damit "Verrat am Proletariat" und "an der Revolution" zu begehen, hat er in Kauf genommen. Denn er sah hier eine Möglichkeit, durch das Theater "revolutionären Geist" zu fördern und "künftiges Menschsein" vorzubereiten. Piscator - meinte er - wolle "Kunst nicht als sich selbst genügend neben das Leben stellen, sondern sie als Mittel verbesserten und erhöhten Lebens agitatorisch ausnutzen". Und das entsprach Mühsams eigenen Bemühungen in jenen Jahren - wenn auch das, was er unter den Begriffen proletarisch und revolutionär verstand, ihn bald in einen Gegensatz zu den Bemühungen kommunistischer Künstler bringen musste.

Dieser latente Gegensatz schloss keineswegs grundlegende Gemeinsamkeiten aus. Im Sommer 1928 schrieb Mühsam sein Dokumentardrama "Staatsräson. Ein Denkmal für Sacco und Vanzetti". Das Stück will das Schicksal dieser "beiden Märtyrer der revolutionären Idee des Anarchismus" durch "bloße Übertragungen der Wirklichkeit auf das Theater" wiedergeben. Der "historische Ablauf der Ereignisse" - schreibt Mühsam im Nachwort - habe "ein Drama von so ungeheurer Eindringlichkeit geschaffen, dass der dichterischen Erfindung so gut wie nichts zu tun übrigblieb". Piscator sah darin einen Schritt hin zum "politischen Theater", weil nicht das Individuum, sondern das Dokument der Ausgangspunkt sei. In einem ähnlichen Sinn schrieb der kommunistische Kritiker Durus in der Roten Fahne, dieses Stück sei wichtig als "revolutionäre Reportage, als schöpferischer, weil außerordentlich wirksamer Leitartikel, als politische Tat".

Mühsams nächster dramatischer Versuch ist ein Volksstück mit Gesang und Tanz, das die Agitation für ein anarchistisches Gesellschaftskonzept mit einer kritischen Revue der politischen Zustände der späten Weimarer Republik verbinden will. Diese satirisch-allegorische Komödie trägt den Titel "Alle Wetter", heute könnte man es als Beitrag zur ökologischen Bewusstwerdung begreifen. Sein Stück, schreibt Mühsam, spiele "in einem deutschen Lande in naher Zukunft" und soll Auskunft geben über den Ausweg, den er aus der Krise des kapitalistischen Systems weisen wollte. Geschrieben wurde es im Herbst 1930, mehrfach hat Mühsam öffentlich daraus vorgelesen, gespielt oder gedruckt wurde es jedoch seinerzeit nicht. Die "reine Anarchie" wird vorgeführt: eine sozialutopische Insel innerhalb des kapitalistischen, bürgerlich-parlamentarischen Staates. Da erfindet ein sozial denkender Ingenieur eine Methode, das Wetter zu regulieren, baut mit Hilfe einer Genossenschaft werktätiger Bauern und Arbeiter einen "Wetterturm", der als gemeinnützige Einrichtung mittels Verträgen mit Produzentenvereinigungen eine sinnvolle Wetterplanung erreichen soll. Nun glaubte Mühsam freilich nicht, dass es möglich sei, einfach "aus der kapitalistischen Gesellschaft aus[zu]treten". Die Utopie, die er aufbaut, soll im Spiel die Verkehrtheit der herrschenden Ordnung bloßstellen. Und so geht die Handlung: Kaum funktioniert das genossenschaftlich betriebene Werk, treten Regierung und Parlament auf den Plan, um ein "Wetteramt" zu schaffen, damit sie "an der Börse außer mit Giftgas auch mit dem Barometerstand spekulieren können". Ein grotesker Kampf um Einfluss und Posten im Wetteramt setzt ein - sein Verlauf wird sinnigerweise aus den Gesprächen der Abgeordneten im Parlamentsklosett ablesbar, und so handeln die "berufenen Vertreter von Industrie, Landwirtschaft und Handel" die Richtlinien aus, "durch die ohne Rücksicht auf humane und soziale Redensarten das Wetteramt der Obhut der leitenden Wirtschaftskräfte unterstellt wird".

Die Pikanterie der politischen Situation, die Mühsam konstruiert, besteht allerdings darin, dass inzwischen die Partei der Unversöhnlichen, die Umsturzpartei - also die Kommunisten - im Parlament eine Mehrheit gewonnen hat. Aber die Regierung denkt nicht daran, dieser parlamentarischen Mehrheit Einfluss auf eine so wichtige Einrichtung des Staates einzuräumen. Denn das hieße ja die "Grundlagen seiner [des Staates - Dieter Schiller] Wirtschaftsordnung" zu gefährden. Das Ergebnis des Kuhhandels der staatserhaltenden Parteien ist furchtbar: Das Wetter kommt völlig durcheinander. Zwar wird Profit gemacht, aber die Bauern sind ruiniert und rebellieren, sie fordern - unterstützt von Arbeitern des Wetter-Werks und seinem Erfinder - die Verfügungsgewalt der Genossenschaft zurück. Der Ingenieur stellt sich an die Spitze der spontanen Aktion: "Wir wollten die Fruchtbarkeit des Bodens vervielfachen um der Freiheit des Volkes willen, aber sie schänden das Werk und lassen künstlich die Erde verdorren, um des Wuchers willen, um dem Volk das Brot, den Kindern die Milch zu verteuern." Mit Hilfe seines Wetterturms lässt der Ingenieur ein Unwetter über die Szene brausen, das die Damen und Herren von Parlament und Regierung hinwegfegt, und in einem symbolischen Tanz vereinigen sich Bauern und Arbeiter in ihrer neu gewonnenen Freiheit. Ganz zweifellos ist dieses Volksstück in einem viel direkteren Sinne ein anarchistisches Tendenzdrama als es die dokumentarische Tragödie von Sacco und Vanzetti sein konnte. Ein basisdemokratisches Gesellschaftsideal wird im Umriss entwickelt und den bürokratischen Herrschaftsmechanismen des kapitalistischen Staates gegenübergestellt. Die betont anarchistische Konstruktion des Stückes steht in enger Beziehung zu Mühsams - in diesen Jahren verstärkten - Bemühungen, seine eigenen Ideen zu propagieren. Er war im Jahr 1929 aus der Roten Hilfe Deutschlands ausgetreten, weil er glaubte, sie werde zu stark von der Politik der KPD beeinflusst. Ironisch attackiert er auch im Stück den Anspruch der "Partei der Unversöhnlichen" und ihres Leiters mit dem sprechenden Namen Widerborst, "einziger Vertreter der Werktätigen" zu sein und die Führung im Kampf gegen Finanzkapital und die herrschenden Klassen innezuhaben. Doch zugleich legt er seinen Lesern beziehungsweise erhofften Zuschauern nahe, diese Partei - eindeutig ist hier die Kommunistische Partei gemeint - werde immerhin von den Massen der Wähler unterstützt und lehne als einzige im Parlament die Unterwerfung unter kapitalistische Interessen ab. Wichtiger noch scheint mir die entschieden antifaschistische Grundhaltung, die Mühsam seinem Stück einschreibt - eine zu dieser Zeit durchaus bemerkenswerte Akzentuierung, unter die staatstragenden Parteien ordnet er nämlich auch die des Cajetan Teutsch ein, die "Arbeiter-Rassenpartei". Das ist - kaum verhüllt - ein satirisches Porträt der Partei Hitlers. Sie stimmt in ihren politischen Zielen mit den Herren von Industrie, Großlandwirtschaft und Handel ganz überein. Folgerichtig tritt diese Partei - als die Rebellion ausbricht und die bürgerliche Regierung zum Einlenken zwingt - mit einer Erklärung auf den Plan, in der sie sich unterm Beifall oder mit Duldung der Parlamentarier zur Retterin des kapitalistischen Staates erklärt. Sie verlangt diktatorische Vollmacht und verspricht, mittels rassistischer Demagogie das soziale Aufbegehren der Massen im Sinne der Interessen der herrschenden Mächte zu paralysieren und umzulenken. ("Die Arbeiter-Rassenpartei erblickt in dem Vorgang den Auftakt zur nationalen Revolution und sie versteht den Ruf, der damit aus den Tiefen an sie als der Retterin des Volkes ergeht. Die Erneuerung des Staates muss erfolgen an Haupt und Gliedern, wir fordern daher unverzüglich die Abdankung der Regierung, die Auflösung des Landtages, die Entjudung des Vaterlandes und die Brechung der Zinsknechtschaft. Vom morgigen Tag ab liegt die gesamte gesetzgebende und vollziehende Gewalt in den Händen unseres großen Führers Cajetan.")


3. Aktive Abwehr

Die bittere Ironie dieser Szene stellt nicht nur die demagogischen Argumente der Nazifaschisten bloß, sie attackiert auch die Methoden der Duldung und Förderung der Hitlerpartei durch die konservativen Eliten der Weimarer Republik - tatsächlich kam ja Hitler durchaus auf "legale" Weise an die Macht. Mühsam hat das Anwachsen der faschistischen Gefahr mit wacher Aufmerksamkeit verfolgt und vor ihr gewarnt. Im September 1927 schrieb er über den Faschismus Mussolinis, er sei der "großangelegte Versuch, die noch nicht zerschmetterte, aber in Wanken geratene und vielfach geborstene kapitalistische Wirtschaftsordnung mit den primitiven, nur im technischen Verfahren modernisierten Mitteln der antiken Tyrannis aufrecht zu halten." Später - im Januar 1929 - warnt er, der Faschismus sei im Anmarsch, weil die Industrie die Errichtung der faschistischen Wirtschaftsdiktatur fordere. In einer Betrachtung zum fünfzehnten Jahrestag des Weltkrieges sprach Mühsam von der Einheit der Internationale des Krieges und der Internationale des Kapitalismus. Den Faschismus kennzeichnete er dabei als politischen Ausdruck des kapitalistischen Selbsterhaltungswillens, der seinen Weg in der Richtung einer immer enger verbundenen Klassengemeinschaft der wirtschaftlichen Monopole suche. Er betrachtete die parlamentarische Demokratie als Ausdrucksform des individualistischen Kapitals, des individuell konkurrierenden Privatkapitals. An seine Stelle trete jetzt das vertrustete Kollektivkapital, dessen politischer Ausdruck der Faschismus sei. Faschismus wird hier betrachtet als die organisatorische Gestalt der Entrechtung und Verknechtung des arbeitenden Menschen unter das Gebot des nackten Ausbeuterinteresses der diktatorisch herrschenden Wirtschaftsmächte. Dieser Aufsatz ist deshalb "Das Ende der Demokratie" überschrieben. Mühsam ging von der Überzeugung aus, es liege zu diesem Zeitpunkt nur noch an der Arbeiterklasse, ob die Nachfolge der untergehenden Demokratie vom Faschismus angetreten werde oder von einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft.

Mühsams Faschismus-Vermeidungsstrategie geht allerdings davon aus, dass die Situation in Deutschland durch die Wirtschaftskrise subjektiv und objektiv revolutionär sei. Die Revolution - schreibt er in verhängnisvoller Verkennung der Lage - sei nicht mehr aufzuhalten, sobald sich die revolutionären Arbeiter ihrer Führer entledigen und zur spontanen revolutionären Aktion schreiten. Das prägt seine Vorstellung von einer antifaschistischen Einheit: Sie ist für ihn eine Einheit der revolutionären Arbeiter von unten und an den Parteien vorbei - eine Einheit, die für ihn ein Zusammengehen, eine Einheitsfront zwischen Revolutionären und Reformisten ausschließt. Denn die Mehrzahl der Arbeiter wolle keine Revolution und werde bei der Sozialdemokratie bleiben. Um sie zu werben - meint Mühsam - sei sinnlos und deshalb hält er auch die Einheitsfrontparole der KPD für absurd.

Als der Zeitschrift Fanal im Juli 1931 ein zeitweiliges Verbot drohte - "Beschimpfung bzw. böswillige Verächtlichmachung der Reichsregierung" wurde vom sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Grzesinski als Begründung angeführt -, musste Mühsam seine Zeitschrift einstellen. Er versuchte noch mit Rundbriefen an alle Leser und Freunde weiterzuwirken. Im ersten Rundbrief - vom August 1931 - war zu lesen, die Diktatur des Großkapitals sei nun vollständig, und es sei nur eine Frage der Zeit, dies durch die Einsetzung eines faschistischen Direktoriums formal zu bestätigen. Im zweiten Rundbrief vom November 1931 wird betont, die Anzeichen häuften sich, dass die Staatsmaschine in Deutschland dem Faschismus überliefert werden solle. Völlige Einigkeit herrsche zwischen Hugenberg, Brüning, Hindenburg und Hitler darin, die Arbeiterrechte aufzuheben und die nackte Despotie der Geschäftemacher zu errichten, unterschiede gebe es nur in den Vorstellungen, welches Tempo dabei eingeschlagen werden solle.

Wie eine "Aktive Abwehr " - so der Titel eines Aufsatzes von Mühsam, der von der Weltbühne im Dezember 1931 veröffentlicht wurde - erfolgreich zustande kommen könne, war das entscheidende Problem. Mühsam wusste: "Die einzige Kraft, die imstande wäre, Hitlers Machtergreifung zu verhindern, ist der verbundene Wille der vom Nationalismus nicht verwirrten deutschen Arbeiterschaft." Aus seiner - selbst gewählten - politischen Isolierung heraus wollte Mühsam zum gemeinsamen Handeln aufrufen. Dabei sah er einiges recht realistisch. Die Frage - schreibt er - stehe heute, was denn eigentlich geschehen soll, wenn "der Tanz des Dritten Reiches losgeht, wenn die Auflösung aller Arbeiterkoalitionen von irgendeinem Hitler [...] verhängt wird, wenn die standrechtlichen Erschießungen, die Pogrome, Plünderungen, Massenverhaftungen das Recht in Deutschland darstellen [...]. Schlagen die Faschisten zu, dann ist das erste, dass nach längst fertigen Listen alle organisatorisch und rednerisch tätigen Kräfte, alle der Führerschaft verdächtigen Personen verhaftet oder noch wirksamer beiseite geschafft werden." Dann aber sei keine Möglichkeit mehr gegeben, sich noch zur Abwehr zu verständigen. Mühsam plädierte für eine "unmittelbare Verständigung der Werktätigen an den Arbeitsstätten", für "Aktionsausschüsse" zur Vorbereitung des Generalstreiks und hegte die Illusion, mit solchen anarchistischen Aktionsformen die bestehenden Parteiorganisationen, insbesondere auch die Kommunistische Partei, unterlaufen zu können. Man darf das allerdings nicht verwechseln mit einem bornierten antikommunistischen Sektierertum. Mühsam ging es wirklich um einen effektiven Kampf gegen den Faschismus und eine revolutionäre Beseitigung der Klassenherrschaft der Monopolbourgeoisie. Seine Polemik gegen den Marxismus und gegen die Führung irgendeiner politischen Partei - auch der kommunistischen - hat niemals dazu geführt, dass er den Kommunisten seine Solidarität aufgekündigt hätte. In der Öffentlichkeit trat Mühsam vielmehr recht häufig an ihrer Seite in Erscheinung. In einer Broschüre des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, die 1934 im Exil erschien, ist zu lesen: "Jahre hindurch sah man in Berlin in allen Versammlungen kultureller, humanitärer und linkspolitischer Organisation den Charakterkopf des alten Anarchisten. Seine strömende Beredsamkeit und sein wilder Humor waren in Berlin sprichwörtlich." Fritz Erpenbeck - ein guter Bekannter Mühsams - erinnert sich später: "Er war ungeheuer massenwirksam, weil er mit echtem Temperament sprach und an das Gefühl der Massen appellierte." Zu Beginn der dreißiger Jahre hat er mehrfach auf Versammlungen über das Thema "Die braune Pest und ihre Bekämpfung" gesprochen und beteiligte sich auch am Selbstschutz antifaschistischer Bewohner seiner Wohngegend Britz gegen Naziübergriffe.

Sein Credo hat er im dritten "Rundbrief an die Freunde und Leser" von Fanal vom Juni 1932 niedergeschrieben: "Wir stehen in aller Eindeutigkeit vor der Alternative, ob die proletarische Revolution den Faschismus, und der bedeutet einen neuen Weltkrieg, rechtzeitig verhindern wird, oder ob ein grauenhaftes Völkergemetzel bei vollständiger Versklavung der Arbeiter und bei Ausrottung ganzer Bevölkerungen [...] durch Giftgas und Verhungern jahrelang wüten muss, um endlich doch die Revolution herbeizuführen, die das Verbrechen verhüten könnte." Es verwundert nicht, dass Mühsam zu den ersten gehörte, die in der Nacht des Reichstagsbrandes verhaftet wurden.

Die Stationen auf dem "Leidensweg Erich Mühsams" - so der Titel des Berichts von Kreszentia Mühsam, der 1935 im Verlag der Roten Hilfe erschienen ist - waren das Polizeipräsidium in Berlin, das Gefängnis an der Lehrter Straße, das Polizeigefängnis Sonnenburg, das Gefängnis in Plötzensee und die Konzentrationslager Brandenburg und Oranienburg. Ein Leidensgefährte aus Plötzensee, Brandenburg und Oranienburg berichtete: "Überall erwies sich Mühsam als der vorbildliche Kamerad, der alles Trennende zurückstellte, der diszipliniert und unerschütterlich mit allen übrigen zusammenhielt gegen den gemeinsamen Feind. Sein Heroismus konnte durch keine Martern, durch keine noch so schamlos erklügelten Grausamkeiten zerbrochen werden. Dieses stille Heldentum gab ihm die rückhaltlose allgemeine Achtung, die Liebe seiner Kameraden."

Angst für seine eigene Person - schrieb Mühsam noch aus dem Gefängnis Lehrter Straße - liege ihm fern. In den Jahrzehnten kämpferischen Erlebens sei ihm die Gefahr zur Gewohnheit geworden. Nicht zur Gewohnheit werden konnte ihm die brutale Folter. Seine Frau Zenzl Mühsam berichtet von ihrem ersten Besuch in Sonnenburg, wohin Mühsam am 6. April - seinem 55. Geburtstag - verschleppt worden war: "Mühsam war schrecklich zugerichtet, ich hatte es schwer, mein Entsetzen vor ihm zu verbergen. Er saß auf einem Stuhl, hatte keine Brille auf - man hatte sie ihm zerbrochen -, die Zähne waren ihm eingeschlagen, und sein Bart war [...] so zugestutzt, dass der jüdische Typus zur Karikatur gewandelt war." Das war erst der Anfang, die schlimmste Zeit kam erst später, in Brandenburg und in Oranienburg. Viele Berichte von Mitgefangenen lassen darauf schließen, dass Mühsam besonders systematisch und brutal gequält wurde, um ihn "zu erniedrigen, zu demütigen und endlich auch physisch zu vernichten". Von Goebbels, der schon im Dezember 1932 die Mordhetze gegen Mühsam in seiner Zeitung Der Angriff begonnen hatte, wird der Ausspruch überliefert: "Dieses rote Judenaas muss krepieren." Man wollte ihn in den Selbs tmord treiben - aber die Zeugen aus seinen letzten Tagen beweisen, dass die Meldung des Völkischen Beobachters vom 12. Juli 1934 über Mühsams Tod - sie trug den Titel "Späte Selbsthinrichtung" - eine zynische Lüge der Nazis war. Mühsam ist in der Nacht vom 9. zum 10. Juli 1934 von SS-Wachtmannschaften ermordet worden.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 9/2012 vom 30. April 2012, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 15. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Mai 2012