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GLEICHHEIT/3348: New York Times verteidigt ihren Umgang mit WikiLeaks-Enthüllungen


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

New York Times verteidigt ihren Umgang mit WikiLeaks-Enthüllungen

Von Barry Grey
10. November 2010


Vergangenen Sonntag brachte die New York Times einen Artikel in eigener Sache. Nachdem sie eine Woche zuvor auf der Titelseite einen Hetzartikel über WikiLeaks-Gründer Julian Assange gebracht hatte, verteidigte sie jetzt ihre Berichterstattung über den "Whistleblower". Assange hatte am 22. Oktober fast 400.000 als geheim eingestufte Einsatzberichte des Militärs veröffentlicht und damit mehrere Kriegsverbrechen im Irak aufgedeckt.

Autor des Times-Artikels ist der Redakteur Arthur S. Brisbane, und er versucht vor allem, sich gegen Kritik aus dem US-Establishment zu rechtfertigen. Die Times war kritisiert worden, weil sie sich bereit erklärt hatte, die Dokumente zu sichten und über ihren Inhalt zu berichten. Außer der Times hatten dies auch der britische Guardian, Der Spiegel, Le Monde aus Frankreich und Al-Dschasira getan. Sie alle hatten ähnliche Vereinbarungen mit WikiLeaks getroffen und berichteten ausführlich über die Dokumente.

Brisbane argumentiert selbstgerecht, die Times habe die journalistische und staatsbürgerliche Pflicht gehabt, die WikiLeaks Dokumente zu prüfen und darüber zu berichten, trotz des angeblich zweifelhaften Charakters ihrer Quelle. Der Grundgedanke des Artikels ist etwa folgender: Assange und WikiLeaks seien aus journalistischer Sicht unzulässige, wenn nicht sogar kriminelle Elemente, aber die Dokumente enthielten eine Menge Berichtenswertes, deshalb habe sich die Times gezwungenermaßen die Hände schmutzig gemacht und sich mit Assange und seinem Unternehmen befasst.

Das Gegenteil ist wahr. In Wirklichkeit ist Assange ein Held des Journalismus, der seine Karriere, seine Freiheit und sogar sein Leben riskiert, um die Mauer des Schweigens über die imperialistischen Verbrechen zu durchbrechen, die im Irak und in Afghanistan begangen wurden. Er hat der Öffentlichkeit Einblick in die grauenhafte Realität aus der kolonialen Besetzung der beiden Länder verschafft.

Die Times, die führende Zeitung des liberalen amerikanischen Establishments, beteiligt sich in krimineller Weise an der Vertuschung von Kriegsverbrechen wie Massentötungen, Verhaftungen, Folter. Sie unterdrückt Nachrichten, verbreitet Fehlinformationen und steht im Wesentlichen an der Seite des US-Militärs und Geheimdienstapparats, des Außenministeriums und des Weißen Hauses.

Brisbane beginnt seinen Artikel mit einem Zitat aus dem berüchtigten Boulevardmachwerk aus der Feder des ehemaligen Times-Reporters John F. Burns, das am 24. Oktober veröffentlicht worden war. (Siehe "New York Times übt sich im Rufmord an WikiLeaks Gründer Assange")

Dazu schreibt er: "Es stehen sich also zwei Geschichten gegenüber: Die eine besagt, dass Julian Assange, der Gründer von WikiLeaks, sich aus Furcht vor westlichen Geheimdiensten auf der Flucht befinde und von einigen Kollegen für 'wahnhaft', 'unberechenbar' und 'autoritär' gehalten werde. Die andere Geschichte? Eine schauerliche Darstellung des Irak-Kriegs, die von Mr. Assange und seiner Organisation als ihrer Primärquelle ausgeht."

Darauf verbreitet er sich über das angebliche Dilemma der Times bei ihrer Entscheidung, wie über die WikiLeaks Enthüllungen zu berichten sei: "Die Aussicht, über fast 400.000 als geheim klassifizierte Dokumente zu berichten, war verlockend, während die Person der Hauptquelle immer bedenklicher erschien."

Brisbane bemüht sich gar nicht erst, die Loyalität der Zeitung gegenüber dem US-Staat und ihre Unterstützung für die imperialistischen Interessen der USA zu verbergen. Er betont: "Die Zeitung musste eine Kosten-Nutzen-Abwägung vor dem Hintergrund folgender Fragestellung treffen: Überwiegt das öffentliche Interesse an diesen Informationen, oder das Risiko für die Koalitionsstreitkräfte und die geheimdienstliche Aufklärung in den Kriegsgebieten?"

Er fährt fort: "Julian Assange mag ein Schurke mit politischen Absichten sein oder nicht, für die Times ist das Wichtigste der Wahrheitsgehalt der Informationen." In dieselbe Richtung zielt sein Verweis auf den Chefredakteur der Times, Bill Keller, der gesagt habe, die Dokumente verdienten Aufmerksamkeit, "was auch immer man von WikiLeaks als Organisation halten mag".

Dann zitiert Brisbane aus einer Email von Keller, in dem der Chefredakteur schrieb: "Wir haben die Dokumente ausgesucht, die uns am interessantesten zu sein schienen. Das Material haben wir selber analysiert. Wir haben entschieden, worüber berichtet wird."

Was das heißt, wird an dem Punkt klarer, an dem Brisbane noch einmal zusammenfasst, weshalb sich die Times für eine Zusammenarbeit mit WikiLeaks entschied. Er schreibt: "Die Times stand also vor der Entscheidung, ihre Ressourcen zu nutzen, um Material zu sichten und zu filtern, das so oder so veröffentlicht worden wäre."

Genau! Die vermaledeiten Dokumente hätten die Öffentlichkeit in jedem Fall erreicht (über andere Medien, die WikiLeaks kontaktiert hatte, und über die Web Site selbst), und darum war es für die Times wichtig, das Material zu "filtern" und es auf eine Art und Weise zu präsentieren, die den Schaden für die US-Regierung so klein wie möglich hielt. Es ging darum, selektiv Informationen in den Vordergrund zu stellen, die für die weiteren militärischen und geopolitischen Ziele Washingtons nützlich sein konnten.

Die Times ließ sich vollständig von den militärischen und politischen Interessen der herrschenden Klasse leiten, sowohl bei ihrer Berichterstattung über die den Irak betreffenden Dokumente, als auch bei den rund 92.000 Afghanistan-Kriegsprotokollen, die letzten Juli von WikiLeaks veröffentlicht worden waren. Keinen Moment ging sie vom Recht der Bevölkerung auf Information aus. Das wird durch die Art und Weise, in der die Times berichtet, mehr als deutlich.

Die nicht-amerikanischen Medien wiesen auf die Tötung von Zivilisten, Folter und andere Kriegsverbrechen hin und berichteten, dass die Dokumente die systematischen Lügen der US-Regierung entlarvten. Die Times dagegen spielte diese Fakten herunter, indem sie erklärte, die Dokumente enthielten nichts, was über den Krieg und die Besetzung nicht schon bekannt sei. Sie hält zum Beispiel die Nachricht zurück, dass der UN-Chefermittler für Folter Obama öffentlich aufgefordert hat, eine Untersuchung einzuleiten, weil es Hinweise darauf gibt, dass das amerikanische Militär Gefangene an irakische Gefängniswärter zur Folterung und Exekution übergeben hat. Die Times vermied es in ihrer Berichterstattung sogar, das Wort Folter überhaupt zu benutzen.

Stattdessen verfasste der Militärreporter der Times namens Michael einen Artikel für die Titelseite, in dem er behauptete, WikiLeaks habe eine ausgedehnte Einflussnahme des Irans auf irakische Angelegenheiten aufgedeckt.

Schon vergangenen Juli war es ganz ähnlich, als die Times nur äußerst vage und oberflächlich über militärische Einsatzberichte berichtete, die detailliert Einblick in die Tötung von Zivilisten und andere Kriegsverbrechen in Afghanistan gewährten. Stattdessen wurden bestimmte einzelne Informationen aus den Dokumenten mit der Absicht aufgebauscht, Pakistan der Unterstützung von US-feindlichen Aufständischen zu beschuldigen. Dies geschah im Einklang mit den amerikanischen Bemühungen, den Druck auf das pakistanische Regime zu erhöhen, seine Operationen zur Aufstandsbekämpfung in den Stammesgebieten längs der afghanischen Grenze auszuweiten.

In beiden Fällen räumte die Times ein, sie habe der Regierung ihre Berichterstattung zur Prüfung vorgelegt. In dem ersten Artikel, der am 22. Oktober im Internet erschien, heißt es: "Die New York Times setzte das Pentagon darüber in Kenntnis, welche Dokumente sie zu veröffentlichen gedachte, und zeigte, welche Stellen geschwärzt worden waren."

Im Juli erzählte der Leiter des Times-Büros in Washington, Dean Baquet, auf Yahoo News: "Ich bin tatsächlich zum Weißen Haus gegangen und habe ihnen dargelegt, was wir haben", und er fügte hinzu, das Weiße Haus "lobte die Art und Weise, wie wir damit umgingen ... und unser Verantwortungsbewusstsein."

In einem Blog, in dem er Leserfragen beantwortet, prahlte Keller im Juli damit, dass Beamte des Weißen Hauses "uns dafür gedankt haben, dass wir so sorgsam mit den Dokumenten umgegangen sind", und er fügte hinzu, die Times habe zugestimmt, WikiLeaks die Forderung der US-Regierung zu übermitteln, "Informationen, die Leben kosten können, zurückzuhalten". Diese Bedingung ist so vage und schwammig, dass man damit praktisch jedes Dokument verbieten könnte.

Ein Leser der Times damals in diesem Frage-und-Antwort-Blog schrieb damals: "Der Unterschied zwischen der Berichterstattung des Guardian und der New York Times über die afghanischen Kriegsprotokolle ist wirklich erstaunlich. Angaben, die in den Protokollen über zivile Opfer gemacht werden, erwähnt die New York Times kaum, und das ist beschämend."

Der arglistige Umgang der Times mit WikiLeaks ist nicht neu. Im vergangenen April veröffentlichte die Website ein Video vom Juli 2007, auf dem zu sehen war, wie eine Kampfhubschrauberbesatzung in Bagdad zehn bis fünfzehn Iraker, darunter zwei Reuter-Journalisten, kaltblütig ermordete. Die Times veröffentlichte daraufhin einen Artikel, indem sie WikiLeaks als eine gefährliche Quelle des Widerstands porträtierte und andeutete, es müsste zum Schweigen gebracht werden.

Auch die Selbstzensur und Nachrichtenmanipulation der Times der letzten Jahre ist nicht neu. Im Jahr 2004 traf sich Keller persönlich mit George W. Bush im Oval Office, nachdem das Weiße Haus die Zeitung gedrängt hatte, Pläne für die Veröffentlichung eines Exposés fallen zu lassen. Das Exposé der Nationalen Sicherheitsbehörde betraf das geheime und illegale Abhörprogramm für telefonische und elektronische Kommunikation im Inland. Keller erklärte sich einverstanden, den Bericht bis nach der Präsidentschaftswahl im selben Jahr hinauszuschieben. Damit wurden der amerikanischen Bevölkerung Informationen über einen massiven Angriff auf ihre demokratischen Rechte durch den republikanischen Kandidaten vorenthalten.

Im Oktober 2006 hielt die Times Nachrichten über eine Studie der Johns Hopkins University zurück, die in der renommierten britischen Medizin-Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht worden war. Diese Studie kam zum Schluss, dass mehr als 650.000 Iraker als Folge der US-Invasion und Besetzung des Landes gestorben waren.

Damit setzte die Times ihre Unterstützung für die US-Invasion und Besetzung des Iraks fort. Ins selbe Kapitel gehören auch Artikel heutiger und ehemaliger Reporter, wie Judith Miller, Michael Gordon und John F. Burns, die die Lügen der Bush-Regierung über irakische Massenvernichtungswaffen und die angeblichen Verbindungen des Landes zu al-Qaida deckten. Damals hatte die Zeitung keine Skrupel, äußert zwielichtige und parteiische Quellen für ihre Kriegspropaganda zu nutzen, darunter langjährige CIA- und Pentagon-Agenten wie Ahmad Chalabi.

In einer Rede an der University of Michigan kurz nach dem Erscheinen des Lancet-Artikels verteidigte Keller die Times gegen Angriffe der Bush-Regierung und der republikanischen Rechten mit der Begründung, sie und der Rest der führenden Presseunternehmen spielten eine äußerst wichtige Rolle für die Regierung, indem sie Staatsgeheimnisse unterdrückten und eine Schutzwall-Funktion gegen "unverantwortliche" Internetmedien übernähmen.

"Unter Legionen von Internet-Journalisten" sagte Keller, "sind in jedem Fall ein paar, die bei einer Veröffentlichung von lebensbedrohlichen Informationen keine Gewissensbisse haben. Würde denn ein Blogger, der der Bush-Regierung gegenüber feindlich gesonnen ist, zögern, sensible Geheimnisse über den Krieg gegen den Terror zu dokumentieren, und die Folgen der Veröffentlichung erwägen? Mag die Mainstream-Presse die Übermacht, die sie vor der Internetzeit hatte, auch verloren haben: Der Informationsanarchie sind wir dennoch nicht verfallen. Das meiste von dem, was dieses Land über die geheimen Aktivitäten der Regierung weiß, weiß es dank seriöser Organisationen, die ihre Verantwortung immer noch ernst nehmen."

Natürlich, der weitaus größere Teil der Staatsgeheimnisse, die nicht öffentlich bekannt sind, bleibt aufgrund der Komplizenschaft der erwähnten "seriösen" Mainstream-Presse unaufgedeckt.

Leute wie Keller, Burns und ihresgleichen sind mit einem Assange gar nicht zu vergleichen. Der letztere ist ein prinzipieller Gegner von Kriegsverbrechen, er verteidigt das Recht der Bevölkerung auf Information. Die ersteren propagieren Kolonialkriege und machen sich zu Komplizen der Verbrechen, die solche Kriege unweigerlich hervorbringen. Die Times blickt auf eine lange Praxis zurück, in der sie Nachrichten unterdrückt und verzerrt, wann immer die Interessen der herrschenden Elite Amerikas es erforderlich machen.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 10.11.2010
New York Times verteidigt ihren Umgang mit WikiLeaks-Enthüllungen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2010