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GEGENWIND/662: Aufbruch für ein neues Europa


Gegenwind Nr. 332 - Mai 2016
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Aufbruch für ein neues Europa

Von Karl-Martin Hentschel


Die Abstimmung in den Niederlanden war ein erneutes Alarmsignal. Wer sich jetzt gegen Volksentscheide ausspricht, hat nichts verstanden. Denn der Kern der Abstimmung sagt uns: Das Vertrauen in Europa geht zunehmend verloren.


Das Ziel eines vereinigten Europas wird immer mehr in Frage gestellt. Kein Wunder: Bei den großen Herausforderungen wie Klimapolitik, Auseinanderdriften von Arm und Reich, gescheiterter Entwicklungspolitik und wachsenden Flüchtlingsströmen erweist sich die EU als nicht handlungsfähig. Im europäischen Rat überwiegen spätestens seit der Finanzkrise immer mehr nationale Interessen. Im Kampf gegen die Steueroasen werden gute Vorschläge der Kommission und des Parlaments seit Jahren blockiert - auch von der deutschen Regierung. So geht das letzte Vertrauen in die EU verloren.

Zu oft wird vergessen, was die EU uns gebracht hat, und warum immer noch Millionen aus unseren Nachbarstaaten von der EU träumen: Nach 1000-jährigem Schädeleinschlagen herrscht innerhalb der Völker der EU - mit den Erzfeinden Frankreich und Deutschland mittendrin - erstmals Frieden, Sicherheit und Freizügigkeit. Und es gibt gewaltige Fördertöpfe für die ökonomisch schwachen Staaten und Regionen. Das ist der Grund, weshalb selbst in Griechenland niemand an den Austritt denkt.

Aber zugleich ist klar, dass es mit der EU so nicht weitergeht. Es muss ein Neuanfang gefunden werden. Und der wird nicht aus Brüssel kommen. Wir brauchen jetzt eine grundlegende Debatte, um die Vision für ein neues solidarisches demokratisches Europa zu entwerfen. Dieses Europa sollte einerseits die Schwächen der heutigen EU überwinden, es wird aber kein Nationalstaat im herkömmlichen Sinne sein. Daher orientiert sich der folgende Vorschlag in einer Reihe von Punkten an der Schweiz. Europa soll ein Völkerrechtsgebilde neuen Typs werden. Dazu muss es in einigen Punkten handlungsfähiger sein als heute, es muss aber auch viel dezentraler werden als die heutige EU, damit es von den europäischen Völkern akzeptiert wird.

Verfassung und Gewaltenteilung

Ein solcher Neuanfang wird nicht durch einen weiteren Vertrag der Staaten gelingen. Europa braucht statt dessen einen echten Verfassungskonvent, der die Kraft entfalten kann, wirklich neu zu denken und die Schwächen der jetzigen EU zu überwinden. Dazu benötigt der Konvent eine starke Legitimation: Er muss direkt gewählt werden. Die Verfassung muss dann den europäischen Völkern zur Abstimmung vorgelegt werden. Sie kann in Kraft treten, wenn die Mehrheit der Menschen in Europa und zwei Drittel der Staaten zustimmen. Dann wird die neue Europäische Union konstituiert. Die Staaten, in denen keine Mehrheit erreicht wurde, müssten später selbst entscheiden, ob sie ausscheiden wollen.

Welche Regeln aber braucht die EU, um einen Neubeginn zu starten?

Zunächst braucht Europa auf allen Ebenen eine Volksgesetzgebung (1. Gewalt). Anders als in der Schweiz sollten Volksentscheide jedoch an die Verfassung gebunden und vom europäischen Verfassungsgericht (2. Gewalt) überprüfbar sein. (Die Kritik an dem Volksentscheid in den Niederlanden ist absurd. Anstatt die Kritik der Menschen ernst zu nehmen soll man ihre Meinung nicht mehr hören? So geht es nicht!)

Die legislative (3.) Gewalt sollte wie in föderalen Staaten üblich aus zwei Kammern bestehen: Einem Parlament, das auch das europäische Regierungs-Kollegium wählt, und einem Senat. Die Senatoren sollten - wie in den USA - direkt gewählt werden. Eine Delegation durch die nationalen Regierungen (wie beim Bundesrat) ist nicht wünschenswert, da dies regelmäßig zu Deals führt, die von den aktuellen Nöten der nationalen Regierungen geprägt sind.

Die Exekutive (4. Gewalt) sollte nach Schweizer Vorbild gestaltet sein. Ich nenne diese Art von Regierung Kollegium, um sie deutlich von einer Regierung herkömmlichen Typs abzugrenzen. Das Kollegium würde anstelle der jetzigen Kommission treten und die Verwaltung führen. Es würde aber keine Mehrheitsregierung sein, sondern sollte vom Europäischen Parlament nach dem Konsensprinzip unter Berücksichtigung aller Fraktionen gebildet. Damit würden den Befürchtungen vieler Menschen, dass Europa ein neuer Nationalstaat wird, Rechnung getragen.

Neben die Volksgesetzgebung und die klassischen drei Gewalten nach Montesquieu sollten aber drei weitere unabhängige Institutionen treten: Ein Zentralbankrat als monetative (5.) Gewalt, der für die Geldvergabe und die Regulierung des gesamten Finanzsektors zuständig ist. Maßstab sollte jedoch nicht wie bei der heutigen EZB nur die Geldwertstabilität, sondern auch die stabile nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und eine geringe Arbeitslosenquote sein, wie das in den USA schon heute geregelt ist.

Weiterhin bedarf es eines steuerfinanzierten europäischen Rundfunks in allen Sprachen der EU, also eine Art europäischer BBC. Ein unabhängiger Medienrat als Verfassungsorgan (6. Gewalt) sollte diesen überwachen und zugleich eine Aufsichtsfunktion haben, um die Unabhängigkeit und Vielfalt der Presse zu sichern und Entwicklungen wie unter Berlusconi in Italien zu verhindern.

Und schließlich bedarf es in Zeiten, in denen wenige große Wirtschaftskonzerne große Teile der Weltwirtschaft kontrollieren, einer starken Kartellbehörde (7. Gewalt), die unabhängig genug ist, um die Marktwirtschaft vor zu großer Konzentration zu sichern. Sie sollte explizit die Aufgabe haben, die Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums zu garantieren.

Dezentralisierung - Prinzipien der Politik und die vertikale Gewaltenteilung

Ein so großes Gebilde wie die EU mit Dutzenden unterschiedlicher Sprachen und Kulturen muss dezentral aufgebaut sein - ausgehend von den Kommunen, Regionen (Ländern) und Staaten. Nicht zufällig haben die Bürger in stark dezentralen Staaten ein viel größeres Vertrauen in ihre Demokratie und ihre Vertreter. Das ist kein Wunder: In Staaten wie Dänemark oder der Schweiz werden zwei Drittel der Staatsausgaben von den Kommunen getätigt, in Deutschland sind es nur 16% - während die Bundesregierung zwei Drittel der Ausgaben tätigt.

Die neue EU sollte deshalb weniger zentral regeln. Um das handhabbar zu machen, könnte die Verfassung der EU neben den Menschenrechten und der Bestimmung der Institutionen einen dritten Teil enthalten, in dem Prinzipien für die einzelnen Politikfelder beschrieben werden. Diese wären verbindliche gemeinsame Normen der EU, würden aber nicht auf der EU-Ebene umgesetzt werden. Der Charme solcher Verfassungsprinzipien besteht darin, dass sie damit einklagbar wären, aber die Gestaltungsfreiheit nach unten verlagert wird. Die EU muss sich dann nicht mehr in sämtliche Politikbereiche einmischen.

So könnte für die Steuerpolitik vorgegeben werden, dass eine angemessene Einkommensverteilung und Vermögensverteilung angestrebt werden soll. Für die Außen- und Sicherheitspolitik könnte eine Verpflichtung zur Friedenspolitik, zur Unterstützung der armen Länder und eine Bindung des Einsatzes von Militär an das Mandat der UNO beinhalten. Für die Umweltpolitik könnte der Klimaschutz, Artenschutz und anderes festgeschrieben werden. Auch im Bereich der Sozialpolitik könnten Mindeststandards beschrieben werden wie eine allgemeine Gesundheitsversorgung und eine Basisrente für alle.

Auf diese Weise könnte künftig die Regelungsdichte auf EU-Ebene deutlich gesenkt werden. Dazu sollte die Verfassung einige weitere Regeln enthalten: Eine klare Trennung der vier Ebenen - also der Aufgaben der EU, der Staaten, Regionen und Kommunen. Diese Zuordnung sollte nach dem einfachen Prinzip erfolgen, dass alles so ortsnah wie möglich geregelt werden sollte. Weiterhin sollte jede Ebene eine eigene Finanzhoheit besitzen, also über die Höhe ihrer Einnahmen selbst entscheiden können.

Chancengleichheit und Finanzautonomie sind allerdings nur möglich, wenn schrittweise ein aufgabenbezogener Finanzausgleich entwickelt wird, der zum (Fern-)Ziel hat, überall die gleichen Lebenschancen zu gewährleisten. Dazu müsste sich die EU von ihren zahlreichen Förderprogrammen verabschieden und sie durch einen echten Finanzausgleich für die Regionen ablösen. Der oft geäußerten Befürchtung, dass dann das Geld vor Ort falsch ausgegeben wird, liegt nämlich ein Trugschluss zugrunde. Heute ist die Mafia in Süditalien durchaus in der Lage, gute Förderanträge zu schreiben. Wenn das Geld als Finanzausgleich an Sizilien gehen würde, dann würde die Kontrolle über die Ausgaben dort liegen, wo sie hingehört: In den regionalen Parlamenten. Und das wäre vermutlich viel wirksamer.


Der europäische Traum
Was würde sich ändern?

Die EU wäre endlich demokratisch konstituiert. Mit dem Kollegium als gewählter europäischen Regierung würden die Wahlen eine ganz andere Bedeutung gewinnen. Es würde sich eine europäische Öffentlichkeit herausbilden, die die Debatten nicht mehr nur aus nationaler Sicht betrachtet.

Das neue Europa wäre weniger, da es dezentraler wäre als heute, aber zugleich mehr, da es in den zentralen Fragen von europäischer Bedeutung handlungsfähiger würde. Mit einem echten Finanzausgleich würde die Souveränität der Staaten und Regionen gestärkt - zugleich würde aber Europa als Solidarverband viel erkennbarer als heute.

Noch wichtiger wäre die Wirkung nach außen. Angesichts von Klimawandel und Flüchtlingsströmen, Kriegen in Afrika und im Nahen Osten sowie Krisen in der Ukraine, Türkei und Tunesien braucht Europa eine kohärente Außenpolitik. Von Al Gore stammt die Idee des Marshall-Plan für die Erde. Ein einiges handlungsfähiges Europa könnte den armen Staaten ein Vorschlag zum gegenseitigen Nutzen machen: Finanzielle Mittel zur Finanzierung der Energiewende und anderer wichtiger Infrastrukturprojekte, Öffnung der Märkte der EU auch für Agrarprodukte und privilegierte Angebote für den Import von fair gehandelten Gütern. Das alles verbunden mit Verträgen, die als Voraussetzung faire demokratische Wahlen, Einhaltung der Menschenrechte, keine Kriegshandlungen im Inneren und nach außen, freie Presse, Korruptionsbekämpfung und einiges mehr beinhalten. Das ist genau das Modell, das die EU in Europa so attraktiv gemacht hat - und das der amerikanische Autor Jeremy Rifkin in seinem gleichnamigen Buch "Der europäische Traum" genannt hat. Das würde eine Run auf solche Verträge und massiven Druck der Menschen auf ihre Regierungen mehr Demokratie zu praktizieren bewirken.

Es wird Zeit, solche Visionen anzupacken.

Karl-Martin Hentschel
Bundesvorstand
Mehr Demokratie e. V.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 332 - Mai 2016, Seite 24 - 25
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2016

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