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DAS BLÄTTCHEN/1283: Arbeitsrecht auf See?


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
6. Jahrgang | Nummer 9 | 29. April 2013

Arbeitsrecht auf See?

von Rolf Geffken



Vor kurzem traf sich die Elite der deutschen Schifffahrtspolitik in Kiel zu einer "Schifffahrtskonferenz". Natürlich war man sich einig: Weitere Hilfen für die "angeschlagene Branche". War die Branche jemals nicht "angeschlagen"? Bisher gelang es den deutschen Reedern immer, die herrschende Politik von ihrer Unverzichtbarkeit ebenso wie von ihrer chronischen Hilfebedürftigkeit zu überzeugen. Mit teilweise schwerwiegenden Folgen.

Eine der Folgen war und ist, dass zwar grundsätzliche gleiche Rechte am Arbeitsplatz gelten, aber dass an Bord alles viel "gleicher", sprich anders ist. Ob die alte Seemannsordnung von 1902 oder das Seemannsgesetz von 1957: Das physikalische Phänomen "Schiff" musste immer dazu herhalten, Seeleuten fundamentale Arbeitsrechte abzusprechen und sie einem speziellen Ordnungsregime zu unterstellen. So war noch bis in die 1970er Jahre (!) das bloße Verlassen des Arbeitsplatzes Schiff als "Desertion" strafbar, obwohl es allenfalls einen Vertragsbruch darstellte. Aber über allem und in allem geisterte die Ideologie des "master under god" ebenso wie das Märchen von denen, die "alle in einem Boot sitzen". Bestand haben konnte eine solche Ideologie nur in einem Land, dessen herrschende Klasse chronisch darunter litt, "zu spät" zur Seeschifffahrt gekommen zu sein.

Wer auf die Landkarte schaut, weiß: Deutschland ist keine "Schifffahrtsnation". Nur Wilhelm Zwo sah das anders. Er steckte schon die Schulkinder in Marineuniformen, um von der Geographie abzulenken und sein unsinniges Flottenprogramm zu popularisieren. Mit der "Wunderwaffe" der U-Boote wollte er schon vor dem böhmischen Gefreiten die Jahrhundertseemacht Großbritannien ausschalten. Ein Blick auf See- und Landkarten hätte jedem Gymnasiasten zeigen können, dass dies ein irrsinniges Unterfangen war. Wilhelm Zwo wusste, dass sein Marinewahn nur durchsetzbar war, wenn zugleich die Realität der Seefahrt systematisch ausgeblendet blieb. Aus seinen "herrlichen Zeiten" hat sich bis in unsere Tage deshalb jene Windjammerideologie gerettet, deren Beweisstücke zu Beginn der Tourismussaison in unseren norddeutschen Küstenstädten zu besichtigen sind. Mit der Lebens- und Arbeitswirklichkeit der Menschen an Bord - genannt "Seeleute" - hat diese Folklore nichts zu tun. Und doch: Falsche Vorstellungen über die soziale Lage der Seeleute lagen immer im Interesse der Reeder und der herrschenden Politik. Sie taten alles, um solche Unwissenheit zu zementieren.

Vor etwa 110 Jahren hielt August Bebel mit großer Kompetenz im Reichstag dagegen. Er geißelte an Hand von Einzelbeispielen die reaktionäre, unsoziale und arbeiterfeindliche Haltung der deutschen Reeder. Und Ende der 1980er Jahre erfasste das Thema noch einmal die (west-)deutsche Öffentlichkeit: Ein breites Bündnis aus Seeleutegewerkschaften (ÖTV, DAG), Studenten der Seefahrtsschulen, zwei Bundesländern (Bremen und Schleswig-Holstein) und zahlreichen Prominenten (darunter dem 17-Meter-Yacht-Besitzer Hans Joachim Kulenkampff ) wandte sich gegen den Plan, durch Einführung eines "Internationalen Seeschifffahrtsregisters" (ISR) an Bord deutscher Schiffe Dritte-Welt-Bedingungen einzuführen ("Philippinisches Arbeitsrecht für Philippinische Seeleute"). Doch die damalige Regierung Kohl und die Reeder setzten sich durch. Die Folgen waren verheerend. Die deutsche Flagge wurde zur "Billigflagge" und kam auf die Boykottliste der Internationalen Transportarbeiterföderation (ITF). Deutsche Seeleute wurden zur Ausnahmeerscheinung. Über die ausländischen Seeleute herrschten "Bemannungsagenturen". Seemännisches Know-How ging verloren.

Umgekehrt gelang es der ITF in einem jahrelangen weltweiten Kampf zahlreiche internationale Abkommen über Mindeststandards für Seeleute durchzusetzen. Dieser Kampf führte letztlich zum ILO-Seearbeitsabkommen von 2006. Seit dieser Zeit stand die Bundesregierung unter Druck, denn sie musste das Abkommen und eine entsprechende EU-Richtlinie umsetzen. Doch anstatt die Bundesregierung nun mit Hilfe des international veränderten Kräfteverhältnisses in die Zange zu nehmen, passierte - fast unbemerkt von der Öffentlichkeit - ein von ihr entworfenes "Seearbeitsgesetz" den Bundestag unter Stimmenthaltung (!) von SPD, Grünen und der Partei DIE LINKE...

Die Umsetzung selbst ist in vielen Punkten fehlerhaft und fällt hinter das ILO-Abkommen zurück. Das kritisierte auch die Gewerkschaft ver.di. Doch weder ver.di noch DIE LINKE noch andere nutzten die grosse historische Chance, in der Debatte um die Umsetzung endlich die Abschaffung des seeleutefeindlichen ISR zu fordern. Denn um es noch einmal klarzustellen: Das ISR schuf eine "billige Flagge" auf deutschem Territorium. Reeder konnten seit dem zwar immer noch ihre Schiffe nach Zypern, den Malediven oder Panama "ausflaggen", um "Kosten zu sparen", aber das ISR bot ihnen die einmalige Gelegenheit mit der international angesehenen deutschen Flagge "so zu tun als ob" und doch gleichzeitig Dumping-Löhne zu zahlen. Daran hat sich durch das neue Seearbeitsgesetz nichts geändert. Und zur Begründung erläuterte der zuständige Abgeordnete der LINKEN Herbert Behrens, eine Debatte um das ISR habe man nicht führen können, weil "dies der falsche Zeitpunkt" sei. Zur Erinnerung "Debatten" um das Seearbeitsrecht wurden in Deutschland geführt 1872, 1902, 1957 und 1988. Das Seemannsgesetz von 1957 blieb immerhin 56 (!) Jahre in Kraft. In welchen zeitlichen Dimensionen denkt und handelt das MdB Herbert Behrens?

Ergebnis: Deutsche Reeder und die Regierung Merkel schmücken sich damit, die soziale Lage der Seeleute "ohne Gegenstimmen (!) angeblich "verbessert" zu haben, um gleichzeitig weiterhin die Vorteile des ISR beim Lohndumping und der Ausbeutung von Seeleuten ungehindert zu nutzen! Die Zeiten, in denen August Bebel im Reichstag seine Stimme gegen die Heuchelei der Seefahrtsromantiker und für die Seeleute erhob, sind wirklich endgültig vorbei und nach dem Versagen der Sozialdemokratie auf diesem Gebiet scheint auch die Partei DIE LINKE auf Schifffahrtskompetenz verzichtet zu haben. Ein noch kurz vor der letzten Lesung an den Fraktionsvorsitzenden Gysi in Form eines "offenen Briefes" gerichteter Appell blieb unbeantwortet.

Was alle "Schifffahrtskonferenzen" nicht vergessen machen können, ist dies: Seit dem Tag der peinlichen Abstimmung im Bundestag ist Deutschland noch weniger als zuvor eine Schifffahrtsnation. Und: Die von interessierter Seite verbreiteten modernen Märchen über die Seefahrt haben mehr denn je Konjunktur.

Der Autor ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und arbeitet in Hamburg-Harburg.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 9/2013 vom 29. April 2013, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 15. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Mai 2013