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GEGENWIND/701: Drei Monate Pause - Abschiebestopp nach Afghanistan


Gegenwind Nr. 342 - März 2017
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Drei Monate Pause
Landesregierung in Kiel beschließt Abschiebungsstopp nach Afghanistan

von Reinhard Pohl


Am 14. Februar hat die Landesregierung beschlossen, Abschiebungen nach Afghanistan für drei Monate zu stoppen. Faktisch gab es seit 2006 einen bundesweiten Abschiebungsstopp, nur einzelne Straftäter wurden in den vergangenen Jahren abgeschoben. Die Wende war das Jahr 2015: Mehr als 800.000 Flüchtlinge erreichten Deutschland, von ihnen kamen rund 150.000 aus Afghanistan. 2016 wurden es weniger - nicht, weil die Situation in Afghanistan sich besserte. Sondern der Bundesregierung gelang es, den Iran, die Türkei, Griechenland und Mazedonien dazu zu überreden, Flüchtlinge aufzuhalten oder auch zurückzuschicken. So kamen im letzten Jahr nur noch rund 50.000 Flüchtlinge aus Afghanistan nach Deutschland.


Der Bundesregierung waren das zu viele. In mehreren Landtagswahlen wuchs die AfD, auch mit ihrer Forderung, "alle Ausländer", zumindest aber "alle Flüchtlinge" an der Grenze zu stoppen oder direkt nach der Einreise einzusperren und abzuschieben. Die Bundesregierung wollte sich dem im Falle der beiden größten Gruppen, der Flüchtlinge aus Syrien oder Irak, nicht anschließen. Die Flüchtlinge aus Afghanistan, durchschnittlich auf Platz 3 der Hitliste der Herkunftsstaaten, bot sich an - nachdem in den Jahren zuvor die Flüchtlinge aus den Staaten des "Balkan-Stabilitätspaktes", danach die Flüchtlinge aus den nordafrikanischen Staaten Marokko, Algerien und Tunesien als Beispiel für die Tatkraft der Bundesregierung beim Einhalten der "Obergrenze" herhalten durften.

Dennoch zielte die Diskussion seit dem Herbst 2016 mehr auf die Stimmung als auf die Zahlen: Von rund 250.000 afghanischen StaatsbürgerInnen in Deutschland sind rund 12.000 endgültig abgelehnt und zur Ausreise verpflichtet, werden zur Zeit geduldet. Das Abkommen mit Afghanistan vom November 2016 sieht vor, sie in Gruppen von höchstens 50 Personen abzuschieben. Von Deutschland aus gab es zwei Sammelabschiebungen, wobei die Flugzeuge nur zu zwei Dritteln gefüllt waren - die meisten Insassen waren Polizeibeamte, es handelt sich mithin auch um eine ausgesprochen teure Aktion im Vorfeld der Bundestagswahl.

In Zukunft könnte die Diskussion auch auf Zahlen zielen. Zwar werden die Hälfte bis zwei Drittel der Asylanträge aus Afghanistan anerkannt, allerdings gab es 2016 sehr viel mehr Entscheidungen als 2015. Und 2017 wird zwar vermutlich die Zahl der neuen Asylanträge weiter sinken, auch weil die Abschiebungen in andere europäische Länder (Dublin-III-Verfahren) intensiviert werden sollen. So könnte sich die Zahl der afghanischen Geduldeten im Jahre 2017 verdoppeln oder dort, wo die Asylverfahren besonders lange dauern, auch verdreifachen. Schleswig-Holstein ist das Bundesland mit den langsamsten Verfahren und der längsten Warteliste. Hier gab es Anfang 2017 rund 800 geduldete Afghaninnen und Afghanen, Ende 2017 könnten es 3.000 sein.

Veranstaltung in Lübeck

Gedrängt voll war am 25. Januar das "Solizentrum" in Lübeck. Auf dem Podium saßen Norbert Scharbach (Innenministerium Schleswig-Holstein), Thomas Seibert (medico international), Najib Ahadzai (Geflüchteter aus Afghanistan) und Elizabeth Hartmann-Runge (Flüchtlingsbeauftragte des Ev.-Luth. Kirchenkreises Lübeck-Lauenburg). Unter der Leitung von Hind Haddau diskutierten sie über das Thema "Keine Abschiebungen nach Afghanistan". Es ist eine Besonderheit Schleswig-Holsteins, dass auch das Innenministerium mit der Wahl dieses Themas einverstanden war und ist.

Zunächst schilderte Najib Ahadzai die Ängste der Flüchtlinge aus Afghanistan - nicht nur der abgelehnten, geduldeten Flüchtlinge, sondern auch der vielen, vielen Flüchtlinge im Verfahren. Denn es gibt viele Gerüchte, in Zukunft würden "alle" abgelehnt und "alle" abgeschoben. Er setzte seine Hoffnungen vor allem darauf, dass Norbert Scharbach zu dieser Veranstaltung im Solizentrum gekommen war. Übrigens waren auch Gäste aus Hamburg da, die sich dort für ein Bleiberecht afghanischer Flüchtlinge einsetzen, auch für sie war dieser Umstand bemerkenswert, kennen sie das von ihrem Innensenator doch so nicht.

Thomas Seibert schilderte danach die Zustände in Afghanistan, die er aus vielen Reisen und Projektbesuchen im Auftrag von "medico international" kennt. Vor allem konnte er die Situation mit der in anderen Ländern vergleichen, in denen ebenfalls Krieg herrscht. In keinem anderen, so sagte er, habe er eine solche Unsicherheit im Alltag und solch eine Gewaltbereitschaft auf den Straßen bemerkt. Die Gewalt richtet sich nach seinen Beobachtungen vor allem gegen Frauen, und zwar täglich, stündlich und überall.

Er schilderte aber auch die schreckliche Situation von Hunderttausenden Flüchtlingen, die in letzter Zeit aus dem Iran und Pakistan vertrieben wurden: Diese "Rückkehrer" leben in Elendsvierteln rund um die großen Städte, vor allem Kabul. Die Stadt liegt in einem Talkessel. Thomas Seibert berichtete, rund um die Stadt wären die Berghänge jetzt mit provisorischen Hütten bedeckt, wo die Rückkehrer ohne Kanalisation, ohne Wasser und Strom leben. Keine lokale Verwaltung ist mehr in der Lage, zusätzliche Rückkehrer zu versorgen, sie bleiben sich selbst überlassen.

Norbert Scharbach stellte die Position der Landesregierung und den Innenministeriums dar. Am 22. Dezember war der neue Bericht vom UNHCR gekommen, den das Innenministerium in Berlin auf Wunsch Schleswig-Holsteins angefordert hatte. Dort ist für die Landesregierung der zentrale Satz: "Unter Bezugnahme auf die Auslegung des Begriffs des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts durch den Europäischen Gerichtshof (...) ist UNHCR der Auffassung, dass das gesamte Staatsgebiet Afghanistans von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt im Sinne des Art. 15 c der EU-Qualifikationsrichtlinie betroffen [ist]." Der Artikel 15 c der EU-Qualifikationsrichtlinie regelt, dass niemand in einen Krieg zurückgeschickt werden darf, und wer aus einem Krieg kommt, dem steht mindestens "subsidiärer Schutz" zu. Das ist auch im Asylgesetz so geregelt.

Norbert Scharbach meinte dazu, nicht nur die Landesregierung, auch das "Bundesamt für Migration und Flüchtlinge" müsste diesen Bericht ernst nehmen und seine Entscheidungen in Asylverfahren daran ausrichte. Ähnliches erwartete er von den Verwaltungsgerichten und berichtete, es hätten bereits zuständige Richterinnen und Richter den Bericht im Kieler Innenministerium angefordert.

Er ging auch noch einen Schritt weiter: Die Landesregierung müsste eigentlich besonders gefährdete Menschen aus Afghanistan aufnehmen, herholen. Als eine Gruppe nannte er Witwen, die in Afghanistan keine Existenzgrundlage haben, schutzlos sind. Solche Aufnahmeaktionen hat es in der Vergangenheit öfter gegeben, sie betrafen unter anderem jesidische Frauen aus dem Irak, die aus der Gefangenschaft des "Islamischen Staates" befreit wurden, mit ihren Familien. Doch dazu ist "die Zustimmung des Bundesinnenministers nötig, die zur Zeit wohl nicht zu bekommen ist.

Er warnte für die folgende Diskussion gleich vor: Er könnte keine Einzelanfragen zu laufenden Verfahren oder zur Härtefallkommission beantworten, sondern nur allgemeine Informationen geben.

Elisabeth Hartmann-Runge berichtete von Veranstaltungen, Beratungen und natürlich Anfragen nach "Kirchenasyl": Die gesamte afghanische "Szene" ist beunruhigt. Viele wissen nicht genau, ob sie in "Gefahr" sind, wer betroffen ist, wie viele kein Bleiberecht bekommen.

Die Kirche kann hier nur begrenzt helfen: Beraten, trösten, Lösungen im Einzelfall suchen. Vehement forderte sie eine Lösung für alle, eine Lösung auf Landes- oder Bundesebene.

Letztlich kündigte Norbert Scharbach an, die Landesregierung würde jetzt versuchen, eine Einigung der Länder und des Bundes über einen Abschiebungsstopp herbeizuführen. Sofern das nicht gelinge, und davon müsste man ausgehen, werde die Landesregierung im Alleingang einen Abschiebungsstopp erlassen und hoffen, dass andere Bundesländer dem dann folgten. Als Kandidaten dafür nannte er Rheinland-Pfalz, Bremen, Berlin und Niedersachsen.

Danach war das Publikum dran. Aber nur wenige hatten, dazu wurde aufgefordert, Fragen. Die meisten schilderten ihre Situation, wiesen auf die Schwierigkeiten im Alltag hin, dabei ging es nicht nur um den Status selbst, meistens eine Aufenthaltsgestattung (im Verfahren) oder eine Duldung (nach einer Ablehnung). Es ging auch um die Alltagsprobleme, die aufgrund der öffentliche Debatte entstehen, sei es bei der Suche nach einer Wohnung oder nach Arbeit. Zu viele haben "gehört", dass Afghanen nicht bleiben dürfen, und wollen keine Verträge abschließen.

Viele beklagten sich auch über die Ungerechtigkeit: Flüchtlinge aus Syrien oder dem Iran dürfen schon nach dem Stellen des Asylantrages an einem Deutschkurs teilnehmen, während Flüchtlinge aus Afghanistan erst das oft langjährige Verfahren abwarten müssen. Hierzu merkte Norbert Scharbach an, dass auch er diese Regelung der Bundesregierung ungerecht findet, allerdings habe die Landesregierung in diesen Kursen Plätze "dazugekauft", die auch afghanischen Flüchtlingen zur Verfügung stehen, auch wenn die Zahl bei weitem nicht ausreicht.

Martin Link vom Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein mahnte noch: Auch wenn die Landesregierung einen Abschiebungsstopp erlasse, würde der voraussichtlich nur für drei Monate gelten. Dann wäre das aber keine Zeit zum Ausruhen, sondern diese drei Monate müsste man nutzen, um für einzelne Flüchtlinge eine längerfristige Lösung zu finden. Er nannte als Möglichkeiten die "Ausbildungsduldung", die aber einen registrierten Vertrag über einen Ausbildungsplatz voraussetze. Eine weitere Möglichkeit wäre die Aufenthaltserlaubnis für Jugendliche aufgrund ihres Schulbesuches § 25 a des Aufenthaltsgesetzes) oder auch ein Antrag der Härtefallkommission. Aber ein Abschiebungsstopp wäre eben keine Lösung, sondern nur eine Atempause, auch wenn der Flüchtlingsrat die Ankündigung der Landesregierung ausdrücklich begrüße.

Wie weiter?

Die CDU und FDP im Landtag lehnen den Abschiebungsstopp ab, die CDU hat bereits am 14. Februar eine "Aktuelle Stunde" zum neuen Asylkompromiss der Bundesregierung mit den Ländern gefordert. Sie kritisiert, dass die Landesregierung dem Vorschlag von Bundeskanzlerin Merkels "16-Punkte-Plan" zur Beschleunigung von Abschiebungen folgen wollte, aber kein Abschiebegefängnis in Schleswig-Holstein baut.

SPD, Grüne, SSW und Piraten begrüßten dagegen den Abschiebungsstopp.

Wichtig ist natürlich die Information der Flüchtlinge selbst: Der Abschiebungsstopp ist auf drei Monate begrenzt und betrifft nur Flüchtlinge, die endgültig abgelehnt sind, für die aber eine schleswig-holsteinische Ausländerbehörde zuständig ist. So sind z.B. Afghanen in der großen Flüchtlingsunterkunft in Bad Segeberg weiterhin theoretisch von Abschiebung bedroht, weil für sie die Hamburger Ausländerbehörde zuständig ist. Flüchtlinge, die in Hamburg einen Ausbildungsplatz haben, aber in Schleswig-Holstein wohnen, sind erstmal geschützt. Sind sie mit Erhalt des Ausbildungsplatzes umgezogen, könnten sie in Gefahr sein. Allerdings will auch Hamburg bevorzugt junge Männer ohne Arbeit abschieben.

Vor allem ist es wichtig, über die Möglichkeiten aufzuklären, ohne Anerkennung des Asylantrags auf anderen Wegen zu einer Aufenthaltserlaubnis zu kommen. Genauso wichtig ist es, den Betroffenen die Zahlen klar zu machen: Wenn von 12.000 Geduldeten jeden Monat 35 abgeschoben werden, sind das in drei Monaten gerade mal ein Prozent.

Die Kampagne zielt nicht nur auf Wählerinnen und Wähler der heranrückenden Bundestagswahl im September. Sie zielt auch darauf, Flüchtlinge im Asylverfahren massiv zu verunsichern. Denn parallel zur Abschiebungsdrohung gibt es auch ein neues Prämien-System. Wer den Asylantrag abbricht und freiwillig nach Afghanistan zurückkehrt, kann mehr als 1.200 Euro Prämie erhalten. Das klingt nicht nach viel, aber für frisch eingetroffene Flüchtlinge sind das eben mehr als 85.000 Afghani, ein kleines Vermögen. Doch einer solchen Entscheidung sollte eine solide und unabhängige Beratung vorangehen - daran fehlt es meistens.

Entscheidend ist dabei der Einsatz professioneller Dolmetscherinnen und Dolmetscher. Denn die Regelungen im Aufenthaltsgesetz und im Asylgesetz sind nicht einfach, und in der Regel kommt es auf Details an. Die Veranstaltung in Lübeck wurde von Jahan Mortezai gedolmetscht, der aus dem Iran kommt und lange Zeit als Berater für Flüchtlinge bei der AWO gearbeitet hat. Auch das Verstehen der täglichen Nachrichten kann schiefgehen, wenn man nur Anfänger-Kenntnisse im Deutschen hat. So ist es für viele schwierig, zwischen Ankündigungen, Forderungen und Beschlüssen zu unterscheiden, wenn es um Regelungen für Flüchtlinge geht.

Insbesondere die Unterscheidung zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein kann denjenigen schwer fallen, die Staat oder Regierung kennen, nicht aber, den Föderalismus. Und: Einheimische können ja auch nicht erklären, warum zwei Flüchtlinge aus Afghanistan unterschiedlich behandelt werden, nur weil einer in Altona, der andere in Norderstedt wohnt. Denn die meisten Flüchtlinge siedeln sich ja nicht an, sie werden von Behörden verteilt. Und plötzlich ist es ein relativ schlichtes Computerprogramm einer Behörde, das letztlich über Leben und Tod entscheidet.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 342 - März 2017, Seite 33 - 35
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Mai 2017

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