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GLEICHHEIT/3500: Ägyptischen Demonstranten droht Gewalt und Unterdrückung


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Ägyptischen Demonstranten droht Gewalt und Unterdrückung

Von Patrick Martin
9. Februar 2011


Tausende von Demonstranten zelteten auch Montagnacht auf dem Tahrir-Platz im Zentrum Kairos und trotzten den Gewaltandrohungen und einer Welle von Verhaftungen durch die Geheimpolizei der Mubarak-Diktatur.

Einige Demonstranten legten sich vor die Ketten der Armeepanzer, die den Platz eingekreist haben, um sie am Losfahren zu hindern. Eine große Gruppe von Demonstranten blockierte den Mogamma-Komplex von Regierungsbüros, der an den Platz anschließt, und hinderte die Behörden daran, sie wieder zu öffnen.

Das ägyptische Militär verstärkte den Druck auf die Anti-Mubarak-Demonstranten und versuchte, sie sie auf einem kleineren Bereich des Platzes zusammenzutreiben, während gleichzeitig der Nachschub an Nahrungsmitteln blockiert wurde.

Die Blockade wurde erst aufgegeben, als Dutzende von Sympathisanten, die die Demonstranten mit Essen versorgten, in einer Straße nahe der Qasr-Al-Nil-Brücke einen Sitzstreik begannen und Essensbeutel schwenkten. Die Washington Post berichtete von dem Vorfall: "Die Menge wuchs bei diesem Folgeprotest auf einige hundert wütende, singende Leute an. An anderen Zugängen zum Platz kam es zu ähnlichen Szenen, der Aufruhr drohte sich in der Stadt zu verbreiten. Nach einer Stunde gab die Armee ohne Erklärung nach, und die Versorgung der Demonstranten mit Nahrungsmitteln wurde wieder zugelassen.

Entgegen den Behauptungen der Obama-Administration, dass ein Verhandlungsprozess anläuft, der zu einem friedlichen Übergang führen wird, deuten alle Anzeichen darauf hin, dass die Mubarak-Diktatur die Gespräche nur als Vorwand benutzt und gleichzeitig Vorbereitungen für einen Militärschlag gegen den Tahrir-Platz trifft.

Die Spannung wächst angesichts weiterer Massenproteste, die für die zweite Hälfte dieser Woche geplant sind. Es gibt einen sichtbaren Aufmarsch des Militärs, die Panzer richten ihre Geschützrohre auf den Zeltplatz der Demonstranten und in Seitenstraßen werden Stacheldrahtsperren und mit Sandsäcken gesicherte Kontrollpunkte eingerichtet.

"Armee-Einheiten haben ihre Präsenz auf dem und um den Tahrir-Platz verstärkt, und in jeder Straße sind Panzer aufgefahren", berichtet der Guardian. "Das Militär hat nach und nach Barrikaden errichtet - weitere Kontrollpunkte, weitere Stacheldrahtabsperrungen, Einschränkungen für Fernsehkameras - und die Demonstranten aufgefordert, nach Hause zu gehen."

Unterdessen kommen täglich weitere Beweise für die Brutalität der Unterdrückung durch das Militärregime ans Licht. Die Organisation "Human Rights Watch" veröffentlichte am Montag einen Bericht, demzufolge während der zweiwöchigen Anti-Regierungs-Demonstrationen dreihundert Menschen getötet worden sind. Der Bericht stützt sich auf Besuche in diversen Krankenhäusern in Kairo, Alexandria und Suez und Befragungen von Ärzten und Angestellten der Leichenschauhäuser.

Die meisten Opfer sind durch Gewehrfeuer getötet worden, die überwiegende Mehrheit in der ersten Woche der Proteste. In der Zeit vom 25. bis zum 30. Januar gab es 217 Tote, am 2. und 3. Februar fünfzehn weitere, als Pro-Mubarak-Schlägerbanden die Menge auf dem Tahrir-Platz angriffen. Aus Alexandria wurden 52 Tote, aus der Industriestadt Suez 13 Tote gemeldet.

Die tatsächliche Zahl der Toten ist zweifellos viel höher, wenn man davon ausgeht, dass die Proteste im ganzen Land ausgebrochen sind und der Bericht der HRW nur drei Städte umfasst. Ein für Menschenrechte zuständiger UN-Beamter schätzt, dass es allein in der ersten Woche der Proteste mehr als dreihundert Tote gegeben hat. Das ägyptische Gesundheitsministerium selbst hat berichtet, dass an einem einzigen Tag, Freitag, dem 4. Februar, mindestens fünftausend Menschen verletzt wurden.

Der Fernsehsender Al Dschasira veröffentlichte zahlreiche Videos, die die brutale Gewalt dokumentieren, mit der Polizei und Pro-Mubarak-Schläger während der Angriffe auf die Demonstranten im Zentrum von Kairo am 2. und 3. Februar vorgegangen sind.

Die ägyptische Menschenrechtsorganisation schätzt, dass seit Beginn der Proteste mindestens 1.275 Menschen von der Polizei festgenommen wurden. Die meisten wurden verhaftet und später wieder freigelassen, in manchen Fällen waren sie Schlägen und anderen Formen der Folter ausgesetzt. Es gibt eine wachsende Anzahl von Vermissten oder "Verschwundenen".

Das scharfe Vorgehen gegen ausländische Journalisten geht weiter - um die Anzahl von Augenzeugen für die geplante Abrechnung mit den militantesten Studenten, Arbeitern und Demonstranten, die auf dem Tahrir-Platz zelten, zu verringern. Zwei Al-Dschasira-Korrespondenten wurden am Sonntag festgenommen, unter ihnen der Büroleiter von Al Jazeera English, Ayman Mohyeldin, ein amerikanischer Staatsbürger. Mohyeldin wurde Sonntagnacht freigelassen. Er sagt, er habe gehört, wie andere Häftlinge von Soldaten geschlagen wurden.

Ägyptische Journalisten werden ebenfalls verhaftet, aber es gibt nur wenige Informationen, weil die meisten von ihnen in Haft bleiben und ihre Geschichte nicht erzählen können. Razzien gegen humanitäre Organisationen dauern auch an.

Die weit verbreitete Sympathie für die Oppositionsbewegung spiegelt sich sogar in den privilegiertesten Schichten der ägyptischen Medien wider. Die bekannteste TV-Nachrichtenmoderatorin des staatlichen Fernsehens legte am Montag ihren Job nieder und erklärte, sie sei nicht länger bereit, die offizielle Propaganda zu verbreiten.

Zur gleichen Zeit setzt die Militärdiktatur in enger Absprache mit den USA ihre politischen Manöver mit Teilen der bürgerlichen Opposition fort. Am Sonntag hatte Vizepräsident Omar Suleiman stundenlang mit einer Delegation, darunter Vertretern der Moslembruderschaft, verhandelt. Ziel dieser Diskussionen ist es, Zeit zu gewinnen, um ein noch härteres Vorgehen gegen die Demonstranten vorzubereiten. Währenddessen soll eine "Übergangsregierung" eingesetzt werden, die den Interessen der USA und der ägyptischen herrschenden Klasse genauso verpflichtet ist wie Mubarak.

Die Entscheidung der Muslimbruderschaft, ihre langjährige Vorbedingung für Gespräche, nämlich Mubaraks Rücktritt, fallen zu lassen, war eine vollständige Kapitulation vor dem Regime und erntete viel Kritik unter den Demonstranten.

Drei Führer der Moslembruderschaft hielten eine Pressekonferenz, auf der sie versuchten, ihren Rückzieher zu rechtfertigen. Mohammed Saad El-Katatni, Mitglied des Führungsrates der Gruppe, sagte: "Wir wollten, dass der Präsidenten zurücktritt, aber vorerst akzeptieren wir diese Regelung. Es ist sicherer, wenn der Präsident bleibt, bis er diese Verfassungsänderungen durchgesetzt hat. Das beschleunigt die Dinge, da er die verfassungsmäßige Macht in Händen hält."

Was, bitte schön, ist "sicherer"? Ganz gewiss nicht das Leben derer, die heldenhaft einem drohenden Blutbad auf dem Tahrir-Platz trotzen. Es ist die Sicherheit des bürgerlichen Eigentums, um die sich die Vertreter der ägyptischen Elite von Geschäftsleuten, Hausbesitzern und Militärbürokraten sorgen.

Diese Erklärung enthüllt den Klassenstandpunkt der bürgerlichen Oppositionsgruppen, ob islamistisch oder weltlich: Letztendlich betrachten sie das Militär und Mubarak selbst als Garanten ihrer Besitzinteressen gegen eine unkontrollierte revolutionäre Explosion von unten.

Bei einer offiziellen Kabinettssitzung am Montag stimmte Präsident Hosni Mubarak einer fünfzehnprozentigen Lohnerhöhung und einer Erhöhung der Renten für Angestellte des öffentlichen Dienstes zu. Diese Maßnahmen dienen dazu, die Loyalität der Sicherheitskräfte, der Hauptstütze seines Regimes, zu sichern und die zunehmende Opposition der Arbeiterklasse zu beschwichtigen.

Die enorme soziale Polarisierung in Ägypten, die den revolutionären Aufstand angetrieben hat, wurde am selben Tag durch die Veröffentlichung des persönlichen Vermögens einer Gruppe früherer Minister und Mubarak-Kumpanen in der Oppositionszeitung Al-Masry al-Youm unterstrichen. Darunter waren:

• Ahmed Ezz, ein Stahlmagnat und ehemaliger Organisationssekretär der Regierungspartei: 3 Milliarden Dollar
• Der ehemalige Wohnungsbauminister Ahmed al-Maghraby: 1,8 Milliarden Dollar
• Der ehemalige Tourismusminister Zuhair Garrana: 2,2 Milliarden Dollar
• Der ehemalige Handels- und Industrieminister Rashid Mohamed Rashid: 2 Milliarden Dollar
• Der ehemalige Innenminister Habib al-Adly: 1,3 Milliarden Dollar

Diese korrupten Beamten können jetzt in der Presse erwähnt werden, denn das Mubarak-Regime ist bereit, sie zu opfern, um die öffentliche Meinung zu besänftigen. Ihre Vermögen sind eingefroren worden, dreien von ihnen ist die Ausreise untersagt worden und eine formelle Anklage wegen Korruption wird vorbereitet.

Noch größer - aber weder von der ägyptischen, noch von der westlichen Presse erwähnt - ist das Vermögen der Mubarak-Familie und ihres noch immer protegierten Umfeldes. Der durchschnittliche ägyptische Arbeiter bringt einer Regierungsstatistik zufolge kaum zehn Dollar pro Tag nach Hause.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 09.02.2011
Ägyptischen Demonstranten droht Gewalt und Unterdrückung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2011