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GLEICHHEIT/4820: Gaucks Staatsbesuch in Frankreich


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Gaucks Staatsbesuch in Frankreich

Von Peter Schwarz
6. September 2013



Bundespräsident Joachim Gauck hat am Mittwoch als erster hochrangiger deutscher Politiker Oradour-sur-Glane besucht. Das Dorf im französischen Zentralmassiv war 1944 Schauplatz eines bestialischen Kriegsverbrechens.

Vier Tage nach der Invasion der Alliierten in der Normandie hatten Einheiten der SS-Panzerdivision "Das Reich" aus Rache für einen angeblichen Partisanenüberfall sämtliche Bewohner des Ortes ermordet. 642 Menschen fielen dem Massaker zum Opfer, darunter 207 Kinder und 254 Frauen, die eingeschlossen in einer Kirche bei lebendigem Leibe verbrannten. Nur sechs Personen überlebten.

Wie bei vielen ähnlichen Naziverbrechen in Italien, Griechenland, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und der Sowjetunion zog die deutsche Justiz nie einen Täter zur Verantwortung oder überstellte ihn an Frankreich. Lediglich ein DDR-Gericht verurteilte 1983 den 63-jährigen Heinz Barth zu lebenslanger Haft, weil er als SS-Obersturmführer an dem Massaker teilgenommen hatte. Im wiedervereinten Deutschland bezog Barth dann eine Kriegsopferrente und wurde 1997 aus der Haft entlassen. Er starb 2007.

Ein französisches Militärtribunal in Bordeaux hatte 1953 zwar zwei am Massaker beteiligte SS-Soldaten zum Tode und 18 weitere zu Strafarbeit verurteilt. 14 Elsässer, die sich unter den Verurteilten befanden, wurden aber aufgrund eines Amnestiegesetzes für französische Staatsbürger umgehend wieder freigelassen. Auch die deutschen SS-Leute, einschließlich der zum Tode verurteilten, waren spätestens 1959 wieder auf freiem Fuß.

Gauck besuchte den Ort des Massakers, dessen Ruinen als Mahnmal erhalten blieben, in Begleitung des französischen Präsidenten François Hollande und eines Überlebenden. Er sprach von einem "barbarischen, zum Himmel schreienden Verbrechen" und äußerte seine "Dankbarkeit und Demut" angesichts der Einladung nach Oradour. Sie sei "eine Geste der Versöhnung - eine Geste, die man nicht erbitten, die man nur geschenkt bekommen kann".

Gestützt auf den Philosophen Karl Jaspers bekannte sich Gauck zur "moralischen Kollektivschuld der Deutschen für die Geschehnisse der Jahre 1933-45". Er versicherte seinen Zuhörern, die "Kinder und Enkel der Täter" hätten die "geistigen Bedingungen des deutschen Lebens" neu gestaltet, und zwar so, "dass unser Land nie wieder Hort ideologisch motivierter Menschenfeindlichkeit, von Rassenwahn, Verbrechen, Mord und Krieg werden kann".

"Wir werden Oradour und die anderen europäischen Orte des Grauens und der Barbarei nicht vergessen", versprach Gauck.

Tatsächlich diente die Beschwörung der Schrecken der Vergangenheit nicht dazu, Lehren für eine friedliche Zukunft zu ziehen, sondern die Gegenwart zu verdrängen und neue Kriegsverbrechen vorzubereiten.

Dies unterstrich die Debatte, die zeitgleich in der 400 Kilometer entfernten französischen Nationalversammlung stattfand. Dort diskutierten die Abgeordneten über einen Krieg gegen Syrien. Abstimmen durften sie nicht, da sich Präsident Hollande, dem laut Verfassung die Entscheidung zusteht, längst für einen Militärschlag an der Seite der USA entschieden hat.

In Syrien schrecken Deutschland, Frankreich und die USA nicht davor zurück, mit islamistischen "Rebellen"-Milizen zusammenzuarbeiten, die ähnlich brutal wie einst die SS gegen ihre Gegner vorgehen und die Ermordung politischer Gegner und der Angehörigen christlicher, alawitischer und kurdischer Minderheiten sogar auf Videos im Internet zur Schau stellen.

Hollande selbst scheute sich nicht, das Verbrechen von Oradour für die Rechtfertigung eines weiteren Kriegs zu instrumentalisieren, der eindeutig gegen das Völkerrecht verstößt. Ohne Syrien direkt beim Namen zu nennen, zog er eine Verbindung zwischen dem Massaker von 1944 und heutigen "Massakern auf dieser Welt". Gemeint war der Giftgas-Einsatz in Syrien, für den Frankreich und die USA den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad verantwortlich machen und der ihnen als Vorwand für einen lange vorbereiteten Krieg dient.

Es ist bezeichnend, dass Gauck weder in seiner Rede in Oradour noch in der Ansprache, die er tags zuvor während einem offiziellen Abendessen in Paris gehalten hatte, mit einer einzigen Silbe auf die Kriegspläne gegen Syrien einging. Der ehemalige Pastor aus der DDR, der so gerne über Freiheit, moralische Verantwortung und ähnliches salbadert, übt sich in Schweigen, wenn es um die Vorbereitung eines Kriegsverbrechens vor den Augen der Weltöffentlichkeit geht.

Sein Besuch in Oradour, der sowohl von der deutschen wie von der französischen Presse hoch gelobt wurde, diente in erster Linie dazu, Hollandes Kriegsplänen einen moralischen Deckmantel zu verschaffen. Gauck vertritt damit die Line der Bundesregierung und der rot-grünen Opposition, die längst ihre Zustimmung für einen Krieg gegen Syrien signalisiert haben, auch wenn sie mit Rücksicht auf den Bundestagswahlkampf vor einer direkten militärischen Unterstützung zurückschrecken.

Gauck wurde während seines Frankreichbesuchs nicht müde, die deutsch-französische Freundschaft zu beschwören. Seine Rede in Oradour endete mit einem Lob der europäischen Einheit und dem Aufruf, "an diesem Europa" festzuhalten und weiter zu bauen.

Der sorgfältig inszenierte Auftritt in Oradour sollte an ein Treffen von Präsident François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl im September 1984 in Verdun erinnern. Um das enge politische Bündnis zwischen Deutschland und Frankreich zu unterstreichen, hatten die beiden Politiker damals auf dem bekanntesten Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs minutenlang Hand in Hand vor den Kameras der Weltpresse posiert. Gauck und Hollande bemühten sich in Oradour, diese Geste zu wiederholen. Auch sie hielten sich vor der Kulisse des Schreckens lange und demonstrativ an der Hand.

Allein schon der Umstand, dass sie sich genötigt sahen, diese Geste nach 29 Jahren zu wiederholen, zeigt, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich äußerst gespannt sind. Das unterstrich auch Gaucks Bemerkung, Deutschland sei heute "ein gutes Land", das "Europa bauen, aber nicht beherrschen" wolle. Gäbe es keine deutschen Herrschaftsbestrebungen, hätte Gauck auch keinen Grund, sie ausdrücklich zu dementieren.

Tatsächlich sind die deutsch-französischen Beziehungen seit dem Ausbruch der internationalen Wirtschaftskrise im Jahr 2008 von wachsenden Spannungen geprägt. Die Austeritätspolitik, die Deutschland der Europäischen Union als stärkste Wirtschaftsmacht aufgezwungen hat, macht Frankreich und seinen engsten wirtschaftlichen Partnern in Südeuropa schwer zu schaffen.

Hinzu kommt, dass Deutschland stark vom Euro profitiert, der in Paris ursprünglich als Mittel galt, eine wirtschaftliche Übermacht des westlichen Nachbarn zu verhindern. Die gemeinsame Währung begünstigt die deutsche Exportindustrie auf dem europäischen Markt und verhilft ihr im außereuropäischen Handel zu einem relativ niedrigen Wechselkurs. Seit die Zinsen für Staatsanleihen auseinanderklaffen, wirken die niedrigen Zinsen in Deutschland zudem wie ein künstliches Konjunkturprogramm, während südeuropäische Länder unter hohen Zinsen leiden.

In der Außenpolitik driften die deutschen und französischen Interessen ebenfalls auseinander, nachdem die Pläne für eine gemeinsame europäische Außenpolitik weitgehend gescheitert sind.

Frankreich hatte schon unter Präsident Nicolas Sarkozy begonnen, sich auf seine traditionellen Interessensphären im Mittelmeerraum, in Afrika und im Nahen Osten zu konzentrieren. Zu diesem Zweck kehrte es in die Befehlsstruktur der Nato zurück, wo es eng mit den USA zusammenarbeitet. Der Krieg gegen Libyen ging weitgehend auf Sarkozys Initiative zurück, und Hollande hat diesen Kurs in Mali und in Syrien nahtlos fortgesetzt.

Die Interessen Deutschlands konzentrieren sich dagegen auf Osteuropa als verlängerte Werkbank für seine Industrie, auf Russland als wichtigsten Energielieferanten und auf China als am schnellsten wachsenden Exportmarkt. Im Libyenkrieg hatte sich Berlin enthalten, was heute als Fehler gilt. Die deutsche Außenpolitik hat daraus den Schluss gezogen, dass sie ihre Interessen - zumindest vorläufig - nur in Zusammenarbeit mit den USA verwirklichen kann. Deshalb hat Berlin grünes Licht für einen Schlag gegen Syrien gegeben.

Gaucks Staatsbesuch in Frankreich - der erste eines Bundespräsidenten seit 17 Jahren - verfolgte in diesem Zusammenhang ein doppeltes Ziel: Er sollte die wachsende Konflikte mit Frankreich dämpfen und Hollande Rückendeckung für den Krieg gegen Syrien geben. Dass dies auf den Gräbern der Opfer von Oradour geschah, ist an Zynismus nicht zu überbieten.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 06.09.2013
Gaucks Staatsbesuch in Frankreich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2013