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GLEICHHEIT/3120: EU-Länder vor G-20-Gipfel zerstritten


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

EU-Länder vor G-20-Gipfel zerstritten

Von Stefan Steinberg
22. Juni 2010
aus dem Englischen (21. Juni 2010)


Die führenden Politiker der 27 Länder der Europäischen Union schafften es vergangenen Donnerstag nicht, eine gemeinsame Position für die Konferenz der G-20 nächste Woche in Toronto zu entwickeln.

Das Treffen in Brüssel fand im Schatten der größten Finanzkrise Europas seit den 1930er Jahren und unter starkem Druck der amerikanischen Regierung statt. Die europäischen Politiker erwiesen sich als völlig unfähig, eine einheitliche Wirtschaftsstrategie zu entwickeln.

Ein aktueller Bericht der Europäischen Zentralbank bestätigte, dass das europäische Finanzsystem Anfang Mai vor dem Zusammenbruch gestanden habe. Der EZB-Bericht erklärt, die Lage der europäischen Banken sei zu dem Zeitpunkt ernster gewesen als unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Lehman Brothers im Herbst 2008. Mehrere große europäische Banken hätten wegen ihres starken Engagements im hochverschuldeten Griechenland vor dem Bankrott gestanden.

Der Zusammenbruch des europäischen Bankensystems wurde erst im letzten Moment abgewendet, als die europäischen Führer bei einem hastig einberufenen Dringlichkeitstreffen am Wochenende des 8./9. Mai einem massiven Rettungspaket von 750 Mrd. Euro zustimmten. Das Paket sollte mögliche Bankrotte in der Eurozone abwenden. Seitdem hat die EZB Staatsanleihen schwächelnder europäischer Volkswirtschaften in riesigem Umfang aufgekauft, um die Lage zu stabilisieren. Trotzdem herrscht immer noch große Unsicherheit auf den Finanzmärkten. Der Euro fiel letzte Woche gegenüber dem Dollar auf ein Vierjahrestief.

Die Nervosität auf den europäischen Aktienmärkten wurde noch durch neue Zahlen verstärkt, die das Ausmaß der Engagements ausländischer Banken in vier besonders problematischen europäischen Volkswirtschaften verdeutlichen. Die Kredite ausländischer Banken an Spanien, Irland, Portugal und Griechenland belaufen sich dem jüngsten Vierteljahresbericht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zufolge auf mehr als zwei Billionen Dollar. Die Hälfte davon schlummert in französischen und deutschen Banken.

Führende europäische Finanzexperten befürchten nun, dass weitere massive Rettungsprogramme der Regierungen notwendig sein werden, um bedrohte Banken zu retten. Am Vorabend der EU-Konferenz in Brüssel leugneten der spanische Ministerpräsident und mehrere EU-Politiker, dass Spanien in Kürze einen Notkredit vom IWF beantragen werde, um die Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden. Der Finanzanalyst Wolfgang Münchau warnte auf seiner Web Site: "Globale Investoren haben eine tiefe Wahrheit über unsere europäische Staatsschuldenkrise festgestellt: In Wirklichkeit ist sie nämlich gar keine Staatsschuldenkrise, sondern eine hoch vernetzte Bankenkrise, die kurz vor einer Explosion steht."

Zusätzlich zur Gefahr eines zweiten Bankenkrachs befürchten Ökonomen, dass die scharfen Kürzungsprogramme der Regierungen das Wirtschaftswachstum Europas erdrosseln und die Wirtschaften Europas und der Welt in eine neue Rezession werfen könnten. In einem Artikel für die New York Times vom 17. Juni mit dem Titel "Das erinnert an die dreißiger Jahre" schreibt der Kolumnist Paul Krugman aus Deutschland: "Mehrere Gelehrte sehen Parallelen zur Politik Heinrich Brünings, der von 1930-32 Kanzler war, und dessen finanzpolitische Orthodoxie die Weimarer Republik in den Abgrund führte".

Zweifellos gibt es gute Gründe für die Befürchtung, dass die einschneidenden Kürzungsprogramme eine zweite Wirtschaftsrezession provozieren könnten. Dennoch hat ausgerechnet die US-Regierung Krugmans Argumente aufgegriffen. Sie versucht, ihre eigene Krise auf Kosten ihrer Hauptrivalen Europa und China zu lösen.

Zwischen den USA und Europa kam es Anfang des Monats zum offenen Konflikt, als US-Finanzminister Timothy Geithner und EZB-Präsident Jean-Claude Trichet über die europäische Wirtschaftspolitik aneinander gerieten. Trichet argumentierte für strenge haushaltspolitische Zurückhaltung und Kürzungsmaßnahmen, während Geithner sich für mehr Investitionen in die europäische Wirtschaft einsetzte, um die Nachfrage zu steigern.

Seit einiger Zeit schon setzen die USA die Schwäche des Dollars gegenüber anderen internationalen Währungen als Handelskriegswaffe gegen ihre Rivalen ein. Jetzt befürchtet die US-Regierung, der Fall des Euro könnte zusammen mit der europaweit sinkenden Nachfrage wegen der Kürzungsmaßnahmen den amerikanischen Handels- und Wirtschaftsinteressen schaden.

In einem Brief an führende Weltpolitiker richtete Präsident Barack Obama vor dem G-20-Treffen besonders an die Adresse Chinas und Deutschlands eine Warnung. Obama forderte sie auf, ihre Exportüberschüsse besser zu kontrollieren und die Nachfrage zu steigern. "Mich stört die schwache private Nachfrage und andauernde Abhängigkeit vom Export bei einigen Ländern, die jetzt schon hohe Exportüberschüsse haben", schrieb Obama.

Die Maßnahmen, auf die sich die europäischen Führer in Brüssel nach ihren Erörterungen am vergangenen Donnerstag einigten, wurden den ungeheuren wirtschafts- und finanzpolitischen Problemen in keiner Weise gerecht. Sie unterstrichen nur die Uneinigkeit, die in den politischen Kreisen Europas herrscht.

Die Führer der 27 Länder konnten sich nicht auf die Bildung einer "Wirtschaftsregierung" mit definitiven Vollmachten einigen, wie sie von Frankreich und Spanien befürwortet wird. Eine solche Wirtschaftsregierung könnte in die Wirtschaftspolitik der aus sechzehn Ländern bestehenden Eurozone eingreifen. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy setzt sich schon seit einiger Zeit für regelmäßige Gipfeltreffen und ein permanentes Sekretariat der Eurozone ein. Die Initiative wurde vor allem von Kanzlerin Angela Merkel sabotiert, die sich dabei auf den bekennenden Gegner der europäischen Integration, den britischen Premierminister David Cameron, stützen konnte.

Stattdessen einigten sich die EU-Chefs auf eine zu nichts verpflichtende Absichtserklärung und überließen es der Europäischen Kommission, in Zukunft Vorschläge für wirtschaftliche Leitlinien zu entwickeln. Zusätzlich beschlossen die EU-Führer einen Zehnjahresplan, um die Wettbewerbsfähigkeit des 27-Länder-Blocks zu steigern. Die konkreten Maßnahmen, die zur Erreichung des Ziels ergriffen werden sollen, blieben im Vagen.

Der EU-Gipfel beschloss weiter, so genannte Stresstests für die europäischen Banken zu veröffentlichen, nach dem Modell der Tests, wie sie die US-Regierung durchgeführt hatte. Die Tests von 25 führenden europäischen Banken sind ziemlich willkürlich. Jüngste Zahlen, die den Wertverfall griechischer Staatsanleihen aufgrund der griechischen Schuldenkrise widerspiegeln, werden darin nicht berücksichtigt. Außerdem erfassen die "Stresstests" die Mehrheit der kleineren europäischen Banken nicht, z.B. die spanischen Sparkassen und die meisten seit längerem kriselnden deutschen Landesbanken, die einen großen Teil der europäischen faulen Kredite halten.

Andere Maßnahmen, die auf dem Gipfel diskutiert wurden und dem G-20-Gipfel in Toronto als europäische Initiativen präsentiert werden sollen, umfassen eine Transaktionssteuer, die von Sarkozy und Merkel befürwortet wird, und eine Bankenabgabe, um für die nächste Finanzkrise besser gewappnet zu sein. Medienkommentatoren bezeichnen die europäischen Maßnahmen bereits als "totgeborene Kinder".

Die EU konnte bei der Finanztransaktionssteuer keine einheitliche Linie finden, weil der britische Premierminister und die Banken der City von London sich dagegen sträubten. Die zweite Maßnahme, die Bankenabgabe, wird von mehreren führenden G-20-Ländern wie Japan, Australien, Kanada, China und Brasilien abgelehnt.

Das klarste Anzeichen dafür, dass sich Europa gegenwärtig nicht einigen kann, ist der herzliche Empfang, den das Brüsseler Treffen dem prominentesten "Euroskeptiker", David Cameron, bereitete.

Cameron erklärte, er sei "angenehm überrascht" gewesen, als ihn der Präsident der EU-Kommission, Manuel Barroso, mit einem englischen Frühstück begrüßte. Am Ende des Gipfels lobte Cameron diesen wegen seiner "gesunden Kompromissbereitschaft", die "gute Ergebnisse für Großbritannien" gebracht habe. Gleichzeitig erklärte Cameron, er werde alle weiteren Initiativen für eine stärkere Integration blockieren.

Cameron brüskierte die übrigen konservativen EU-Führer absichtlich, als er vor dem Gipfel ein Gespräch mit Michal Kaminski führte. Kaminski ist der polnische Europaparlamentarier, der die nationalistische und antieuropäische ECRG (European Conservatives and Reformists Group) anführt. Im letzten Jahr hatte Cameron den Austritt der Tories aus der größten konservativen Gruppe im Europaparlament, der Europäischen Volkspartei, und ihren Eintritt in die ECRG veranlasst.

Siehe auch:
Europäischer Gewerkschaftschef unterstützt
Sparpolitik (17. Juni 2010)
http://www.wsws.org/de/2010/jun2010/etuc-j17.shtml


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Quelle:
World Socialist Web Site, 22.06.2010
EU-Länder vor G-20-Gipfel zerstritten
http://wsws.org/de/2010/jun2010/g20-j22.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juni 2010