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GEGENWIND/559: Erdbebensicherheit von Atomkraftwerken - Deutschland unterläuft EU-Stresstest


Gegenwind Nr. 299 - August 2013
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Erdbebensicherheit von Atomkraftwerken:
Deutschland unterläuft EU-Stresstest

Von Karsten Hinrichsen



Viele Gesprächspartner können sich nicht vorstellen, dass es in Norddeutschland Erdbeben geben kann, die dem AKW Brokdorf gefährlich werden könnten. Und doch ist erst im Jahr 1770 eins beobachtet worden, dem das AKW möglicherweise nicht Stand halten würde. Die Erdbebensicherheit des AKW Brokdorf ist derzeit nicht nachgewiesen.


Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) verwendet für die Festlegung von Bemessungserdbeben die maximal auftretende horizontale Bodenbeschleunigung. Dabei entspricht die Bodenbeschleunigung von 0.05 g der Erdbeben-Intensitätsstufe VI auf der Intensitätsskala nach Medvedev, Sponheuer und Karnik (g = 9.81 m/s² ist die Erdbeschleunigung), die Bodenbeschleunigung von 0.1 g ist vergleichbar mit der Intensitätsstufe VII.

Der Safety Guide SSG-9 der IAEA hält für die Erdbebensicherheit von AKWs eine Mindestauslegung von 0.1 g, also die Stufe VII, für erforderlich.

Abweichend hiervon wird in Deutschland weiterhin als Mindestanforderung an die Erdbebensicherheit von AKWs die Intensitätsstufe VI zugrunde gelegt (1). Dies erfolgte "nach sehr intensiver Diskussion zwischen dem deutschen Kerntechnischen Ausschuss-Arbeitsgremium und der IAEA" (3). Das Stress Test Peer Review Board, zitiert nach (4), hat den deutschen Regulierungsbehörden (Reaktorsicherheitskommission, RSK) empfohlen, "die möglichen sicherheitstechnischen Auswirkungen zu bedenken, die sich dadurch ergeben, dass eine maximale Bodenbeschleunigung unterhalb der international empfohlenen verwendet wird". Eine sehr diplomatisch formulierte Rüge.

Um diesen Dissens zu entschärfen, hat das Bundesumweltministerium den RSK-Ausschuss "Anlagen- und Systemtechnik" um Beratung und die Beantwortung von vier Fragen ersucht, (4). Die RSK stellt in ihrer Stellungnahme tatsächlich fest, dass an einigen Standorten in Deutschland die von der IAEA geforderte Mindest-Erdbebensicherheit für AKWs nicht vorliegt. Die Empfehlung der RSK lautet, eine Nachbewertung der seismischen Widerstandsfähigkeit der betroffenen Anlagen auf der Basis von Analysen anhand der IAEA-Guide NS-G-2.13 (5) vorzunehmen.

Dieser Nachweis ist meines Wissens für das AKW Brokdorf bisher nicht für die gesamte Anlage geführt. Dabei beziehe ich mich auf folgende Hinweise:

In der Sicherheitsüberprüfung der RSK (6) heißt es zum AKW Brokdorf, "dass bei den von einer Leistungserhöhung betroffenen Anlagenteilen ausreichende Reserven vorhanden sind, um auch ein Erdbeben der Intensität VII zu beherrschen". Das heißt im Umkehrschluss, dass nicht das gesamte AKW entsprechende Erdbeben übersteht; zumindest ist es derzeit nicht nachgewiesen. Und in (7) wird eine "systematische Überprüfung der Robustheit bei auslegungsüberschreitenden Erdbeben" gefordert, was z. Z. in Arbeit ist und in 2013 fertig gestellt sein soll.

Des weiteren müssten zusätzliche Nachweise für Druckbelastungen aus Explosionsdruckwellen, die von vorbeifahrenden Gastankern ausgehen, Flugzeugabsturz, Beschuss, über den Deich strömendes Wasser bei Sturmfluten geführt werden.

Ein Gutachten des Niedersächsischen Landesamts für Bodenkunde (2) fordert für das AKW Brunsbüttel wegen eines im Jahr 1770 in Alfhausen bei Osnabrück aufgetretenen Erdbebens der Intensität VII (weil Brunsbüttel gemäß (1) auf der gleichen seismotektonischen Einheit und nur 200 km entfernt liegt und weil der Salzstock Belmhusen bei Brunsbüttel eine vergleichbare Sockelstörung aufweist) eine Auslegung gegen Erdbeben der Intensität VII. Weiter wird in (6) darauf verwiesen, dass vom Erdbebenzentrum Potsdam neue Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten von Erdbeben vorgelegt wurden, die für einige AKW-Standorte eine Verstärkung der Erdbebensicherheit erforderlich machen. Die gleiche Argumentation trifft auf das nur 12 Kilometer entfernte AKW Brokdorf zu - ein weiterer Grund, das AKW Brokdorf stillzulegen.

Der Streit um die Mindestauslegung von AKWs gegen Erdbeben lehrt, dass deutsche AKW keinesfalls in allen Punkten die sichersten der Welt sind. Vielmehr werden AKWs überall auf der Welt möglichst kostengünstig errichtet und mögliche Gefahren herunter gespielt. Das ist beim AKW Brokdorf nicht anders als in Fukushima.

Karsten Hinrichsen, Brokdorf


Anmerkungen:

(1) Sicherheitstechnische Regel KTA 2201.1 Auslegung von Kernkraftwerken gegen seismische Einwirkungen, Teil 1: Grundsätze, Fassung 2011-11

(2) Seismologisches Gutachten KKB, 1994, Niedersächsisches Landesamt für Bodenforschung Hannover

(3) Stellungnahme der e.on vom 19.5.2012 "Fachgespräch zum Folgekern am 14.05.2012 im Zuge der Erlangung der Wiederanfahrgenehmigung nach der 24. Revision"

(4) RSK-Stellungnahme (457. Sitzung am 11.4.2013) Mindestwert von 0,1 g (ca. 1,0 m/s²) für die maximale horizontale Bodenbeschleunigung bei Erdbeben

(5) IAEA Saftety Standard, Safety Guide No. NS-G-2.13, 2009.

(6) RSK-Stellungnahme (437. Sitzung vom 11. bis 14.5.2011) Anlagenspezifische Sicherheitsüberprüfung deutscher Kernkraftwerke unter Berücksichtigung der Ereignisse in Fukushima.

(7) Aktionsplan zur Umsetzung von Maßnahmen nach dem Reaktorunfall in Fukushima vom 31.12.2012.

Alle Zitate sind im Internet mit Hilfe einer Suchmaschine abrufbar.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 299 - August 2013, Seite 26
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2013