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GEGENSTANDPUNKT/237: Böse Wahrheiten über die hochgelobte Freiheit - und ihre demokratische Bewältigung


GEGENSTANDPUNKT
Politische Vierteljahreszeitschrift 3-2013

Böse Wahrheiten über die hochgelobte Freiheit - und ihre demokratische Bewältigung

Edward Snowden enthüllt die Dimension der Überwachung des Globus durch US-Geheimdienste



Der amerikanische Patriot und Freiheits-Idealist in Diensten der National Security Agency wird an seinem Arbeitgeber irre und liefert der Welt die "größte Enthüllung in der Geschichte des US-Nachrichtengeheimdienstes NSA" (freitag, 10.6.2013). "Wir hacken alle, überall. Wir machen gern einen Unterschied zwischen uns und den anderen. Aber wir sind in fast jedem Land der Erde, ohne uns mit diesem Land im Krieg zu befinden." Das von ihm veröffentlichte Material dokumentiert die universelle und weltweite Überwachung der elektronischen Kommunikation durch Inlands- und Auslandsgeheimdienste der USA sowie durch konkurrierende und kooperierende Dienste Verbündeter Demokratien. Entsprechende Datenbank- und Suchprogramme ("PRISM", "Tempora", "Xkeyscore") machen den Verfolgungsbehörden jederzeit die Telefonate, die E-Mails und das gesamte soziale Umfeld von Bürgern aller Länder verfügbar, die in ihr Visier geraten. Snowden sieht dadurch die Errungenschaft der Privatsphäre, ja die Freiheit selbst, für die die USA eigentlich zu stehen hätten, nicht nur gefährdet, sondern weithin abgeschafft:

"Die National Security Agency (NSA) hat eine Infrastruktur aufgebaut, die es erlaubt, fast alles abzuhören. Damit wird ganz automatisch das meiste an zwischenmenschlicher Kommunikation aufgenommen, es muss noch nicht einmal beabsichtigt sein. Wenn ich mir Ihre E-Mails oder das Telefon Ihrer Frau ansehen wollte, so könnte ich das tun. Ich komme an Ihre E-Mails, Ihre Passwörter, Ihre Telefonverbindungen, Ihre Kreditkarten. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, die solche Dinge tut ... Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich mache und sage, der Name jedes Gesprächspartners, jeder Ausdruck von Kreativität, Liebe oder Freundschaft aufgezeichnet wird. Ich möchte das nicht unterstützen und bin nicht bereit, das zu akzeptieren." (Guardian 9.6.)

Und noch etwas enthüllt Snowden an seiner eigenen Person: Er weiß, dass Whistleblower gefährlich leben. Für seine Veröffentlichung verzieht er sich ins weniger befreundete Ausland und noch nicht einmal da fühlt er sich vor seinem Arbeitgeber sicher. Zu seiner Lebensversicherung verteilt er weiteres brisantes Material auf verschiedenen Festplatten über den Globus und droht mit Veröffentlichung, falls ihm etwas zustoßen sollte.

"Wenn wir auf der Arbeit darüber geredet haben, wie man mit Gesetzesverstößen umgehen sollte, wurde nie für ein ordentliches Gerichtsverfahren plädiert, sondern immer für entschiedenes Handeln. Sie sagten, es sei besser, jemanden aus einem Flugzeug zu stoßen, als ihn vor Gericht zu stellen. Es herrscht allgemein eine sehr autoritäre Einstellung ... Ich hätte das nicht tun können, ohne das Risiko zu akzeptieren, im Gefängnis zu landen. Man kann sich nicht mit den mächtigsten Geheimdiensten der Welt anlegen, ohne dieses Risiko zu akzeptieren. Wenn sie dich kriegen wollen, werden sie das früher oder später auch tun." (freitag, 10.6.)

Offenbar trifft und beschädigt er mit seinen Veröffentlichungen nicht irgendein Feld der Politik, sondern einen Kernbereich des freiheitlichen Staats.


1. "100 % Freiheit und 100 % Sicherheit sind leider nicht zu haben"!

Mit diesem Spruch rechtfertigt US-Präsident Obama die bekannt gewordenen Überwachungspraktiken als Ausdruck eines Dilemmas: Der Staat müsse die Freiheit der Bürger beschränken, weil er ihnen die Bereitstellung einer zweiten, nicht weniger wichtigen Sache schulde: Ohne Schutz und Sicherheit sei die Freiheit nichts wert, ja gar nicht zu haben. Der deutsche Innenminister Friedrich schwadroniert gleich von einem in keinem Grundrechtskatalog aufgeführten "Supergrundrecht Sicherheit", das sich die Bürger nun mal mit gewissen Abstrichen an Freiheit und Privatsphäre erkaufen müssten. Von Zeitungen und anderen Kritikern der Überwachung kommt das Gegenargument: Geht die Freiheit nicht verloren vor lauter Sicherheit - und was ist die ohne Freiheit noch wert? Das lässt sich mit gleichem Recht und ohne Ende gegeneinander wenden, und die Öffentlichkeit versteht schnell, dass ein Kompromiss zwischen beiden unverzichtbaren Werten her muss, der die berühmte "Verhältnismäßigkeit" wahrt. Nur wie viel Opfer an Freiheit ist die Sicherheit wert - und umgekehrt?

Die staatlichen Stellen verteidigen die Eingriffe in die ansonsten natürlich respektierte Privatsphäre der Bürger mit lauter besonderen Fällen, bei denen sie - nicht ganz zu Unrecht - darauf rechnen, dass die meisten Bürger die Vorkehrungen des Staates für seine Sicherheit als Schutz ihres Lebens und Zusammenlebens gelten lassen: Vor allem der Verweis auf den islamistischen Terror, dem durch das umfassende Abhören der Netze schon eine Reihe von Erfolgen verwehrt worden sein soll, demonstriert sofort den guten Sinn der Überwachung: Sie rettet amerikanisches und europäisches Leben! Ähnlich verhält es sich mit dem Kampf gegen den gewalttätigen Rechtsextremismus, die Mafia, Kinderpornographie-Ringe etc. Wenn Innen- und Sicherheitspolitiker dann aber darauf bestehen, dass sie, um die jeweiligen besonderen "Gefährder" im Griff zu behalten, die ganze elektronische Kommunikation speichern und durchforsten müssen, dass sie - mit ihren Worten - den Heuhaufen des gesamten Datenstroms verfügbar haben müssen, um die berühmte Stecknadel darin zu finden, wenn sie also auf der Kontrollierbarkeit von allem und jedem als Bedingung dafür bestehen, dass die möglicherweise gefährlichen Leute herausgefischt und unter Kontrolle gehalten werden können, dann geht eben der unendliche Streit um die einander zerstörenden Werte Freiheit und Sicherheit los. Kein Wunder, denn im staatlichen Anspruch universeller Kontrollierbarkeit des gesellschaftlichen Lebens und aller seiner Akteure zeigt sich ein Sicherheitsbedürfnis, das fundamentaler ist als alle Anwendungsfälle, auf die die Politiker sich berufen. Es reicht weiter und geht jedem möglichen Angriff auf was auch immer voraus. Denn es fällt zusammen mit dem gewaltmonopolistischen Ordnungsanspruch des Staates überhaupt: Zugriff auf das Tun und Lassen der Bevölkerung ist die erste Bedingung und unverzichtbare Grundlage für die elementare hoheitliche Leistung, flächendeckend und verbindlich Recht zu setzen und der nationalen Gesellschaft die Bedingungen ihrer ordnungsgemäßen Handlungsfreiheit vorzugeben. Wie dieser Zugriff aussieht, wie groß die Lücken sind, die er lässt, das hängt von der Beschaffenheit der Staatsmacht, insbesondere von ihren tatsächlich verfügbaren Mitteln ab. An irgendwelche, gar einschränkende Bedingungen ist er aber nicht geknüpft; und schon gar nicht wartet der politische Souverän mit der Sicherung seines Gewaltmonopols ab, ob sich womöglich gegen seine Rechtsordnung Widerstand regt oder rechtswidrig Gewalt angewendet wird. Souveränität kommt logisch und sachlich und in der Hierarchie der politischen Güter vor dem besonderen gesetzlichen Rahmen, den der Souverän seiner Gesellschaft verpasst, und erst recht vor jeder Ordnungswidrigkeit, um die er sich kümmert - und sie besteht in gar nichts anderem als in der prinzipiellen Fähigkeit der staatlichen Hoheit, alle und alles von den eigenen Vorschriften abhängig zu machen, also der eigenen Kontrolle zu unterwerfen.

Wie jede Diktatur hat auch der demokratische Staat daher auf alles ein Auge, hält die regierte Menschheit in seinem Griff und gibt sich so - was Snowden und alle Freiheitshelden des Feuilletons mal mehr mal weniger ehrlich erschreckt - als Herrschaft zu erkennen. Zur politischen Freiheit, auf die der demokratische Staat so große Stücke hält, steht das nicht im Widerspruch: Im Unterschied zum freien Willen, den jeder Mensch als bewusstes Subjekt mit sich bringt, bezeichnet die Freiheit des bürgerlichen Subjekts ein Verhältnis, nämlich zwischen ihm und einer übergeordneten Kontrollinstanz: das Verhältnis der Lizenz, die die bürgerliche Herrschaft ihren Rechtssubjekten gewährt - und gleich mit den Konditionen ausstattet, unter denen sie wahrzunehmen ist. Zu diesem Verhältnis passt es nicht, dass sich im Leben der Gesellschaft eine Sphäre - der Cyberspace - entwickelt, in die der Staat nicht, womöglich grundsätzlich nicht hineinschauen kann. Einen staatsfreien Raum lässt er auch auf dem Feld des elektronisch übermittelten Meinens und Sich-Verabredens nicht zu. Den Raum erschließt er sich gerade mit der entsprechenden Hard- und Software; und vieles davon ist, wie die Kanzlerin nicht so unpassend meint, technisch wie juristisch "Neuland".

Gar nicht neu ist der Standpunkt der Überwachung der Gesellschaft selbst. Seit je leisten sich freiheitliche Demokratien Inlandsgeheimdienste, Staatssicherheits- und Verfassungsschutzorgane und machen damit deutlich, dass sie sich nicht zum ausführenden Organ der politischen Meinungsbildung im Volk zu machen gedenken, sondern dass sie umgekehrt dieser Willensbildung den Rahmen setzen, dass sie die Bürger auf die Freiheit des Privatsubjekts verpflichten, die sie definieren, und dass sie alle Bestrebungen unterdrücken, die diese Freiheit missbrauchen oder ablehnen. Das Abhören von Telefonen gab es bekanntlich schon im analogen Zeitalter, und sogar das Briefgeheimnis bekamen die Bürger von einer Obrigkeit zugesichert, die, wenn sie wollte, die Post lesen konnte - und das bei Bedarf auch tat.

Neu ist die Leichtigkeit und Billigkeit - und damit auch das Umfassende des Überblicks, den der Staat sich dank der Digitalisierung des gesamten Lebens über das Tun und Lassen seiner Bürger verschafft: In Form schriftlicher oder mündlicher Mitteilungen, aber auch beim Einkaufen, Bezahlen, bis hin zum GPS-erfassten Aufenthaltsort hinterlässt ein jeder, dem SPIEGEL zufolge, nicht weniger als 500 elektronische Spuren pro Tag. Die sichert sich der Staat mit neuen Mega-Daten-Speichern und lässt Auswertungsprogramme darüber laufen, die nach den Techniken der Rasterfahndung alles mit jedem kombinieren und so Persönlichkeitsprofile, Interessen und das soziale Umfeld der Bürger erschließen und Alarm schlagen je nach dem, welche Suchkriterien eingegeben sind. Dafür leisten nicht zuletzt die Betreiber von Suchmaschinen, social networks sowie Internethändler beachtliche Vorarbeit, wenn sie im Interesse ihrer Werbung Algorithmen zur Erfassung von Kundenprofilen entwickeln. Es ist ein historischer Witz, dass die Generation der digital natives sich vom offenen, diskriminierungsfreien Netz einen gewaltigen Freiheitsgewinn versprochen hat: Nicht nur sollte die allgemeine Verfügbarkeit des gesellschaftlichen Wissens dessen Exklusivität und daraus resultierende Privilegien beseitigen; das Internet 2.0 sollte den Konsumenten von Information zu ihrem Produzenten fortentwickeln; Wikileaks schließlich wollte die Institutionen der Herrschaft transparent machen und so glatt ihres Herrschaftscharakters entkleiden. Wie es aussieht, hat der Bürger vor allem sich total transparent und zum Produzenten von Informationen über sich selbst gemacht und einen Grad politischer Überwachung ermöglicht, wie er früher auch mit einem gewaltigen staatlichen Aufwand an Geld und Personal so nicht möglich war. Von der DDR mit ihrer Stasi heißt es, sie habe 10 % der Bevölkerung mit der Überwachung der übrigen 90 % beschäftigt - und ihr Einblick in Meinung und Willen ihrer Bürger war dennoch bruchstückhaft im Vergleich zu dem, was heutige Sicherheitsorgane wissen, wenn sie nur wollen.

Die negativen Utopien vom totalen Überwachungsstaat (Orwells "1984" und ähnliche) werden auf eine andere, realistische Weise wahr. Innenminister und Sicherheitsexperten treten der Horrorvision vom Big Brother mit der beruhigenden Feststellung entgegen, dass eine Manipulation der Menschen nicht beabsichtigt sei und dass das umfassend gespeicherte Datenmaterial nur in den wenigen Fällen von angezeigtem Verdacht näher ausgewertet werde, in den allermeisten dagegen die Privatsphäre der Bürger gewahrt bleibe. Der Staat interessiere sich nicht für das Liebesgeflüster von Hinz und Kunz, er schaffe sich mit dem Speichern und Durchforsten der Datenspuren nur die Möglichkeit genauer nachzuschauen, wo gesuchte Schlüsselworte fallen oder die automatische Überwachung auf andere Weise Verdachtsmomente zu Tage fördert. Was auch sonst! Das ist ja gerade der Reiz der automatischen Filter, dass sie aus für sich unverdächtigen Datenspuren aller Bürger verdächtige Muster abzuleiten erlauben. Da wird so getan, als sei mit dem Hinweis auf die bloße Möglichkeit näherer Ausforschung irgendeine Beschränkung der allgemeinen Überwachung ausgedrückt und nicht ihr zweckmäßiger Vollzug.

Den teilt der Souverän sich natürlich allemal im Hinblick auf besondere, begrenzte Sicherheitsbelange ein. Nur, damit er anlassbezogen reagieren kann, ist er sich den umfassenden Überblick über alles schuldig, was ihn als zuständige Gewalt herausfordern könnte. Den einschlägigen Anlässen ist im Übrigen anzusehen, dass sie keineswegs aus heiterem Himmel auf den Staat zukommen und ihn zu Abwehrmaßnahmen nötigen, die er von sich aus nicht im Programm hätte. Wo der politische Souverän seiner Gesellschaft rechtlich die Bedingungen vorgibt, unter denen ein jeder frei an seiner Lebenskarriere zimmern darf, stellt er von vornherein in Rechnung, dass er die Leute zu einer Kooperation auf Basis gegensätzlicher Interessen nötigt: Sein Recht zwingt Konkurrenten zu Kompromissen, rechnet mit Verstößen und trifft per Androhung und Vollzug von Gewaltmaßnahmen Vorbereitungen dafür, dass auf alle Fälle die eigene Geltung gesichert ist. Und weil ein bürgerlicher Souverän für die produktiven Interessengegensätze, die er in seinem Hoheitsbereich organisiert, auch den Rest der Welt in Anspruch nimmt, schafft er sich weltweit Problemfälle: Partnerstaaten, die in ein ganzes Netzwerk antagonistischen Zusammenwirkens verstrickt werden, Völker, die die Konsequenzen eines völkerrechtlich durchorganisierten Konkurrenzgeschehens namens "Weltmarkt" und "Weltordnung" schlecht aushalten und nicht nur der lokalen Herrschaft, sondern auch den maßgeblichen bürgerlichen Staaten Schwierigkeiten machen; politische Bewegungen, die Formen militanten Widerstands gegen die etablierten Gewaltverhältnisse erproben. Die Sicherheitsprobleme, von denen Amerika sich betroffen sieht und mit deren Abwehr die US-Regierung derzeit ihr globales Überwachungswesen rechtfertigt, sind bekanntlich das Resultat einer "asymmetrischen" Offensive autonomer Gruppen - frommer NGOs -, die im Namen eines höheren Rechts gegen die Herrschaft der Weltmächte und deren globale Rechtsordnung aufbegehren.

Wenn die Obama-Regierung also darauf besteht - und ihre demokratischen Kollegen ihr darin beipflichten -, dass sie mit ihren weitreichenden Sicherheitsvorkehrungen nichts als die Freiheit ihrer Bürger schützt - und die befreundeten Völker gleich mit -, dann hat sie in der Sache mehr Recht, als ihr zugebilligt wird; und darin findet auch das diskutierte Missverhältnis zwischen allfälligen Schutzmaßnahmen und der zu respektierenden Privatsphäre seine sachliche Auflösung: Die politische Freiheit des bürgerlichen Rechtssubjekts ist nichts anderes als die Lizenz zu einer ordentlichen Lebensführung, die die Staatsgewalt den Mitgliedern der überwachten Konkurrenzgesellschaft ausstellt; und die Sicherheit, für die diese Instanz sorgt, ist nichts anderes als eben die Funktionstüchtigkeit und Allgegenwart des Gewaltmonopols, mit dem sie für die Geltung ihrer Erlaubnisse und Verbote sorgt. Insofern sind Freiheit und Sicherheit tatsächlich die beiden Seiten derselben Medaille: der Hoheit des staatlichen Lizenzgebers.

Ein Dilemma sich ausschließender Grundwerte und Stoff für eine aufgeregte Grundsatzdebatte über die Natur des Gemeinwesens wird daraus nur, weil Regierungen wie ihre Kritiker sich darin einig sind, Freiheit und Sicherheit anders aufzufassen, sie nämlich als Besitzstände und Ansprüche der Bürger zu idealisieren, die der Staat zu respektieren bzw. ihnen zu gewährleisten habe. Man denkt sich die politische Freiheit ohne Staat, d.h. nicht als eine vom Staat gesetzte Ordnung, sondern wie die anthropologische Willensfreiheit, die einem wirklich nicht erst ein Staat schenken muss, als ein natürliches Recht, das Bestand ausgerechnet dadurch haben soll, dass der Staat sich aus dem Bereich der Selbstbestimmung des Bürgers heraushält und seine Herrschaft beschränkt. In diesen Bereich - so sieht das die bürgerliche Welt - kann die Obrigkeit von außen eingreifen, aber nur, wenn der Eingriff im Interesse der Sicherheit des Bürgers unerlässlich ist. Denn auch die Sicherheit denkt man sich nicht als die gewaltsame Garantie der geltenden Ordnung, als Staatssicherheit, sondern als Schutz der Unversehrtheit von Leib und Leben der Bürger.

Weil Bürger ihre lizenzierte Freiheit als ein natürliches Recht ohne Staat missverstehen, fühlen sie sich unfrei, sobald sie auf Indizien stoßen, dass Freiheit ein Herrschaftsverhältnis ist; weil sie die Sicherheit, die der Staat stiftet, für einen Dienst an sich halten, entdecken sie einen Übergriff, sobald sie Maßnahmen entdecken, die sie nicht auf den Schutz von Leib und Leben beziehen können. Schon die Suche nach der berühmten "Verhältnismäßigkeit" der nötigen Einschränkungen beider definiert die revolutionäre Grundsatzalternative von Freiheit und Knechtschaft in einer ersten Verarbeitungsstufe allerdings wieder auf Normalmaß herunter. Es wird deutlich, dass der Idealismus der Freiheit, an den Snowden appelliert, selbst eine Übertreibung ist, die die bürgerliche Welt bei Bedarf auch niedriger hängt. Die Zeitungen, die sein Material nutzen und verbreiten, verstehen sich darauf: Ihre Empörung gilt einem Un- und Übermaß der Schnüffelei von "außer Rand und Band geratenen Geheimdiensten". Das universelle Misstrauen, das die Staatsorgane betätigen, hätten die in ihrer überwiegenden Mehrzahl unbescholtenen Bürger nicht verdient; überhaupt passe ein Generalverdacht gegen jedermann nicht zum demokratischen Staat. Der tue gut daran, bis zum Beweis des Gegenteils dem Bürger Vertrauen entgegenzubringen, anstatt das Vertrauen, das der in die Obrigkeit als den Garanten seiner Freiheit setzt, durch das Ausspionieren seines Alltags zu untergraben.

Solche Empörung ist gar nicht weit entfernt von dem unaufgeregten Abwinken, das Snowdens Aufdeckungen bei anderen auslösen: Bei ihrer Kommunikation, meinen nicht wenige, könne der Staat ruhig mithören und lesen, er werde nichts finden; sie hätten nichts zu verbergen, also auch nichts zu fürchten. Die Wortmeldung, die sich über das Aushorchen empört, weil die Bürger doch loyal sind, und die, die dasselbe nicht fürchtet, eben weil die Bürger loyal sind, kennen und anerkennen also beide die Freiheit als ein Sich-Bewegen in Erlaubnissen und Verboten und finden nichts dabei, dass diese Freiheit genau so weit reicht, wie die Bürger sich in Konformität mit ihnen befinden.


2. 'WANTED Edward Snowden': Klarstellungen der USA zum imperialistischen Recht auf Abhorchen des Globus

Die zweite Stufe der Verarbeitung des von Snowden ausgelösten Skandals verlagert die Aufmerksamkeit darauf, dass gar nicht der Staat den Bürger aushorcht, sondern ein fremder Staat Deutsche. Das öffentliche Interesse verlässt das Thema Freiheit und Herrschaft und widmet sich der Sorge um die nationale Souveränität und dem Problem der Spionage unter Verbündeten.

Denn der US-Präsident, der einmal als Alternative auch zu Bushs rücksichtslosem Umgang mit Verbündeten angetreten war, zeigt sich von Snowdens Enthüllungen überhaupt nicht blamiert. Er entschuldigt sich für nichts, besteht vielmehr darauf, dass es bei Geheimdiensten nun einmal ums Ausspionieren geht - je kompletter das Bild, das sie liefern, desto besser erfüllen sie ihren Auftrag.

"Allgemeiner, sagte der Präsident, alle Spionage-Organisationen sammelten Informationen jenseits dessen, was durch große Nachrichtenagenturen wie die New York Times und NBC-News öffentlich zugänglich ist: 'Wäre es anders, dann wären Geheimdienste nutzlos. Und ich garantiere Ihnen, dass es in den europäischen Hauptstädten Leute gibt, die sich dafür interessieren, wenn nicht, was ich gefrühstückt habe, so wenigstens dafür, was meine Gesprächsthemen sein würden, falls ich mit ihren Führern zusammentreffen sollte. So funktionieren eben Geheimdienste.'" (Washington Post, 1.7.)

Obamas Berufung darauf, dass andere Staaten es nicht anders halten würden, fordert das Gegenteil von Gleichheit beim gegenseitigen Aushorchen. Wo andere Spionage verlogen dementieren und Spione, wenn entdeckt, möglichst geräuschlos aus dem Verkehr ziehen, besteht der Präsident weltöffentlich darauf, dass die Überwachung der Kommunikation der Bürger aller Herren Länder das gute Recht der USA ist und dass die betroffenen verbündeten und nicht verbündeten Staaten sich das gefallen lassen müssen: Wie ein Staat seine Gesellschaft ausforscht und überwacht, so halten die USA es mit der ganzen Welt.*) Sie greifen an den jeweiligen Obrigkeiten vorbei auf die Daten von deren Bürgern zu und missachten damit deren Souveränität und Aufsicht über ihren Herrschaftsbereich. Die Sicherheit, um die es ihnen geht, ist eben eine globale, und dafür richten sie ihr wachsames Ohr und Auge nicht nur auf Absichten und Taten anderer Staaten, sondern auch auf deren Innenleben. Und wie ein Staat gegenüber seinen Bürgern bestehen die USA gegenüber der ganzen Staatengemeinschaft darauf, dass deren Mitglieder die Kontrolle und Sicherheit, die die USA sich schaffen, als Bedingung, ja als Dienst an ihrer eigenen nationalen Sicherheit anzuerkennen haben. Tatsächlich teilt die Nation, die das Recht beansprucht, andere Nationen zu beaufsichtigen, ihre Erkenntnisse mit verbündeten Diensten, wo sie das nützlich findet, und bestimmt damit sogar das Geheimdienstwissen ihrer Konkurrenten.

*) Dabei macht Obama einen feinen Unterschied zwischen US-Bürgern und Ausländern, der das heimische Publikum für die NSA-Praxis einnehmen soll. Von Amerikanern, garantiert er, würden nur Verbindungsdaten gesammelt und gegebenenfalls ausgewertet; direkt in Gespräche und Botschaften hineinhören darf die NSA nur bei Ausländern, die die US-Bürgerrechte nicht genießen: "Die geheime Sammlung der Daten sei mehrfach vom Kongress gebilligt worden. Obama versicherte den US-Bürgern, dass niemand ihre Gespräche mithöre. Es würden nur die Nummern und die Dauer der Verbindungen erfasst. Das Programm zur Überwachung des Internets beziehe sich zudem nur auf Nutzer im Ausland, nicht auf Einwohner der USA."
(dpa, 7.6.)

Diese Unterordnung fordert Obama nicht rhetorisch ein, er betreibt sie praktisch, indem er von der ganzen Welt verlangt, sich in den Dienst der amerikanischen Jagd auf den Whistleblower zu stellen. Alle Staaten sind aufgefordert, praktisch zu unterschreiben, dass sie selbst den Mann, der ihnen bekannt gemacht hat, wie umfassend die USA sie ausspionieren, als Verbrecher und als Angriff auf ihre Sicherheit betrachten - viel mehr jedenfalls als die gegen sie gerichtete US-Spionage. Die entsprechenden diplomatischen Interventionen, die bis zu einer erzwungenen Landung der bolivianischen Präsidentenmaschine reichen, zwingen Snowden, Schutz und Asyl bei Machtrivalen der USA oder gleich bei den notorischen Outlaws ihrer Weltordnung zu suchen. Das duldet Washington nicht: Für einen Verräter, der die amerikanische Sicherheit schädigt, darf es nirgendwo Asyl geben.

"Die USA arbeiten nach Angaben von US-Präsident Barack Obama auf Hochtouren an einer Auslieferung des untergetauchten früheren Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden. 'Wir nutzen alle geeigneten rechtlichen Kanäle', sagte Obama am Montag vor Journalisten im Weißen Haus." (APA, 24.6.)

Von den mit der Forderung nach Auslieferung Snowdens bedrängten Staaten wird verlangt, ihre Souveränität zum Erfüllungsgehilfen amerikanischen Bedarfs zu machen und so das Vorrecht der Vormacht in Sicherheitsfragen anzuerkennen. Russland und China geben zwar nicht klein bei, aber als die Kampfansage, als die Obama die Sache nimmt, wollen Putin das zeitweilige (!) Asyl, das er gewährt, sowie die Chinesen die erlaubte Ausreise aus Hongkong ganz offenbar nicht verstanden wissen.

"In Russland habe Snowden keine Straftaten begangen. Putin fügte hinzu: 'Wir können Ausländer nur an die Länder überstellen, mit denen wir ein Auslieferungsabkommen für Straftäter haben.' Putin verwahrte sich gegen Vorwürfe, Russland habe Snowden bei der Flucht aus Hongkong unterstützt. Derartige Anschuldigungen seien 'Müll'. Gleichwohl hoffe er, der Fall werde die Beziehungen seines Landes zu den Vereinigten Staaten nicht belasten." (faz.net 25.6.)

Die USA lassen sich vom defensiven Ton, mit dem Putin seine Nicht-Auslieferung rechtfertigt, keineswegs beeindrucken:

"Die Flucht Snowdens von Hongkong nach Moskau hat schwerste diplomatische Verstimmungen im Verhältnis der USA mit Russland und China ausgelöst. Das Präsidialamt in Washington forderte die russische Regierung am Montag in deutlichen Worten zur Auslieferung des 30-Jährigen auf, der umfangreiche Ausspähaktionen amerikanischer und britischer Nachrichtendienste enthüllt hatte." (ebd.)


3. Snowdens Enthüllungen im deutschen Wahlkampf: Die Aufregung über das Abhören wird überführt in ein Problem der Souveränität und Glaubwürdigkeit der politischen Führung - und damit ad acta gelegt.

Wenn nicht mehr die Bürger sich vom Staat, sondern Staat und Bürger sich von einer fremden Macht ausgespäht sehen, schweißt das zusammen und führt zu einer Empörung ganz anderer Art -

"Snowden-Daten enthüllen: US-Geheimdienst späht EU aus, 'Spiegel' berichtet von Wanzen in EU-Gebäuden und angezapften Computernetzen ... US-Agenten haben Deutschland und die EU offenbar millionenfach ausspioniert." (bild-online, 29.6.; Die Welt 30.6.)

- und zu ansatzweise scharfen Tönen gegenüber dem großen Verbündeten:

"Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger sagte, sollten entsprechende Medienberichte zutreffen, erinnere das an das Vorgehen unter Feinden während des Kalten Krieges". "Abhören von Freunden, das geht gar nicht"; "Sind wir wirklich souverän oder gelten noch Bestandteile des Besatzungsrechtes?"

Die SPD vor allem wittert Wirtschaftsspionage der Amis gegen Deutschland und wirtschaftspolitische Spionage: Sie will die angelaufenden Verhandlungen über eine neue Freihandelszone aussetzen, solange nicht ausgeschlossen werden kann, dass die US-Delegation Verhandlungspositionen und Kompromisslinien, auf sich die EU intern verständigt, immer schon im Voraus kennt.

Die Empörung über den großen Verbündeten währt eine Weile als bekannt wird, dass EU-Partner Großbritannien mindestens ebenso viel deutsche Daten abfischt, und landet zielsicher bei der Frage der nationalen Verantwortung fürs Ausgehorcht-Werden. Wenn die Vormacht "unsere Souveränität" missachtet, wer hat dann nicht gescheit auf sie aufgepasst? Die Opposition lässt sich die Chance nicht entgehen, der Kanzlerin den schlimmst denkbaren Vorwurf zu machen: Sie hat Deutschland nicht gegen Abschöpfung geschützt und sich nicht als Herrin des national erzeugten Datenstroms erwiesen: "Merkel hat es versäumt, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden".

Weiß sie nicht, was sich die US-Spionage mit deutschen Daten erlaubt, oder billigt sie es, lässt die ihr unterstellten Dienste dabei mitmischen und verheimlicht das vor dem Volk? Angesichts der Wendung, die das Thema schon genommen hat, ist gar nicht mehr klar, welche der drei Sünden als schlimmer zu gelten hat. Die Kanzlerin jedenfalls hat jetzt die Aufgabe, Deutschlands Souveränität sichtbar werden zu lassen, auch um zu beweisen, dass sie selbst ihren Laden im Griff hat und die Affäre souverän zu handhaben versteht. Das tut sie dann auch mit all dem Nachdruck, den das Aussenden gleich mehrerer Emissäre nach Washington so entfaltet: Im Namen der Chefin "fordern sie von den USA Aufklärung über die mutmaßlichen Abhöraktionen des Geheimdienstes NSA" - und bestehen auf einem absoluten Essential: "In Deutschland muss deutsches Recht gelten" - auch für ausländische Spione!

Im Zug der geforderten Aufklärung kommt dann schon heraus, dass BND und Verfassungsschutz nicht nur dieselben Datenbankprogramme nutzen wie die NSA, sondern auch große Datenvolumina mit den Amerikanern austauschen - selbstverständlich innerhalb der "Leitplanken des Rechtsstaates" und nur ausländische Abhörbeute (Afghanistan) betreffend. Aber das hat schon keinen Aufregungswert mehr. Jetzt geht es um die Bewertung der schriftlichen und mündlichen Antworten, die sich die Regierung auf ihre mehrfache und ernste Befragung der US-Geheimdienste eingehandelt hat: NSA, CIA etc. versichern, niemals auf deutschem Boden deutsches Recht gebrochen und auch keineswegs millionenfach die Gespräche deutscher Bürger abgehört und ausgewertet zu haben. Natürlich fällt genug Oppositionspolitikern und Presseleuten auf, dass das Erste gar nicht nötig ist, wenn Internetdaten auch auf transatlantischen Kabeln oder amerikanischen Servern abgegriffen werden können, und dass bei der zweiten Versicherung fraglich ist, was genau dementiert wurde.

Die Regierung jedenfalls glaubt den US-Spionen, und außerdem - als ob das dann noch nötig wäre - verhandelt sie mit den USA über ein "No Spy"-Abkommen. Auf Basis der NSA-Auskünfte sieht sie bewiesen, dass es den ganzen Gegenstand, der die Republik und auch sie selbst wochenlang umgetrieben hat, nie gab, und erklärt die Affäre für beendet. Dem Wahlvolk legen Kanzlerin und CDU damit die Frage vor, für die es in der Demokratie alleine zuständig ist - nämlich die, ob es der Kanzlerin glauben soll, was die den US-Geheimdiensten glaubt. Natürlich glaubt das kein Mensch; für die Glaubwürdigkeit und die Wahlaussichten der Kanzlerin spielt das allerdings keine Rolle. Ihr ist es nämlich gelungen, auch die Glaubwürdigkeit ihrer Gegner zu beschädigen - so dass die jedenfalls keinen Vorteil aus der Affäre ziehen können: Die Archivare im Außenministerium haben ein Dokument ausgegraben, dem zufolge die besonders enge Zusammenarbeit zwischen deutschen und amerikanischen Abhörorganisationen schon von der rot-grünen Vorgängerregierung, näher vom heutigen SPD-Fraktionschef im Bundestag vereinbart worden ist. Man verlässt sich darauf, dass nun auch die SPD keine große Lust mehr verspürt, die Abhöraffäre an die große Glocke zu hängen. Und wenn die politischen Parteien kein Interesse haben, eine Sache zum Skandal zu machen, dann gibt es für das Volk auch keinen Skandal.


4. Praktisch ist die Sache, die es nie gegeben hat, doch noch nicht erledigt. Gegen die Spionage des Verbündeten hilft nur eines: Elektronische Aufrüstung Europas.

In Wahlkampf und Zerwürfnis der Parteien erschöpft sich die Affäre nicht, in einer Hinsicht nämlich herrscht Einigkeit in der politischen Klasse: Gegen Spionage nützt es nicht, Protest einzulegen und Verträge zu schließen. Es braucht wirksame, technische Abwehr. Dass die USA "unsere" Daten abschöpfen und mehr über die europäischen Hauptstädte und das Treiben ihrer Bürger wissen als die selbst, verweist auf technologische und organisatorische Versäumnisse.

"Als Bundeskanzlerin beschäftigt mich die Frage, über welche eigenen Fähigkeiten im Bereich der modernsten IT-Technologien wir in Deutschland und Europa im Vergleich zu anderen verfügen. Das deutsche Datenschutzniveau zu sichern wird immer schwieriger, wenn die Daten zunehmend nur noch über ausländische Internetunternehmen und mit nicht-europäischer Soft- und Hardware transportiert werden. Da müssen wir wieder stärker werden."

"Bei Routern etwa, also den zentralen Datenvermittlungsstellen, gibt es zwei große Anbieter, einen amerikanischen und einen chinesischen, aber keinen europäischen. Deshalb müssen wir Europäer gemeinsam daran arbeiten, unsere Abhängigkeit von Amerika und China zu überwinden und selbst starke Technologie anzubieten." (Merkel, FAZ, 17.8.)

Auch auf diesem Feld ist Deutschland zu klein: Nur auf europäischer Ebene ist es aussichtsreich, die Internetprovider, Suchmaschinen, Internetknotenpunkte, eigene - andere behindernde - Hard- und Software zu entwickeln und einzurichten, um selbst die Zugriffe tätigen zu können und den Überblick zu gewinnen, den man sich gegenwärtig nur mit Hilfe der USA, also nie bei ihnen und nie gegen sie verschaffen kann. Das alles - Spaß muss sein -, um den großartigen deutschen Datenschutz zu verteidigen. Das Wort bekommt eine ganz neue Bedeutung.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2014