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GLEICHHEIT/2416: Nordirland - nach den Erschießungen steigt die Angst um den Friedensprozeß


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI)

Nordirland:
Nach Erschießung von Soldaten und Polizisten steigt die Angst um den Friedensprozess

Von Julie Hyland
12. März 2009
aus dem Englischen (11. März 2009)


In Großbritannien und Nordirland sind die Medien voller nahezu apokalyptischer Warnungen: Der "Friedensprozess" in Nordirland, der eine Machtteilung zwischen republikanischen und protestantischen Parteien erreicht hatte, könnte scheitern.

Grund ist die Ermordung zweier britischer Soldaten vor ihrer Kaserne in Antrim am Samstagabend. Zwei maskierte Männer eröffneten das Feuer auf die Soldaten. Sie nutzten als Tarnung für ihren Angriff eine Pizza-Lieferung in die Kaserne. Vier weitere Männer, darunter zwei Pizza-Lieferanten, wurden verwundet. Am späten Montagabend wurde ein Polizist erschossen, als er in Craivagon, etwa 40 Kilometer südlich von Belfast, auf einen Notruf reagierte.

Die Real IRA (RIRA) übernahm die Verantwortung für den ersten Anschlag, und die Continuity IRA (CIRA) für den zweiten. Diese beiden IRA-Abspaltungen lehnen das Machtteilungsabkommen ab. Sie werfen Sinn Fein und der IRA Ausverkauf vor, haben aber selbst nichts anderes zu bieten als die Fortsetzung jener bankrotten und reaktionären Perspektive, religiös motivierte Feindseligkeiten wieder anzufachen. Auf diese Weise wollen sie gegen die andauernde britische Anwesenheit in Nordirland kämpfen.

Die RIRA verteidigte den Angriff auf die Pizza-Fahrer - einen 19-jährigen ortsansässigen Jugendlichen und einen polnischen Einwanderer - als legitimen Angriff auf "Kollaborateure" mit den Briten. Die CIRA ließ nach dem Mord an dem Polizisten verlauten: "Solange die Briten sich in Irland einmischen, werden diese Angriffe weiter gehen."

Dass die Angriffe einen Schock auslösen, ist einerseits verständlich. Der Angriff auf die Kaserne sollte größtmögliches Aufsehen erregen. Seit mehr als zehn Jahren wurde in Nordirland kein Soldat oder Polizist mehr getötet.

Aber das kann nicht die allenthalben herrschende Besorgnis über das Schicksal des gesamten Abkommens erklären. Die RIRA ist völlig an den Rand gedrängt worden, seit sie 1998 den Anschlag von Omagh verübte, bei dem 29 Menschen getötet wurden.

Die allgemeine Empörung über Omagh verstärkte damals die Unterstützung für das britisch-irisch-amerikanische Karfreitagsabkommen. Es sollte solchen Gräueltaten durch die Zusammenarbeit der protestantischen (loyalistischen) und republikanischen Parteien im nordirischen Parlament ein Ende bereiten.

Die verschiedenen republikanischen Splittergruppen, die das Abkommen ablehnten, sollen heute nicht mehr als ein paar hundert Kernmitglieder umfassen, die einer engen Überwachung unterliegen. Einige ihrer Führer sitzen im Gefängnis, und meistens bekämpfen sie sich gegenseitig, anstatt die britischen Truppen.

Seit Anfang 2008 haben diese Dissidentengruppen mit unterschiedlichem Erfolg achtzehn Anschläge mit Schusswaffen und Bomben verübt. Es hat auch mehrere Anschlagsversuche auf Polizisten gegeben. Aber im jüngsten Bericht der Unabhängigen Überwachungskommission (IMC), die von der britischen und der irischen Regierung eingesetzt wurde, um über paramilitärische Aktivitäten zu berichten, wird folgendes erklärt: Zwar habe die RIRA weiter versucht, "ihre organisatorischen Fähigkeiten zu steigern", aber die Polizei "auf beiden Seiten der Grenze hat die Operationen der Dissidenten erfolgreich gestört und Verdächtige festgenommen". Ihre Rekrutierungsbemühungen seien nur mäßig erfolgreich gewesen.

Die Isolierung der Abkommensgegner wird noch durch die Partnerschaft verstärkt, die die Democratic Unionist Party (DUP) und Sinn Fein eingegangen sind. Die DUP hat deutlich gemacht, dass sie die jüngsten Anschläge nicht Sinn Fein anlasten will, während Sinn Fein-Führer Gerry Adams die Öffentlichkeit aufforderte, der Polizei bei der Ergreifung der Täter zu helfen.

Die Vertreterin der Social and Democratic Labour Party, Dolores Kelly, sagte, die Angriffe hätten Irland "an den Rand des Abgrunds" gebracht, und David Simpson von der DUP nannte sie "den wiederholten Versuch, ... Nordirland wieder in die schlimmsten Tage von Ulsters Vergangenheit zurückzustoßen".

Die Irish Times meinte, die Schießereien seien "eine viel größere Gefahr für die Lebensqualität auf dieser Insel als der drohende Zusammenbruch der globalen Wirtschaft. Macht euch nichts vor. Das erneute Aufbrechen von Gewalt in Nordirland würde dem Friedensprozess unermesslichen Schaden zufügen, ausländische Investitionen abschrecken und zu steigender Arbeitslosigkeit und sinkendem Lebensstandard führen."

Schon vor den Schießereien warnten führende Polizeichefs vor Gefahren für den "Friedensprozess". Keine 48 Stunden vor dem Angriff auf die Kaserne gab der nordirische Polizeichef Sir Hugh Orde bekannt, er habe die Entsendung der verdeckt arbeitenden britischen Spezialeinheit SSR für den Kampf gegen die IRA-Dissidentengruppen angefordert.

Diese Einheit ist vor vier Jahren für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus gebildet worden; sie wurde im Irak und in Afghanistan eingesetzt. Sie setzt die Tradition des "schmutzigen Kriegs" Großbritanniens in Irlands Norden fort, in dem abgehört, spioniert und ermordet wurde. Die Einheit soll auch an der Erschießung des unschuldigen brasilianischen Elektrikers, Jean-Charles de Menezes, nach den Bombenanschlägen vom 7. Juli in London beteiligt gewesen sein.

Der Einsatz wurde damals von Sinn Feins stellvertretendem Ersten Minister, Martin McGuiness, verurteilt. "Die Geschichte des Nordens zeigt, dass viele dieser Kräfte eine mindestens so große Gefahr für die Öffentlichkeit waren wie so manche andere Gruppe", sagte er.

Britische Kommentatoren verrissen sich anschließend das Maul über McGuiness.

Jedenfalls ist die Klage von McGuiness unaufrichtig, der Einsatz der SSR habe die Nordirische Versammlung und den Polizeirat übergangen.

Sinn Fein hat das neue Polizeisystem in Nordirland vollkommen akzeptiert. Konkret hat sie das von der britischen und amerikanischen Regierung betriebene St.-Andrews-Abkommen vom Oktober 2006 unterzeichnet, in dessen Anhang E steht, dass der [Geheimdienst] MI5 die Gesamtführung in der nationalen Sicherheit im Norden übernimmt.

Heute gibt der MI5 fünfzehn Prozent seines Budgets für die Aktivitäten in Nordirland aus und eröffnete 2007 in Belfast seine größte regionale Dependance außerhalb Londons.

Was Orde dazu brachte, diese öffentliche Ankündigung zu machen, ist unklar. Jedenfalls ist die Vorstellung, dass der britische Geheimdienst bisher nicht in Nordirland tätig war, ziemlich weit hergeholt. Und warum waren die britischen Soldaten so arglos, dass sie ihre Kaserne unbewaffnet verließen, um eine Pizza anzunehmen? War nicht laut Orde die Anforderung der SRR notwendig, um einer größeren Bedrohung durch Dissidentengruppen zu begegnen, die es rechtfertigte, die Terrorwarnung von "stark" auf "schwer" zu erhöhen?

Zumindest hat sich McGuiness' Warnung, dass die Bekanntgabe eines schärferen Vorgehens gegen republikanische Abweichler "gefährlich" sei, als korrekt erwiesen. Nicht zuletzt deswegen, weil sie deutlich machte, dass die wirkliche Macht in Nordirland auch elf Jahre nach dem Karfreitagsabkommen immer noch beim britischen Imperialismus liegt.

Teile der britischen herrschenden Elite nutzen die Morde, um von Sinn Fein die völlige Unterwerfung zu verlangen und zu fordern, dass sie die britische Armee unterstütze und die Polizeistaats-Maßnahmen mittrage, die gegen die Dissidentengruppen folgen werden.

Doch das hängt mit der viel weiter reichenden Angst vor den Auswirkungen der kapitalistischen Krise auf Nordirland zusammen.

Die World Socialist Web Site hat immer erklärt, dass das Karfreitagsabkommen von 1998 nicht bedeutet, dass die Machtinstitutionen im Norden wirklich einer demokratischen Kontrolle unterworfen werden. Vielmehr stand der Wunsch des britischen und amerikanischen Imperialismus dahinter, mit Hilfe der irischen Regierung und durch Einbeziehung von Sinn Fein ein stabileres Umfeld für das internationale Kapital und transnationale Konzerne zu schaffen.

Deswegen galt die erste Sorge der Irish Times nach den Anschlägen den internationalen Investitionen. Das ist auch die Perspektive aller wichtigen loyalistischen und republikanischen Parteien, die darin übereinstimmen, dass der Norden, um wettbewerbsfähig zu werden, ein Niedrigsteuergebiet wie jenes im Süden werden müsse.

Diese Unsicherheit des Wirtschaftsprogramms unter Bedingungen einer globalen Rezession haben die Befürchtungen für den "Friedensprozess" verstärkt.

Die Irish Times warnte weiter: "Es sind gefährliche Zeiten. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in eine bessere Zukunft hat wohl durch den Wirtschaftsabschwung eine Delle erhalten. Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Möglichkeiten können paramilitärischen Elementen auf beiden Seite der Grenze neue Rekrutierungsmöglichkeiten eröffnen."

Die irische Wirtschaft im Süden ist besonders von der globalen Rezession betroffen. Es wird weithin angenommen, dass Irland über kurz oder lang dem isländischen Beispiel folgen und den Staatsbankrott erklären müsse. Die britische Wirtschaft ist nicht viel besser dran.

Nordirland droht der wirtschaftliche Zusammenbruch, weil es sich nicht mehr auf seinen Partner im Süden, den "keltischen Tiger", und auf seine wichtigen Märkte in Großbritannien stützen kann. Im Dezember warnte der Belfast Telegraph, geplante Infrastrukturprojekte müssten wohl aufgegeben werden. "Die außergewöhnliche Abhängigkeit des Nordens von der Beschäftigung im Öffentlichen Dienst" mache ihn "besonders verletzlich, wenn die unvermeidlichen Kürzungen kommen". Die britische Regierung sorgt heute noch für zwei Drittel der Wirtschaftsleistung und für ein Drittel der Arbeitsplätze.

Der Zusammenbruch des Immobilienmarkts hat im Norden zu einem stärkeren Verfall der Hauspreise geführt als in anderen Teilen Großbritanniens. Diese Preise fielen letztes Jahr um 34 Prozent. Es folgten umfangreiche Entlassungen in der Bauindustrie. Nordirland erlebte den Monat mit dem stärksten Anstieg der Arbeitslosigkeit seit fast dreißig Jahren. Zu den zehn Bezirken mit der höchsten Steigerungsrate der Arbeitslosigkeit in Großbritannien gehören sechs städtische Bezirke in Nordirland.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 12.03.2009
Nordirland: Nach Erschießung von Soldaten und Polizisten steigt die
Angst um den Friedensprozess
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. März 2009