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GLEICHHEIT/2832: Türkisches Verfassungsgericht verbietet Kurdenpartei


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Türkisches Verfassungsgericht verbietet Kurdenpartei

Von Justus Leicht
15. Dezember 2009


Am 11. Dezember hat das Verfassungsgericht der Türkei die kurdisch nationalistische DTP [Partei der Demokratischen Gesellschaft] verboten und aufgelöst sowie einer Reihe ihrer Funktionäre ein fünfjähriges Politikverbot erteilt.

Die Partei sei ein "Brennpunkt" separatistischer Aktivitäten und organisch mit der "terroristischen" PKK [Arbeiterpartei Kurdistans] verbunden, begründeten die Richter das Verbot. Dem DTP-Vorsitzenden Ahmet Türk und der früheren Vorsitzenden Aysel Tugluk entzog das Gericht außerdem ihre Sitze im türkischen Parlament. Spontane Proteste gegen das Verbot wurden von der Polizei gewaltsam aufgelöst.

Von den westlichen Ländern, auf die von den kurdischen Nationalisten immer Hoffung gesetzt worden ist, hat die DTP keine Hilfe zu erwarten. Die USA erklärten, das Verbot sei eine "internen Angelegenheit der Türkei". Ein Sprecher des Außenministeriums meinte lediglich, das "demokratische System der Türkei" solle "weiterhin" politische Freiheiten ausweiten. Die Einschränkung politischer Freiheiten solle mit äußerster Vorsicht ausgeübt werden. Die EU verurteilte die Gerichtsentscheidung ebenfalls nicht und bedauerte lediglich einen Rückschlag für die Demokratisierung der Türkei.

Das Verbot der DTP ist ein Angriff auf die grundlegenden demokratischen Rechte der Meinungs- und Organisationsfreiheit. Obwohl die World Socialist Web Site die Politik der DTP und der PKK ablehnt, verurteilen wir das Verbot uneingeschränkt. Einmal mehr hat sich die Türkei als "Friedhof der Parteien" erwiesen. Während westliche Medien über einen Rückschlag für die Bemühungen der Regierung der gemäßigt islamistischen AKP um eine demokratische Lösung des Kurdenproblems schwadronieren, zeigt das Verbot in Wirklichkeit die Unfähigkeit aller Fraktionen des türkischen Establishments - der kemalistischen wie der islamistischen - zu einer solchen Lösung.

Das Verfassungsgericht hat seit 1993 bereits vier kurdisch-nationale Parteien verboten: Die HEP [Volkspartei der Arbeit], die DEP [Demokratie-Partei], die HADEP [Demokratie-Partei des Volkes], Vorgängerin der DTP, sowie die ÖZDEP [Freiheit und Demokratie Partei]. Die DTP ist die fünfte solche Partei, die verboten wird.

Die DTP wurde erst 2005 gegründet, errang jedoch bei den Parlamentswahlen 2007 bereits 20 Sitze in der türkischen Nationalversammlung und erreichte damit Fraktionsstärke. Sie war mit formell "unabhängigen" Kandidaten angetreten, um die Sperrklausel von 10 Prozent zu umgehen. Ihre Anhänger und Wähler hat sie ganz überwiegend in den mehrheitlich kurdischen Provinzen der Südosttürkei, im übrigen Land findet ihr leicht "links" eingefärbter kurdischer Nationalismus wenig Unterstützung. Umgekehrt sah es eine Zeitlang eher so aus, als könnte die AKP ihr auch in den Kurdengebieten den Rang ablaufen. Die AKP wurde auch von vielen Kurden als Alternative zum korrupten und repressiven kemalistischen Establishment angesehen, ihr Eintreten für begrenzte politische Liberalisierung verlieh ihr vor allem wegen ihres Konflikt mit dem türkischen Militär eine gewisse Glaubwürdigkeit.

Das änderte sich spätestens nach 2007, als der AKP-Vorsitzende und Regierungschef Recep Tayyip Erdogan in der Kurdenfrage teilweise mit dem Militär zusammenarbeitete und im Oktober grünes Licht für Angriffe auf den kurdisch dominierten benachbarten Nordirak gab. Ebenfalls im Jahr 2007 wurde der Verbotsantrag gegen die DTP beim Verfassungsgericht eingereicht.

Die AKP ist für die seit 2008 andauernde militärische Aggression gegen den Nordirak ebenso politisch verantwortlich wie für die brutale Niederschlagung der Maikundgebung in Istanbul desselben Jahres. Das unterstreicht, dass sie trotz ihrer gelegentlichen beschränkten Reformversuche eine rein bürgerliche Partei mit islamistischen, nationalistischen und wirtschaftsliberalen Tendenzen ist, ein Feind der Arbeiterklasse und der unterdrückten Massen.

Mangels einer wirklich fortschrittlichen politischen Alternative, welche die türkische und kurdische arbeitende Bevölkerung vereint, profitierte die DTP von der Enttäuschung über die Rechtswende der AKP. Bei den Kommunalwahlen im März 2009 konnte die DTP das Ergebnis ihrer Vorgängerpartei nahezu verdoppeln und in 99 Städten und Gemeinden die Bürgermeister stellen, darunter auch in der Metropole Diyarbakir. Im Südosten der Türkei erhielt sie die Mehrheit der Wählerstimmen.

Es folgte eine massive Welle der Polizeirepression gegen die Partei. Erdogan forderte die DTP parallel dazu ultimativ auf, die PKK als "terroristisch" zu verurteilen. Das tat die DTP nicht. Sie sprach sich für einen Frieden zwischen der PKK und dem türkischen Staat und für die Anerkennung der Kurden als Nation innerhalb der bestehenden Grenzen der Türkei aus. Gleichzeitig unterstützte sie den IWF und eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU.

Sie präsentierte sich damit als völlig bürgerliche Partei, die nicht für die von Armut, Rückständigkeit und Repression gepeinigte kurdische Bevölkerung spricht, sondern teils für kurdische Grundbesitzer und Unternehmer und teils für die aufstrebenden kurdischen Mittelschichten, die den Zentralismus und türkischen Nationalismus als Hindernis für ihren eigenen Aufstieg sehen.

Im August dieses Jahres vollzog die AKP mit stillschweigender Billigung des Militärs eine erneute Wende in der Kurdenpolitik. Ministerpräsident Erdogan traf sich nun mit DTP-Chef Ahmet Türk, obwohl sich dieser nach wie vor weigerte, die PKK als Terroristen zu bezeichnen.

Die Regierung leitete eine "demokratische Initiative" in die Wege, die eine Reihe eng begrenzter Zugeständnisse beinhaltet. Mittlerweile werden an verschiedenen türkischen Universitäten Lehrstühle für Kurdisch eingerichtet, der Gebrauch von "nicht-türkischen" Sprachen soll in privaten Fernsehsendern, Gefängnissen, Moscheen und Wahlkämpfen zugelassen und frühere kurdische Namen von Gemeinden und Plätzen sollen wiederhergestellt werden. Die Präsenz der Sicherheitskräfte in der Südosttürkei sollte ebenfalls reduziert werden. Türkisch bleibt aber einzige Amtssprache und die zentralistische Staatsstruktur wird ebenfalls nicht angetastet.

Die DTP begegnete dem Projekt zunächst trotzdem mit vorsichtiger Unterstützung. Auch der türkische Generalstab signalisierte Zustimmung, solange Artikel 3 der Verfassung unangetastet bleibe. Darin werden Staatsvolk und Staatsgebiet, Sprache, Flagge, Hauptstadt und Nationalhymne der Türkei festgeschrieben. Die Oppositionsparteien, die kemalistische CHP und die faschistische MHP, liefen dagegen Sturm gegen die Initiative. Aus letzterer erklangen sogar Drohungen, man werde nun auch (wie die PKK) "in die Berge gehen", sprich den bewaffneten Kampf aufnehmen.

Die PKK, mit der die AKP-Regierung offiziell jede Verhandlung kategorisch ausgeschlossen hatte, versuchte die "demokratische Initiative" zu nutzen, um sich doch noch in eine Verhandlungsposition zu bringen.

Angeblich auf Anweisung von PKK-Führer Abdullah Öcalan, der auf der Gefängnisinsel Imrali eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt, schickte die Organisation im Oktober zwei Gruppen von Mitgliedern aus dem Nordirak als "Friedensbotschafter" in die Türkei zurück, wo sie in Absprache mit dem Innenministerium von der DTP empfangen wurden. Die fast drei Dutzend Menschen wurden kurzzeitig festgenommen, bald darauf aber wieder freigelassen. Sie reisten durch die Südosttürkei, wo sie von tausenden Anhängern des kurdischen Nationalismus auf von der DTP organisierten Veranstaltungen begeistert gefeiert wurden.

Türkische Nationalisten organisierten daraufhin wütende Proteste gegen die Kurdenpolitik der Regierung. MHP-Führer Devlet Bahceli kommentierte, die AKP habe vor der PKK kapituliert. Einer weiteren "Friedensgruppe" aus Europa verweigerte die Türkei daraufhin die Einreise.

Die PKK ihrerseits verurteilte die Initiative als Täuschungsmanöver und "Plan zur Liquidierung der PKK". Sie beschuldigte die AKP-Regierung, sie habe die Haftbedingungen für Öcalan nicht wie offiziell verkündet gelockert, sondern verschlimmert. Seither ist kaum eine Woche vergangen, ohne dass Parteibüros oder Mitglieder der DTP von türkischen Nationalisten angegriffen wurden oder sich kurdische Nationalisten gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten. Bei einer Kurdendemonstration wurde ein Student von einer Polizeikugel im Rücken getötet.

Die PKK hielt zwar offiziell an einem früher verkündeten Waffenstillstand fest. Eine ihrer Einheiten verübte aber trotzdem einen schweren Anschlag auf das Militär, bei dem sieben Soldaten getötet wurden. Die PKK-Führung erklärte, die Einheit habe auf eigene Initiative gehandelt, dazu sei sie aber berechtigt.

Währenddessen hat die AKP kaum einen Finger gerührt, um ein Verbot der DTP zu verhindern. Dies obwohl die AKP im Parlament über eine überwältigende Mehrheit verfügt und die Regierung und den Präsidenten stellt. Einige ihrer führenden Vertreter begrüßten die Repression gegen die DTP sogar. Der zum nationalistischen Flügel der AKP zählende Cemil Cicek, bis 2007 Regierungssprecher und Justizminister, heute stellvertretender Premierminister, hatte Ende November erklärt, die DTP sei selber für die gegen sie gerichteten Pogrome von Nationalisten verantwortlich und fordere ein Parteiverbot geradezu heraus. Premierminister Erdogan selbst äußerte sich meist etwas kritischer. Er hatte selbst schon wegen einer Meinungsäußerung im Gefängnis gesessen sowie ein Parteiverbot erlebt und weiß, dass ein Verbot der DTP ein Präzedenzfall gegen die AKP sein kann.

Insgesamt hat der islamistische Flügel des Establishments nichts gegen das Verbot der DTP unternommen. Anders als bei der Entscheidung über die AKP letztes Jahr fiel das Urteil über die DTP diesmal einstimmig. Das bedeutet, dass ihm auch sämtliche islamistisch orientierten Richter zustimmten.

Staatspräsident Abdullah Gül, der im Frühjahr dieses Jahres als erster die "demokratische Initiative" zur Kurdenfrage angekündigt hatte, stellte sich ausdrücklich hinter das Urteil des Verfassungsgerichts: "Ich wünschte, Parteifunktionäre würden die notwendige Verantwortung zum Schutz der Parteien zeigen. Aber Gesetz und Verfassung sind eindeutig. Was soll das Gericht machen? Was soll das Gericht machen, wenn eine Partei eine terroristische Organisation als Grund ihrer Existenz angibt?"

Der stellvertretende Vorsitzende der AKP-Fraktion im Parlament, Mustafa Elitas, erklärte, seine Partei sei zwar grundsätzlich gegen Parteiverbote, jetzt müsse aber jeder die Entscheidung des Verfassungsgerichts akzeptieren. Die "demokratische Initiative" sei nicht von der DTP abhängig und werde auch ohne sie weitergehen. Ein Kampf um demokratische Rechte und Prinzipien, bei dem möglicherweise breitere Schichten der Bevölkerung gegen den Staat mobilisiert werden, ist einer bürgerlichen Partei wie der AKP ein Gräuel.

Der DTP-Vorsitzende Ahmet Türk äußerte sich im Grunde recht ähnlich. Er kündigte an, dass alle Parlamentarier seiner Partei - also auch diejenigen, deren Abgeordnetenstatus nicht aberkannt wurde - die Nationalversammlung verlassen. Er warnte vor "Hoffnungslosigkeit" und meinte, mit Dialog und Verständnis seien alle Probleme lösbar. Man werde weiterhin den "demokratischen Prozess" unterstützen. Er unterstrich damit, dass auch die DTP nichts weiter ist als eine bürgerliche Partei, die nicht einmal willens und fähig ist, sich ernsthaft selbst zu verteidigen.

Der einzige Ausweg für die türkische und kurdische Arbeiterklasse ist der Bruch mit jeder Form von Nationalismus und der Zusammenschluss unter einer sozialistischen Perspektive.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 15.12.2009
Türkisches Verfassungsgericht verbietet Kurdenpartei
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Dezember 2009