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GLEICHHEIT/2865: Europa in der Krise


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Europa in der Krise

Von Peter Schwarz
12. Januar 2010


Zu Beginn des neuen Jahrtausends, im März 2000, verkündeten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union die Strategie von Lissabon. Sie sollte Europa bis 2010 zum "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt" machen, den Kontinent in die Lage versetzen, "ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen", sowie "die Voraussetzungen für Vollbeschäftigung schaffen und den regionalen Zusammenhalt in der Europäischen Union stärken".

Zehn Jahre später sind die in der portugiesischen Hauptstadt formulierten Erwartungen verflogen. Statt Vollbeschäftigung herrscht Massenarbeitslosigkeit, statt Wirtschaftswachstum Stagnation, statt Zusammenhalt Zwist. Selbst die gemeinsame Währung, das Fundament der hochtrabenden Pläne von Lissabon, ist akut gefährdet.

Die Strategie von Lissabon war Ausdruck weit verbreiteter Illusionen, Europa werde die USA dank Osterweiterung und vertiefter Integration als Großmacht ein- oder gar überholen. Dies sollte allein aufgrund seiner wirtschaftlichen Kraft geschehen, ohne die früher üblichen sozialen Spannungen, politischen Gegensätze und militärischen Konflikte.

Ihren deutlichsten Ausdruck fanden diese Illusionen in einer Rede, die der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer (Grüne) im Mai 2000 an der Berliner Humboldt-Universität hielt. Fischer warb für die Entwicklung der Europäischen Union von einem Staatenbund zu einer Föderation. Durch "eine enge Verflechtung ihrer vitalen Interessen und die Übertragung nationalstaatlicher Souveränitätsrechte an supranationale europäische Institutionen" sollten die europäischen Staaten den nationalen Gegensätzen eine Absage erteilen, die den Kontinent vor 1945 zerrissen hatten. Nur so werde Europa "seine ihm gemäße Rolle im wirtschaftlichen und politischen globalen Wettbewerb" spielen können, erklärte Fischer.

Seither hat sich Fischers Vorstellung, Europa ließe sich auf kapitalistischer Grundlage harmonisch vereinen, als Luftschloss erwiesen. In Paris und vor allem in London wurde sein Vorschlag als Versuch aufgefasst, Europa dem Diktat Berlins zu unterwerfen. Die Erweiterung der EU nach Osteuropa erwies sich als zweischneidiges Schwert. Sie brachte nicht nur die Erweiterung des Binnenmarkts, sondern auch politischen Streit und Instabilität. 2003 griffen die USA den Irak an und spalteten damit Europa. Während die britische und die polnische Regierung den Krieg voll unterstützten, stellten sich die deutsche und die französische dagegen. Die amerikanische Regierung nutzte den Konflikt, um einen Keil zwischen das "alte" und das "neue" Europa zu treiben.

Der europäische Verfassungsvertrag, der von Fischers Vorstellungen schließlich übrig blieb, scheiterte 2005 am Votum der französischen und niederländischen Wähler, die darin zu Recht den Versuch sahen, Europa dem Diktat der mächtigsten Finanz- und Wirtschaftsinteressen zu unterwerfen. Als die Verfassung schließlich nach jahrelangem Tauziehen in Form des Lissabon-Vertrags doch noch in Kraft trat, hatten Berlin und Paris das Interesse daran weitgehend verloren. Das zeigte die Besetzung der beiden neuen Schlüsselpositionen, des Ratspräsidenten und des europäischen Außenministers, durch zweitrangige Figuren ohne jegliche Autorität.

Deutschland und Frankreich hatten sich mit der Regierungsübernahme von Nicolas Sarkozy und Angela Merkel wieder verstärkt einer eigenständigen Außenpolitik, verbunden mit einer stärkeren Orientierung auf die USA zugewandt. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte 2005 sein Amt auch deshalb vorzeitig zur Verfügung gestellt, weil er mit seiner außenpolitischen Orientierung auf Russland zunehmend in die Isolation geraten war. Doch die Hoffnung, Washington werde sich durch eine stärkere Rücksichtnahme auf europäische Interessen revanchieren, blieb auch nach dem Präsidentenwechsel von George W. Bush zu Barack Obama unerfüllt.

Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise hat nun alle ungelösten Widersprüche der europäischen Innen- und Außenpolitik an die Oberfläche gebracht. Im Konflikt zwischen den USA und China, der zunehmend die Weltpolitik dominiert, fühlt sich Europa an den Rand gedrängt und zerrissen.

Der deutschen und französischen Regierung ist bitter aufgestoßen, dass Washington die massive Ausdehnung des Afghanistankriegs ohne vorherige Absprache mit den Nato-Verbündeten beschlossen hat. Einerseits wollen sie die strategisch wichtige Region nicht dem alleinigen Einfluss der USA überlassen, andererseits fürchten sie, in einem ständig eskalierenden Krieg zum bloßen Erfüllungsgehilfen der USA zu werden. Auch das Scheitern des Kopenhagener Umweltgipfels, für das in Europa die amerikanische und die chinesische Regierung verantwortlich gemacht werden, hat Empörung ausgelöst.

Gleichzeitig hat die Wirtschaftskrise die inhärente Schwäche der europäischen Wirtschaft offen gelegt. Die riesigen Haushaltsdefizite Griechenlands, Irlands, Italiens, Portugals und Spaniens drohen dem Euro das Rückgrat zu brechen. Die gemeinsame Währung hat bisher in eine massive Währungsabwertung mit entsprechender Inflation verhindert; der hohe Kurs des Euro, verbunden mit wachsenden Zinslasten, macht es diesen Ländern aber gleichzeitig unmöglich, die Krise auf marktwirtschaftlicher Grundlage zu überwinden. Brüssel reagiert mit der Forderung nach drakonischen Einschnitten bei den Staatsausgaben, insbesondere im sozialen Bereich.

Großbritannien, das nicht Mitglied des Euroraums ist, wird zunehmend zum kranken Mann Europas. Seine Wirtschaft ist in hohem Maße vom Finanzsektor abhängig. Die Zahl der Industriearbeitsplätze sank in den letzten zehn Jahren um 30 Prozent. In Deutschland waren es im selben Zeitraum nur fünf und in Frankreich zehn Prozent. Um den Finanzsektor vor dem Zusammenbruch zu retten, hat sich die britische Regierung in gewaltigem Ausmaß verschuldet. Der Kurs des Pfunds ist entsprechend gefallen. Eine weitere Bankenkrise würde der britische Staatshaushalt kaum überleben.

Für Deutschland - und in geringerem Maße auch für Frankreich - erweist sich die bisherige wirtschaftliche Stärke als Achillesferse. Deutschland erwirtschaftet immer noch 26 Prozent seines Bruttoinlandprodukts in der Produktion, im Vergleich zu 12 Prozent in den USA. Erreicht wurde dies durch eine gewaltige Steigerung des Exports. In den vergangenen zwanzig Jahren stieg Exportanteil der deutschen Produktion von gut 20 auf 47 Prozent des BIP. Selbst China exportiert nur 36 Prozent seines BIP.

Entsprechend stark wurde Deutschland von der internationalen Krise getroffen. Im vergangenen Jahr sank die Wirtschaftsleistung um 5,3 Prozent. Die Produktionsanlagen im Maschinenbau sind nur noch zu 70 Prozent ausgelastet, und laut Experten sind die Aussichten auf eine Besserung gering.

Die deutsche Exportindustrie steht sowohl von Seiten der USA als auch Chinas unter massivem Druck. Die USA setzen den niedrigen Dollarkurs und das niedrige Lohnniveau, das im Rahmen der Sanierung der Autoindustrie mit brachialer Gewalt durchgesetzt wurde, gezielt als Wettbewerbsvorteil gegen ihre europäischen Konkurrenten ein. Die teilweise Verlagerung der Produktion der Mercedes S-Klasse von Deutschland in die USA hatte in dieser Hinsicht Symbolcharakter. China wiederum dringt verstärkt in Marktsegmente vor, die wegen ihres hohen Qualitätsanspruchs bisher als Privileg der Deutschen galten.

Die europäischen und deutschen Eliten reagieren auf die wachsenden Probleme und Widersprüche, wie sie es zu Beginn des letzten Jahrhunderts getan haben: Mit sozialen und politischen Angriffen auf die arbeitende Bevölkerung und mit wachsendem Militarismus.

Viele Regierungen erscheinen angesichts der wachsenden außenpolitischen Probleme und inneren Konflikte gelähmt. So erschöpft sich die konservativ-liberale Regierung in Deutschland seit ihrer Amtsübernahme im November in inneren Zänkereien. Bundeskanzlerin Merkel wird von allen Seiten mangelnde Entschlossenheit und Führungsschwäche vorgeworfen. Doch hinter den Kulissen wird intensiv nach neuen Herrschaftsmechanismen gesucht, um die Folgen der Wirtschaftskrise auf die Arbeiterklasse abzuwälzen, nachdem sich die Methoden des sozialen Kompromisses weitgehend erschöpft haben.

In diesem Zusammenhang stehen der ständige Abbau demokratischer Rechte, das Schüren von Terrorhysterie, der zunehmende Militarismus und das gezielte Anheizen von Ressentiments gegen Moslems, wie es unter anderem vom deutschen Sozialdemokraten Thilo Sarrazin und dem ehemaligen Sozialisten und derzeitigen französischen Immigrationsminister Eric Besson betrieben wird. Das Schweizer Referendum gegen den Bau von Minaretten wurde von diesen Kreisen aufmerksam und wohlwollend verfolgt. Es ist der Versuch, von Klassenfragen abzulenken und rechte Mittelschichten als Rammbock gegen die Arbeiterklasse zu mobilisieren.

Die arbeitende Bevölkerung muss ihre eigenen Schlussfolgerungen aus dem Scheitern der bürgerlichen Europapläne ziehen. Sie muss sich europaweit zusammenschließen, um ihre sozialen Errungenschaften und politischen Rechte zu verteidigen. Sie muss für ein sozialistisches Europa, für Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa kämpfen.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 12.01.2010
Europa in der Krise
http://wsws.org/de/2010/jan2010/euro-j12.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2010