Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


GEGENWIND/727: It's the economy, stupid! - Vor 150 Jahren erschien "Das Kapital. Erster Band"


Gegenwind Nr. 347 - August 2017
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Buchvorstellung
It's the economy, stupid!
Vor 150 Jahren erscheint "Das Kapital. Erster Band"

von Günther Stamer


Das Buch machte ihn berühmt - lukrativ war es für den Autor allerdings nicht. Das hatte er von Anfang an befürchtet. An seinen Schwiegersohn Paul Lafargue schrieb Karl Marx, nachdem er das Manuskript bei seinem Verleger abgeliefert hatte: "'Das Kapital' wird mir nicht einmal so viel einbringen, als mich die Zigarren gekostet, die ich beim Schreiben geraucht." Da sollte der sich sich ständig in Geldnöten befindliche Marx leider Recht behalten.


Und dabei hatte er sich mit diesem Werk doch länger herumgequält, als er sich das gedacht hatte. Im April 1851 schrieb er an Engels, dass er, einmal begonnen, "in fünf Wochen mit der ganzen ökonomischen Scheiße fertig" sein würde. Hier irrte der Meister. Tatsächlich sollten sechzehn Jahre vergehen, ehe Marx den ersten Teil seiner Untersuchungen veröffentlichte. Das lag - neben den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Problemen, denen sich Marx zeitlebens ausgesetzt sah - vor allem auch an der komplizierten Materie, der Marx bis auf den Grund gehen wollte.

Der "letzte Endzweck" seines Werkes sei, schreibt Marx im Vorwort, "das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen". Klingt fast nach den Worten, die Goethe seinem Faust in den Mund legt, wenn jener danach strebt "was sie Welt im Innersten zusammenhält." Apropos: In dem Zweiten Teil vom "Faust" widmet sich Goethe auch ökonomischen Themen und problematisiert den Fetischcharakter von Gold und Geld.

Vergleichbar mit Goethe hat Marx den ersten Band seines "Kapitals" im besten Sinne "durchkomponiert": Er verbindet theoretische Analysen, historische Einschübe und detaillierte Schilderungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen der englischen Arbeiterklasse; unzählige Anspielungen auf Stoffe und Gestalten der griechischen Mythologie, der Weltliteratur, der Kirchen- und der Philosophiegeschichte stellen überraschende, dialektische Verbindungen her und machen das Studium des Werkes nicht nur zu einem Lehrbuch der Ökonomie sondern nehmen den Leser auf eine umfassende "Bildungsreise" mit.

Marx hatte sich jahrelang jeden Morgen unter die große Kuppel der British Museum Library, gesetzt, hatte die Börsenspalten der Times und die Berichte der Regierung zur Lage in den Fabriken gelesen, er beschäftigte sich mit Differentialrechnung, Schafzucht, Steuer-, Erb- und Strafrecht, Handelsrouten und Aktienkursen.

Marx liefert das Manuskript persönlich in Hamburg ab

Vor 150 Jahren fand "Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band" von Hamburg aus seinen Weg in die Welt. Am 14. September 1867 meldete das Börsenblatt des deutschen Buchhandels sein Erscheinen. Der Hamburger Verleger Otto Meissner brachte das Buch mit einer Startauflage von gerade einmal 1000 Exemplaren auf den Markt. Der Band kostete drei Taler und zehn Groschen.

Marx war sich zwei Jahre zuvor mit dem Verleger Otto Meissner einig geworden und hatte sich zur persönlichen Übergabe des Manuskripts verpflichtet. Kurz vor Ostern 1867 - nach fast zwanzig Jahren - betritt Marx damit erstmals wieder deutschen Boden. Bevor er aufbrechen konnte, musste er seine "Kleidungsstücke und Uhr, die im Pfandhaus wohnen, herausnehmen". Von Engels mit 35 Pfund "Kredit" ausgestattet und mit schlechtem Gewissen (wegen des zweijährigen Zeitverzuges) machte sich Marx auf den Weg.

Am Freitag, dem 12. April, mittags um zwölf Uhr, steuerte die "John Bull" sicher an die Hamburger Landungsbrücken. Marx ging gleich nach seiner Ankunft zu Meissners Geschäftslokal in der Bergstraße 26 in Hamburgs Innenstadt. Wo das Verlagshaus stand, findet sich heute ein Haushaltswarengeschäft, statt Zingg's Hotel (wo Marx logierte) steht heute die Deutsche Bank. Auf Initiative von Dieter Beuermann, dem Hauptgesellschafter des jetzt in Berlin ansässigen Otto Meissner Verlag wurde am 12. April 2017 in der Bergstraße 26 / Ecke Ballindamm eine Gedenktafel für Karl Marx und "Das Kapital" eingeweiht.

Marx blieb vier Tage an der Elbe, bevor er am 16. April der Einladung seines Freundes Louis Kugelmann nach Hannover folgte. Er sollte, darauf hatte Meissner bestanden, für die Korrektur der Druckbogen "zur Hand" sein.

Zur Wirkungsgeschichte des "Kapitals"

Die von Karl Marx verfasste Analyse des ökonomischen Bewegungsgesetzes der kapitalistischen Gesellschaft geriet zum absoluten Longseller. Bis heute.

Allein zwischen 1969 bis 1975 - der Hochzeit der bundesdeutschen Studenten- und Lehrlingsbewegung und der Existenz unzähliger linker Organisationszusammenhänge - verkaufte der Dietz Verlag (DDR) jährlich gut 50.000 Exemplare des 955 Seiten umfassenden blauen Bandes 23 der MEW (Marx-Engels-Werke). Später gingen die Verkäufe vom "Kapital" bis auf ein paar hundert Exemplare zurück. Doch seit der Finanzkrise (2007) geht es wieder aufwärts, zwischen 800 und 1500 Exemplare verkaufte Dietz in den vergangenen Jahren. Seit 2013 gehört das Buch zum literarischen Weltkulturerbe der UNESCO, neben u.a der Gutenberg-Bibel, dem Nibelungenlied und dem "Manifest der Kommunistischen Partei".

Die "revolutionäre Arbeiterbewegung", erreichten die ökonomischen Erkenntnisse des "Kapitals" in der Regel nicht durch die Lektüre der "dicken Schwarte" sondern durch "populäre Zusammenfassungen" und Darlegungen von Teilaspekten in den Publikationen der Sozialdemokratie. Die Massenbasis der SPD, die Arbeiterklasse, hatte in der Regel acht Jahre "Volksschule" und lange Wochenarbeitszeiten, und wer in der Partei oder einer Gewerkschaft kämpfte, verfügte über noch weniger Muße für die Lektüre eines Buchs, dessen Verständnis ein hohes Maß auch mitgebrachter formaler Bildung erforderte. In der Arbeiterbewegung hatte also nur eine schmale Elite dieses Werk ganz gelesen.

In den ersten beiden Dritteln des 20. Jahrhunderts dominierte Fachökonomisches die "Kapital"-Rezeption sowohl in den im Westen einflussreichen Darstellungen von Paul M. Sweezy oder Ernest Mandel als auch in den Lehrbüchern des Realsozialismus. Und gleichermaßen war man der Auffassung, dass Marx' "Kapital" die Entwicklung des Konkurrenzkapitalismus, Lenin die des Imperialismus analysiere und damit im Grunde der "aktuellere" sei.

Dabei wurde kaum zur Kenntnis genommen, dass Marx sich bereits im Vorwort von 1867 gegen solche Stadientheorien gewendet hat: "An und für sich handelt es sich nicht um den höheren oder niedrigeren Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Antagonismen." Der "letzte Endzweck" seines Werkes sei es, "das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen".

Die aktuellen "Kapital"-Lektüren finden heute fast ausschließlich in einem akademischen Umfeld statt. Befruchtet wird dies durch die nun vorliegenden Bände der MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe), die sowohl tiefere Einblicke in den Entstehungsprozess des Werkes vermitteln als auch transparenter machen, inwieweit Friedrich Engels die Bände zwei und drei des Marxschen Kapital Konvoluts bearbeitet und zusammengestellt hat.

Warum auch nach 150 Jahren noch aktuell?

In einem aktuell erschienenen Buch schreibt Michael Krätke, Professor für Politische Ökonomie: "Alle antikapitalistischen Bewegungen müssen sich darüber klar werden, was das ist, was sie da eigentlich kritisieren und bekämpfen. Sie brauchen sie eine klare, rationale und radikale Form der Kapitalismus-Kritik, die sich nicht an diesem oder jenem "Auswuchs" - den "Heuschrecken", der "Spekulation", den "Multinationalen Konzernen" etc. - festbeißt, sondern aufs Ganze geht und dies Ganze auch im Kern und an der Wurzel trifft. Kapitalismus heute (wie damals) ist eben mehr als ein paar empörende Praktiken, mehr als Wirtschaftskriminalität, mehr als Spekulationsblasen, obwohl all das dazu gehört.

Gerade heute ist Marx' radikale Kapitalismuskritik aktueller denn je. Der ach so veraltete Marx liefert einige der analytischen Kategorien, die man braucht, um das aktuelle Geschehen zu begreifen. Nur in der Marxschen Kritik wird der Zusammenhang von Geld und Kapital zureichend gefasst, nur Marx verdanken wir die Kategorie und die Analyse des Geldes als Kapital, nur Marx kann erklären, warum Geld als Kapital sich verselbstständigen und vom Kreislauf des industriellen, produktiven Kapitals, von der kapitalistischen 'Realökonomie' ablösen kann. Nur Marx, der die Geld- und Finanzmarktkrisen seiner Zeit genau studiert hatte, liefert in seiner fragmentarischen Darstellung des modernen Kredit- und Banksystems die Kategorien, mit denen man die Bewegungen einer Spekulationsblasen-Ökonomie verstehen kann."

Ausstellung im Hamburger "Museum der Arbeit"

Vom 7. September 2017 bis 4. März 2018 nimmt das Hamburger "Museum der Arbeit", Wiesendamm 3, die Erstveröffentlichung zum Anlass für eine umfangreiche Ausstellung zur Geschichte und Aktualität von Karl Marx' "Das Kapital". Sie spannt einen Bogen von der Zeit der Entstehung des Werks im 19. Jahrhundert über die widersprüchliche Rezeption im 20. Jahrhundert bis zu heutigen Fragen der Produktion und Verteilung von Reichtum und Armut. Ziel der Ausstellung ist es, zum Nachdenken über Aktualität und Grenzen dieses umkämpften Klassikers anzuregen.

Marx kam es darauf an, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Deshalb fragt die Ausstellung auch danach, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Ein "Sozialismusmodell" hat Marx im "Kapital" (und in seinen anderen Schriften) nicht zu bieten. Über Marx' und Engels' Weigerung, sozialistische Modelle zu basteln, haben ihre linken Freunde schon zu ihren Lebzeiten gejammert. Der politische Gegner versuchte sie doch immer wieder auf ein bestimmtes Bild von der "Zukunftsgesellschaft" festzunageln und rieb und reibt ihnen das Scheitern "sozialistischer" und "kommunistischer" Experimente unter die Nase.


Marx/Engels: Werke (MEW) Band 23. Das Kapital. Erster Band.
Dietz Verlag, Berlin, 24. Auflage 2013, 24,90 EUR

Michael R. Krätke: Kritik der politischen Ökonomie heute. Zeitgenosse Marx.
VSA-Verlag, Hamburg 2017, 248 Seiten, 19,80 EUR

*

Quelle:
Gegenwind Nr. 347 - August 2017, Seite 79 - 81
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
Redaktion: Tel.: 0431/56 58 99, Fax: 0431/570 98 82
E-Mail: redaktion@gegenwind.info
Internet: www.gegenwind.info
 
Der "Gegenwind" erscheint zwölfmal jährlich.
Einzelheft: 3,00 Euro, Jahres-Abo: 33,00 Euro.
Solidaritätsabonnement: 46,20 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. August 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang