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GLEICHHEIT/4217: Der Rauswurf von Röttgen und die Krise der Regierung Merkel


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Der Rauswurf von Röttgen und die Krise der Regierung Merkel

Von Ulrich Rippert
19.‍ ‍Mai 2012



In aufsehenerregender Weise entließ Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am vergangenen Mittwoch ihren Umweltminister. Norbert Röttgen wurde regelrecht gefeuert.

Es ist nicht zum ersten Mal, dass die Kanzlerin einen Minister auswechselt und ihr Kabinett umbildet, aber bisher wurde den Betroffenen die Möglichkeit gegeben, ihren Rücktritt selbst anzukündigen und mit eigenen Argumenten zu begründen. Ganz anders war es bei Röttgen.

Die Kanzlerin selbst trat vor die Bundespressekonferenz und gab in einer knappen Erklärung die Entlassung ihres Umweltministers und seine Ersetzung durch Peter Altmaier (CDU) bekannt, einen farblosen Parteibeamten und Merkel-Getreuen, der bisher als parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion fungierte. Nachfragen von Journalisten ließ Merkel nicht zu. Sie beendete die Pressekonferenz nach nur fünf Minuten.

Medienberichten zufolge war dem Rausschmiss ein heftiger Streit vorausgegangen, in dem die Kanzlerin den Umweltminister und CDU-Spitzenkandidaten in NRW für die katastrophale Wahlniederlage der CDU bei den jüngsten Landtagswahlen im bevölkerungsreichsten Bundesland verantwortlich machte. Röttgen seinerseits soll die Kanzlerin kritisiert haben, weil sie ihn nicht gegen die scharfe öffentliche Kritik des Vorsitzenden der Schwesterorganisation CSU, Horst Seehofer, verteidigt habe.

Das rabiate Verhalten von Merkel wird von einigen Kommentatoren als Führungsstärke der "Eisernen Kanzlerin" gelobt, von anderen getadelt. Doch kaum ein Kommentator befasst sich mit den tieferen politischen Ursachen für die gereizte Stimmung im Kanzleramt. Stattdessen werden oberflächliche Argumente über "unverzeihliche Fehler" von Röttgen im Wahlkampf und mangelnde Führungsstärke bei der Durchsetzung der Energiewende wiederholt.

Fakt ist, Norbert Röttgen war viele Jahre ein enger Vertrauter der Bundeskanzlerin und galt als "strahlender Hoffnungsträger der Union" (Süddeutsche Zeitung). Seit seiner Ernennung zum Bundesumweltminister im Herbst 2009 unterstützte er jede Wende von Merkels Politik. Erst verteidigte er entgegen eigenen früheren Standpunkten Merkels Ausstieg aus dem Atomausstieg und verlängerte die Laufzeiten der Atomkraftwerke. Als Merkel dann nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima in der Energiepolitik eine Wende um 180 Grad vollzog und den beschleunigten Ausstieg aus der Kernkraft sowie den forcierten Aufbau erneuerbarer Energien ankündigte, folgte er ihr.

Auch im NRW-Wahlkampf agierte Röttgen ganz auf Merkels Linie. In Absprache mit der Unionsführung und der Kanzlerin stellte er die Konsolidierung des Haushalts durch massive Sparmaßnahmen in den Mittelpunkt seines Wahlkampfs. Bei mehreren Wahlkampfauftritten an Rhein und Ruhr schlug die Kanzlerin in dieselbe Kerbe. Sie kritisierte die "rot-grüne Schuldenpolitik" und betonte, der deutsche Fiskalpakt mit seiner Schuldenbremse diene nicht nur ganz Europa als Modell, sondern müsse auch in der Landespolitik Richtschnur der Politik sein.

Es waren die Kanzlerin und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), die die NRW-Wahl zum Plebiszit über ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik machten, und nicht Norbert Röttgen, der dies erst offen aussprach, als sich seine Niederlage bereits abzeichnete, und deshalb aus dem Konrad-Adenauer-Haus heftig kritisiert wurde.

Gerade weil es sich um eine Abstimmung über die Sparpolitik der Bundesregierung handelte, schlug die Wahlniederlage der CDU in NRW im Kanzleramt wie eine Bombe ein. Die Regierungspartei verlor 8,3 Prozentpunkte und erzielte mit 26,3 Prozent das mit Abstand schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte.

Damit nicht genug. Am selben Tag verlor in Frankreich Nicolas Sarkozy, den Merkel im Wahlkampf unterstützt hatte, die Präsidentenwahl gegen den Sozialisten François Hollande, der Merkels Austeritätskurs im Wahlkampf kritisiert hatte.

Parallel dazu wurden in Griechenland die Parteien, die bisher das Spardiktat aus Deutschland durchgesetzt hatten, massiv abgestraft. 70 Prozent der Wähler stimmten für Kandidaten, die sich gegen die Sparmaßnahmen ausgesprochen hatten.

In allen drei Wahlen äußerte sich der wachsende Widerstand gegen Merkels und Schäubles Sparkurs. Das ist der Grund, warum im Kanzleramt die Nerven blank liegen.

In den zwei Jahrzehnten ihrer politischen Karriere war Angela Merkel bisher nie mit ernsthaftem Widerstand von Seiten der Arbeiterklasse konfrontiert. Gestützt auf die Gewerkschaften, die die Regierungspolitik unterstützten und nur selten symbolischen Protest organisierten, führte sie eine massive soziale Umverteilung im Interesse der Banken durch. Die ständigen sozialen Kürzungen ruinierten nicht nur den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung, sondern zerstörten die Sozialsysteme und die Wirtschaft ganzer Länder wie Griechenlands und stärkten die Rezessionsentwicklung in Europa.

Merkel gerät unter Druck und reagiert darauf mit Panik und Wut. Das zeigt sich nicht nur im Rausschmiss Röttgens. Finanzminister Schäuble drohte Griechenland mit "Konsequenzen", falls die Gegner der Kürzungsmaßnahmen bei der Wiederholung der Wahl noch stärker werden.

Diese Attacke hatte unerwartete Auswirkungen. Aus Angst vor einem Rauswurf aus dem Euro begann in Griechenland ein Run auf die Banken, der schnell auf Spanien und Italien übergreifen könnte. Die Auswirkungen einer solchen Entwicklung sind unabsehbar. Sie drohen ein neues Stadium der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise einzuleiten, das weit über die Konsequenzen der Lehman-Pleite im Herbst 2008 hinausgehen könnte.

International sind Merkel und Schäuble mit ihrer deflationären Fiskalpolitik inzwischen weitgehend isoliert. Nicht nur der neue französische Präsident, sondern auch die britische und die US-Regierung drängen inzwischen auf eine expansive Geldpolitik, die eine höhere Inflation und hohe Finanzrisiken für den deutschen Haushalt zur Folge hätte.

Beides stößt in der Union auf starken Widerstand, weil eine hohe Inflationsrate und Verschuldung das spezielle Modell der deutschen "Sozialpartnerschaft" gefährdet. Eine inflationäre Wirtschaftspolitik würde Lohnforderungen nach sich ziehen, die sich von den Gewerkschaften nur noch schwer unterdrücken ließen.

Einig sind sich die Regierungen nur über weitere Angriffe auf die Arbeiterklasse. Derzeit wird über einen Wachstumspakt debattiert, der zwei Komponenten haben soll. Zum einen soll er "Wachstumshindernisse" abbauen - eine Umschreibung für eine neue Runde tiefgreifender Arbeitsmarktreformen. Als "Wachstumshindernisse" gelten Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, gesetzlicher Kündigungsschutz, gesetzlicher Jahresurlaub, Mutterschutz usw. Zum zweiten sollen zusätzliche Gelder in marode Banken gesteckt werden.

Der Rauswurf von Röttgen soll Stärke und Führungskraft signalisieren. In Wahrheit verschärft sie die Krise der Regierung und die politische Instabilität.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 19.05.2012
Der Rauswurf von Röttgen und die Krise der Regierung Merkel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2012