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GEGENWIND/368: Fast 150 Getötete jährlich auf Schleswig-Holsteins Straßen


Gegenwind Nr. 248 - Mai 2009
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

Wie Verantwortungslosigkeit zu Erfolg umfunktioniert wird
Fast 150 Getötete jährlich auf Schleswig-Holsteins Straßen

Von Klaus Peters


Die Verantwortlichen feiern den Rückgang der Zahl der Getöteten und Verletzten fast jährlich als Erfolg. Ein Bedauern über die "leider Gottes" immer noch hohen Opfer-/Unfallzahlen wird nachgeschoben. Dabei wäre es möglich, die Opfer- und Unfallzahlen drastisch zu senken.


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Geeignete Konzepte, wie "Vision Zero" des Verkehrsclubs Deutschland e.V. (VCD), liegen vor(1). Andere Länder wie Schweden, die Schweiz oder Großbritannien setzen entsprechende Konzepte um. Große Sicherheitspotenziale bleiben ungenutzt, obgleich mit vergleichsweise geringem Aufwand realisierbar. Die konsequente Nutzung der Sicherheitspotenziale führt im Übrigen auch zur Vermeidung volkswirtschaftlicher Ausgaben in Milliardenhöhe. Verschiedene Maßnahmen der Straßenverkehrssicherheit verringern zudem die Gesundheits- und Umweltbelastungen.

Im letzten Jahr sind bundesweit 4467 Menschen auf den Straßen getötet worden, 9,7 % weniger als im Vorjahr. Eine differenzierte Analyse ist notwendig. Die Veränderungen sind regional, nach Altersstufen, nach Straßen und Unfallart unterschiedlich. Die wichtigsten Bezugsgrößen sind das Wetter, die Anzahl der Fahrzeuge, Verkehrsdichten, Straßenzustand, gefahrene Kilometer, Sicherheitsmaßnahmen u. a. Auf Schleswig-Holsteins Straßen ging die Zahl der im Straßenverkehr Getöteten im letzten Jahr beispielsweise nur um 5,1 Prozent zurück, in Bayern dagegen um über 20%, in Bremen um über 35 Prozent. Im Jahr 2007 hatte Schleswig-Holstein noch einen Rückgang von 9,3% zu verzeichnen. Die Zahl der insgesamt Verunglückten war wie in den meisten Bundesländern jedoch gestiegen.

Wenn man unterstellt, dass sich die bisherige Entwicklung fortsetzt, werden in 10 Jahren in Schleswig-Holstein jährlich immer noch über 70 Menschen im Straßenverkehr sterben. Hochgerechnet bis 2020 werden es über Tausend Menschen sein, darunter ein hoher Anteil junger Menschen.

Das zuständige Bundesministerium nennt als Ursachen für den Rückgang der Zahlen die eigenen Aktivitäten, die Anzeigen- und Plakatkampagne "Runter vom Gas" und die Anhebung des Bußgeldes für einige Verstöße gegen geltendes Recht.


Aktivitäten

EU-Kommission

• Ab April 2009 sollen innerhalb der EU alle im Verkehr befindlichen Nutzfahrzeuge über 3,5 Tonnen, die ab 2000 zugelassen worden sind, mit Rückspiegel ausgestattet sein, die den "toten Winkel" verringert. Durch Kameras oder "DOBLI-Spiegel" (in Holland eingeführt) lässt sich eine weitere Verringerung realisieren.

• Ab Februar 2011 müssen alle neuen Fahrzeuge mit Tagfahrlicht ausgestattet sein.

• ESP für neue LKW und Busse sowie Sicherheitsgurte für
Reisebusse sind bereits vorgeschrieben.

• Fußgänger- und Insassenschutz wird durch Beachtung der entsprechenden Anforderungen der Euro NCAP(2)-Versuche zunehmend realisiert (Auszeichnung mit bis zu fünf Sternen). Für den Fußgängerschutz gelten ab 2010 erhöhte Anforderungen bei Neufahrzeugen.

Das Europäische Parlament stimmt einer Verordnung der EU-Kommission zu, nach der ab 2011 alle neu entwickelten PKW, LKW und Busse mit ESP ausgerüstet sein müssen. Ein System zur Messung des Reifendrucks für PKW ist ab 2012 vorgesehen, Notbremssystem für neu entwickelte LKW und Busse sollen ebenfalls ab 2012 vorgeschrieben werden. Der Ministerrat muss noch zustimmen.
(www.ec.europa.eu/health-eu/my_environment/road_safety)


Bundesregierung

• Seit 2007 gilt ein zweijähriges Alkoholverbot für
Fahranfänger.

(www.bundesregierung.de)


Deutscher Verkehrssicherheitsrat e.V. (DVR)

Der DVR ist für Verkehrssicherheitskampagnen zuständig und berät Politik und Behörden. Mitglieder u. a. Gewerkschaften, Automobilverbände und Unternehmen aus der Automobilindustrie. Nach jahrelangem Zögern unterstützt der DVR Vision Zero. Diese Unterstützung erfolgt allerdings noch sehr allgemein, der Bundesverkehrsminister hat bisher noch keinen Kurswechsel erkennen lassen.
(www.dvr.de)


VCD e.V.

VCD leistet als Bundesverband und auch auf Landesebene vorbildliche Arbeit. Er ist allerdings nicht ganz konsequent, verkennt die durch Hindernisse am Fahrbahnrand bedingten Risiken und wirbt stark für die Nutzung kleiner, weil verbrauchsarmer Fahrzeuge. Physikalisch betrachtet sind jedoch größere Fahrzeuge prinzipiell sicherer.
(www.vcd.org)


Weitere Potenziale

Generelle Geschwindigkeitsbegrenzungen gelten in allen Mitgliedstaaten der EU und fast weltweit. Nur Deutschland beharrt auf unbegrenzten Geschwindigkeiten auf Autobahnen. In den meisten Ländern sind auch die auf Landstraßen zulässigen Geschwindigkeiten niedriger. Eine zusätzliche Maßnahme sind weiter abgestufte Geschwindigkeiten, beispielsweise für Kleintransporter.

Die Pflicht zur Mitführung von Warnwesten in PKW gilt seit vielen Jahren in mehreren Ländern wie Spanien, Portugal, Italien und Österreich.

Sicherheitsaudits bei Straßenplanungen werden von einigen Behörden der Bundesländer auf der Basis einer Empfehlung (Rundschreiben Nr. 18/2002) des Bundesministeriums (ESAS 2002) in unterschiedlicher Konsequenz angewandt. Mit einem weiteren Rundschreiben (Nr. 27/2003) werden Empfehlungen zur Überprüfung bestehender Straßennetze gegeben. Über die Anwendung und Ergebnisse ist nichts bekannt.

Auf der Basis von umfangreichen Untersuchungen des verkehrstechnischen Instituts des Gesamtverbandes der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) hat das Bundesministerium 2006 "Empfehlungen zum Schutz vor Unfällen mit Aufprall auf Bäume" (ESAB) herausgegeben. Diese Empfehlungen werden offensichtlich nur in geringstem Umfang beachtet.

(www.unfallforschung-der-versicherer.de)

Die Menschen sind wesentlich stärker beunruhigt durch seltene große (breit in den Medien dargestellte) Unfälle, als durch die vielen kleinen Unfälle, denen aber entscheidend mehr Menschen zum Opfer fallen.

Risiko (mathematisch): Schadensumfang x Eintrittswahrscheinlichkeit: Bezogen auf Fahrleistungen ist das Risiko für Motorradfahrer am höchsten, das der Autoinsassen ist etwa um den Faktor 10 geringer, im Omnibus ist das Risiko etwa um den Faktor 100 geringer. Das Risiko für Bahnreisende liegt dazwischen. Risiken für Flugreisende sind bezogen auf die Fahrleistungen noch geringer als für Omnibusnutzer, für Schiffsreisen gelten noch darunter liegende Risiken.

Durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York starben etwa genauso viel Menschen wie im gleichen Monat in USA bei Verkehrsunfällen gestorben sind. Die Terroranschläge führten weltweit zu umfangreichen politischen Maßnahmen - und zu neuer (staatsterroristischer) Gewalt.

Der volkswirtschaftliche Schaden durch Straßenverkehrsunfälle beträgt in Deutschland rund 30 Milliarden Euro jährlich. Umgerechnet auf Schleswig-Holstein ergeben die Schäden eine Summe von etwa einer Milliarde Euro.

In den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen erscheinen die durch Verkehrsunfälle bedingten Reparatur- und Rehabilitationsleistungen als Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts.

Risikokommunikation ist wichtig, darf aber nicht als Instrument der Akzeptanzbeschaffung dienen.

Zur Verstärkung und Erhöhung von Brückengeländern gab es eine Initiative des ADAC. Die Brückengeländer sind unterschiedlich gestaltet, teilweise mit höheren Risiken zu bewerten.

Crashkompatibilität ist im Fahrzeugbau noch kein Standard, obgleich technisch möglich. Besonders bei Kollisionen von LKW und deren Anhängern mit PKW besteht für die PKW-Insassen ein hohes Risiko. Dies ist durch die bestehende Inkompatibilität begründet: starke Massen- und Steifigkeitsunterschiede, aber auch deutlich unterschiedliche Geometrien der Fahrzeugstrukturen. Große Fahrzeuge (LKW, Busse, Oberklassen-PKW) müssen deshalb mit ausgeprägten Knautschzonen konstruiert werden. Bei den LKW ist der Unterfahrschutz trotz bestehender Regelungen unzureichend.

Sicherheitselemente, die von einigen Herstellern oder für bestimmte Fahrzeuge angeboten werden:
• Ausstattung mit Seiten- und Kopfairbags,
• Auslösung der Airbags entsprechend der Sitzbelegung;
• entsprechend der Unfallsituation aktivierte Gurtstrammer,
• aktivierte Kopfstützen, entkoppelte Batterie und Kraftstoffpumpe, Öffnung der Zentralverriegelung, Einschaltung von Innenlicht und Warnblinkanlage.

Erläuterungen zur schleswigholsteinischen Situation und beabsichtigte Aktivitäten enthält die Broschüre "Sicher kommt an! Verkehrssicherheitskonzeption, Verkehrssicherheit Schleswig-Holstein, Fortschreibung 2003". Die Landesregierung hatte sich das Ziel gesetzt, spätestens 2010 zu den zwei Flächenländern mit den niedrigsten relativen Unfallzahlen in Bezug auf Getötete (pro Einwohnerzahlen) zu gehören. (Im letzten Jahr lag Schleswig-Holstein gemeinsam mit Hessen auf Platz 4 der Flächenländer.) Die genannten Maßnahmen sind allerdings relativ abstrakt. Zwischenbilanzen wären erforderlich gewesen. Spätestens 2010 müsste eine neue, in zeitlich fixierten Schritten umzusetzende Konzeption vorliegen. Diese Konzeption müsste auch die Vermeidung und Verlagerung von Verkehr initiieren.

Darüber hinaus sind gerade in einem Land, in dem der Tourismus eine große Bedeutung haben soll, Verkehrsberuhigungs- und Geschwindigkeitsreduzierungsmaßnahmen - auch durch Bundesratsinitiativen - voranzutreiben.


(1) Das Sicherheitskonzept "Vision Zero" geht von der Verantwortung des Staates für angemessene Regelungen für die Fahrzeugkonstruktion, den Bau und die Unterhaltung von Straßen, die Ausbildung und Überwachung der Verkehrsteilnehmer aus.
(2) European New Car Assessment Programme


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Quelle:
Gegenwind Nr. 248 - Mai 2009, Seite 29-31
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2009