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GLEICHHEIT/4297: Forschungsinstitut Democratic Audit - Britische Demokratie im Niedergang


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Forschungsinstitut Democratic Audit: Britische Demokratie im Niedergang

Von Chris Marsden
13. Juli 2012



Die jüngste Studie des Forschungsinstituts Democratic Audit an der Universität von Liverpool beschreibt angesichts der wachsenden Kluft zwischen Reich und Arm präzise wichtige Aspekte des Niedergangs demokratischer Herrschaftsformen in Großbritannien.

Der akademische Think-Tank fand heraus, dass "fast alle verfügbaren Indikatoren nahelegen, dass sich die repräsentative Demokratie längerfristig gesehen im Niedergang befindet" und dass dieser Niedergang zwar universal, jedoch im Vereinigten Königreich besonders ausgeprägt sei.

Zu den hervorstechendsten Fakten, die angeführt werden, gehören die abnehmende Teilnahme an Wahlen und allgemein am politischen Leben.

Die Wahlbeteiligung bei Unterhauswahlen liegt durchschnittlich bei sechzig Prozent und bei einigen anderen Wahlen erreicht sie nur die Hälfte davon. Nur etwa ein Prozent der Bevölkerung gehört einer politischen Partei an.

Hinter diesen Durchschnittswerten verbirgt sich eine noch tiefere Entfremdung von Arbeitern und Jugendlichen. Nur 57 Prozent der DE-Schichten (Industriearbeiter, Teilzeitbeschäftigte und Menschen, die Transferleistungen erhalten) gehen zur Wahl. Verglichen damit gehen von den besser gestellten sozialen AB-Schichten (gehobenes Kleinbürgertum und Selbständige) 76 Prozent wählen. Nur 44 Prozent der 18- bis 24-jährigen gehen zur Wahl. Von den über 65-jährigen sind es 76 Prozent. Der Bericht stellt fest, das allgemeine Niveau des politischen Engagements (abgesehen vom Wahlverhalten) der AB-Schichten sei typischerweise zwei- bis dreimal größer als das der DE-Schichten.

"Der große Unterschied zwischen den Angehörigen verschiedener sozialer Klassen auch bei bloßen Diskussionen über Politik ist besonders auffällig", erklären die Autoren der Studie.

Stuart Wilks-Heeg, der leitende Autor, erklärte gegenüber dem Guardian: "Mit der Zeit verzerrt die Nichtteilnahme den politischen Prozess noch weiter zugunsten derjenigen, die ohnehin durch ihren Wohlstand, ihre Ausbildung oder ihre Geschäftsbeziehungen bevorteilt sind. Und ohne Beteiligung der Massen am politischen Leben wird das Gefühl der Abgehobenheit zwischen den Bürgern und ihren Repräsentanten unweigerlich weiter wachsen."

In der Tat ist die Politik schon jetzt ausschließlich zur Domäne des Großkapitals und der Superreichen geworden. Fast die Hälfte der 50 größten Unternehmen im Vereinigten Königreich ist eng verbunden mit einem Minister oder Parlamentsabgeordneten, was die entsprechenden Zahlen in der 15er Gruppe der Europäischen Union weit in den Schatten stellt.

"Die Macht der Unternehmen wächst", heißt es in dem Bericht, wodurch "einige der grundlegendsten Prinzipien des demokratischen Entscheidungsprozesses unterhöhlt zu werden drohen ...Die Macht, die große Unternehmen und reiche Personen jetzt im politischen System Großbritanniens ausüben, ist beispiellos.

Die engen Beziehungen zwischen einflussreichen Politikern und den großen Medienkonzernen, vor allem News International ist ein schlagendes Beispiel für diesen Trend," stellt der Bericht fest und fügt hinzu, allgemeiner betrachtet sei "die Verflechtung von politischer und wirtschaftlicher Macht um ein Vielfaches größer ist als in anderen entwickelten Demokratien festzustellen ist."

Es ist keine Überraschung, dass unter einer derart rücksichtslosen Regierung, die aus der herrschenden Elite kommt und in ihrem Namen regiert, der Unterschied in der Wahlbeteiligung zwischen Arbeitern mit geringem Lohn und dem höheren Management und Selbständigen von 1997 bis heute von 13 auf 19 Prozent gestiegen ist. Dies wurde zwar nicht vermerkt, aber 1997 war das Jahr, in dem die Labour-Regierung von Tony Blair gewählt wurde. Statt den Prozess der politischen Entfremdung umzukehren, führte deren pro-kapitalistische Politik dazu, die berechtigte Unzufriedenheit der Arbeiter mit dem politischen System zu vertiefen, das ihnen so übel mitspielt.

Die Autoren vermuten, dass der Niedergang der Gewerkschaften als "ausgleichende Kraft" ebenfalls zum Anwachsen der politischen Unzufriedenheit beigetragen hat. Richtiger zu sagen wäre, dass die Mitgliedschaft der Gewerkschaften offiziell bei nur noch 26,5 Prozent liegt und in Wirklichkeit noch viel geringer ist, weil diese Organisationen nichts getan haben, um die Arbeiter gegen die rücksichtslosen Angriffe der Regierung und der Unternehmer zu verteidigen. Stattdessen haben sie jede Art und jede Regung von sozialer Opposition gegen die Agenda der immer schärferen Kürzungspolitik der herrschenden Klasse unterdrückt und hintertrieben.

Natürlich haben die Autoren keine Lösung anzubieten. Stattdessen ringen sie ihre Hände in Verzweiflung - sie verkünden, dass "es keine vernünftige Alternative zum gegenwärtigen Modell der Demokratie" gebe - und sie schlagen ein paar Reformen innerhalb des Systems vor, wie "stärkere Macht der Parlamentarier, um Minister zur Rechenschaft ziehen zu können", "eine Niederschrift der Verfassung, um sicherzustellen, dass Institutionen wie die Wahlkommission durch künftige Regierungen nicht angetastet bzw. abgeschafft werden können" und eine Reform des Oberhauses, "in dem überwiegend gewählte Mitglieder sitzen sollten".

Sie sind sich zweifellos im Klaren darüber, wie wirkungslos und unangemessen dies alles klingt, aber sie wollen an etwas festhalten, was nicht reparabel ist.

Wie ratlos sie auch immer sein mögen, der Bericht von Democratic Audit hat Material zusammengestellt, das politische Sprengkraft besitzt. Andere verstehen dies sehr gut.

Der Bericht wurde ausschließlich dem Guardian zugänglich gemacht und dessen Kolumnist Jonathan Freedland legte die weiteren Implikationen der beschriebenen politischen Unzufriedenheit dar. Er schreibt am 6. Juli über das Zerbröseln "der Stützpfeiler des Lebens der Nation", über die Abscheu der Öffentlichkeit gegen die Banker, die Konzerne, die Politiker, die Polizei und die Presse.

"Eine Institution nach der anderen, auf die sich die Menschen früher verließen - Banken, das Parlament, die Polizei, die Presse - werden entlarvt als vielleicht nicht im juristischen Sinne korrupt, aber durch und durch zerfressen von Gier."

Das Resultat davon ist: "Bei jedem Reinhören in Radiosendungen mit Hörerbeteiligung oder beim Lesen von Onlinekommentaren kann man die Wut wahrnehmen, die dadurch hervorgerufen wird."

Freedlands Antwort darauf ist ebenso hoffnungslos wie die von Democratic Audit.

"Labour muss dieser Wut Ausdruck verleihen", rät er. "Ed Miliband [der Vorsitzende der Labour Partei] hat dies einmal getan, als er den "Raubtierkapitalismus" angegriffen hat. Er muss jedoch weitergehen, nicht nur, um seine Partei wieder an die Macht zu bringen, sondern um der Sache der Demokratie selbst willen. Denn wenn diese Wut keinen friedlichen Ausweg findet, wird sie einen anderen finden. Aber täuscht Euch nicht, sie wird einen finden."

Miliband und die Labour Party sind völlig unfähig, der sozialen Wut und Entfremdung Ausdruck zu geben. Eine Partei, die eng verknüpft mit dem kapitalistischen System und vollkommen der globalen Finanzoligarchie verpflichtet ist, hat wenig mehr zu bieten, als sich verbal als Gegner der schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus darzustellen. Sie sind völlig unfähig zu einer Politik, die tatsächlich etwas für die entfremdeten Massen bedeutet, die Arbeitsplätze, einen Lohn, der zum Leben ausreicht, Gesundheitsvorsorge, eine Rente wollen. Sie haben nichts anderes zu bieten als tieferes Elend und noch mehr Kürzungen.

Freedland beruhigt sich damit, dass er versichert: "Die klaren alternativen Ideologien, die, sagen wir, in den 1930er Jahren die soziale Wut bündeln konnten, fehlen heute. Niemand glaubt, dass die Massen bereit sind, die Paläste zu stürmen."

Der Journalist erinnert an eine Periode, in der Millionen von Arbeitern beseelt von der tiefen Überzeugung waren, dass der Kapitalismus gescheitert sei und bereit waren, für eine sozialistische Alternative zu kämpfen. Freedland mag den Wunsch haben, die Möglichkeit auszuschließen, dass solche Stimmungen erneut auftauchen und sich politisch artikulieren können. Dennoch stellt die "Stimmung radikaler Desillusionierung", die er diagnostiziert, einen Gutteil der objektiven Grundlage für die Entwicklung einer neuen revolutionären Massenbewegung in Großbritannien dar.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 13.07.2012
Forschungsinstitut Democratic Audit: Britische Demokratie im Niedergang
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juli 2012