Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


GLEICHHEIT/5650: Flüchtlinge werden zum Spielball nationaler Interessen


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Flüchtlinge werden zum Spielball nationaler Interessen

Von Martin Kreickenbaum
4. September 2015


Die Konflikte innerhalb der Europäischen Union über die Verteilung von Flüchtlingen eskalieren weiter. Während der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban erklärte, die Flüchtlinge seien kein europäisches, sondern ein deutsches Problem, weil die deutsche Regierung "die Syrer an den gedeckten Tisch eingeladen" habe, pocht die deutsche Regierung auf die Einhaltung der europäischen Asylregeln. Sie übt massiven Druck auf die Regierung in Budapest aus, die Flüchtlinge an der Weiterreise nach West- und Nordeuropa zu hindern.

Auf Drängen der deutschen Behörden hat außerdem die italienische Regierung beschlossen, am Brennerpass an der italienisch-österreichischen Grenze wieder Grenzkontrollen einzuführen. Gleichzeitig hat der deutsche Innenminister Thomas de Maizière angekündigt, das im Grundgesetz verankerte Asylrecht weiter zu beschneiden und zusätzliche Maßnahmen vorgelegt, mit denen Flüchtlinge vor der Einreise abgeschreckt werden sollen.

Am Budapester Ostbahnhof Keleti spielten sich am Donnerstagmorgen erneut tumultartige Szenen ab. Zunächst hatte sich die Polizei von den Absperrungen zurückgezogen und so den am Bahnhof ausharrenden Flüchtlingen Zugang zur Bahnhofshalle gewährt. Der ungarische Bahnbetreiber erklärte dann aber, dass alle internationalen Verbindungen gestrichen seien.

Die Flüchtlinge stürmten daraufhin einen Regionalzug in Richtung Sopron an der österreichisch-ungarischen Grenze. Der Zug wurde 40 Kilometer hinter Budapest nahe der Ortschaft Bicske von der Polizei gestoppt. In Bicske befindet sich ein berüchtigtes Auffanglager für Flüchtlinge. Neben einem massiven Polizeiaufgebot warteten 20 Busse und Dolmetscher auf die Flüchtlinge, die gewaltsam aus dem Zug gezerrt wurden.

Die Flüchtlinge schlugen verzweifelt gegen die Zugfenster und riefen: "Kein Lager! Kein Lager!" Einige warfen sich auf die Gleise und wurden von der Polizei abgeführt. Ein freiwilliger Helfer erklärte der Nachrichtenagentur AFP in Budapest, die Öffnung des Bahnhofs sei nur ein Täuschungsmanöver gewesen. "Sie wollen auf Teufel komm raus die Leute hier weg haben und in Lager bringen. Ich denke, das war ein sehr zynischer Trick."

Viktor Orban, der sich zu einem Treffen mit dem Präsidenten des Europaparlaments Martin Schulz, dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Brüssel aufhielt, erklärte, sein Land tue nur seine Pflicht und registriere die Flüchtlinge ordnungsgemäß. "Alle würden gern nach Deutschland gehen. Unsere Aufgabe ist es, sie zu registrieren, und das machen wir auch, so wie Angela Merkel das gefordert hat."

Die diplomatischen Spannungen zwischen Berlin und Budapest wurden durch den starken Anstieg der Flüchtlingszahlen ausgelöst, durch den das Dublin-Verfahren faktisch zusammengebrochen ist. Danach ist der Staat, in dem Flüchtlinge erstmals europäischen Boden betreten, zu deren Registrierung und Aufnahme verpflichtet.

Aber seit Jahresbeginn haben annähernd 300.000 Flüchtlinge das Mittelmeer in Richtung Europa passiert. Staaten mit EU-Außengrenzen wie Italien, Griechenland und Ungarn erklärten sich zunehmend für überfordert und mit den Flüchtlingen allein gelassen. Sie ließen viele Flüchtlinge ohne Registrierung weiter ziehen.

Seither verschärfen fast alle EU-Staaten in einem Wettlauf der Schäbigkeit ihre Repressionsmaßnahmen gegen Flüchtlinge und die Asylgesetze. Die Regierung in Ungarn hat einen Stacheldrahtzaun an der 175 Kilometer langen Grenze zu Serbien errichtet, Internierungslager für Flüchtlinge geschaffen und die Strafen für illegale Einreise und Fluchthilfe drastisch verschärft. Für Mitte September hat die ungarische Regierung ein weiteres Maßnahmenpaket angekündigt, das unter anderem den Einsatz der Armee an der Grenze vorsieht, um den Zuzug von Flüchtlingen auf Null zu reduzieren.

Offiziell wird die ungarische Regierung für diese drakonischen Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr zwar gerügt, aber hinter vorgehaltener Hand findet das Vorgehen der Regierung Orban volle Unterstützung von Seiten der EU und ihrer Mitgliedsstaaten.

Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière lobte im Interview mit dem ZDF die ungarische Regierung ausdrücklich, "die im Gegensatz zu anderen Staaten etwas tue, aber an der Grenze der Überforderung ist". De Maizière schlug vor, auch in Ungarn einen "Hotspot" einzurichten, wie er schon für Italien und Griechenland vorgesehen ist. Gemeint sind damit gewaltige Internierungslager für Flüchtlinge, die gemeinsam von der EU und dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR betreut und in denen Asylanträge in einem Schnellverfahren abgearbeitet werden.

Kurz zuvor hatte de Maizière auch für Deutschland ein Maßnahmenpaket gegen Flüchtlinge angekündigt, das unterstreicht, dass der Auftritt von Bundeskanzlerin Merkel am Montag pure Heuchelei war. Merkel hatte auf ihrer traditionellen Sommerpressekonferenz [1] Verständnis für die Flüchtenden geäußert.

De Maizière will das lächerlich geringe Taschengeld für Flüchtlinge von 143 Euro im Monat weitgehend streichen und durch Sachleistungen und Gutscheine ersetzen. Ausreisepflichtigen Asylbewerbern soll die Unterstützung sogar ganz gestrichen werden. Zudem soll die Lagerpflicht wieder eingeführt werden. Flüchtlinge sollen bis zum Ende ihres Asylverfahrens in riesigen Erstaufnahmeeinrichtungen eingesperrt bleiben und nicht, wie zuletzt üblich, möglichst rasch dezentral auf die Städte und Gemeinden verteilt werden. In den Lagern sollen zudem die Standards der Unterbringung drastisch gesenkt werden.

Außer diesen Repressionsmaßnahmen schlug der Innenminister eine Änderung des Grundgesetzes vor, die die bisherige Regelung "sicherer Herkunftsstaaten" durch einen Automatismus ersetzt. Fällt die Anerkennungsquote für Flüchtlinge aus einem Land unter 1 oder 2 Prozent, soll automatisch ein verkürztes Asylverfahren zur Anwendung kommen.

Bislang setzte die perfide Regelung "sicherer Herkunftsstaaten", mit der Flüchtlinge ohne individuelle Prüfung von Fluchtgründen abgelehnt werden können, einen politischen Beschluss mitsamt Gesetzesvorlage und parlamentarischer Abstimmung voraus. Zukünftig soll es ausreichen, wenn die Behörden auf Anweisung der Regierung Asylbewerber aus einem Land regelmäßig ablehnen, damit automatisch ein verkürztes Verfahren in Kraft tritt. Das Grundrecht aus Asyl kann so durch einen Behördenbeschluss außer Kraft gesetzt werden.

Es ist kein Zufall, dass die Regierung angesichts steigender Flüchtlingszahlen zur Grundgesetzänderung greift. Das war bereits 1992 so, als Hunderttausende vor dem Bürgerkrieg aus Jugoslawien flohen. Mit der Grundgesetzänderung umgab sich Deutschland per Handstreich mit sicheren Drittstaaten und führte die Kategorie der "sicheren Herkunftsstaaten" ein. Seither ist es so gut wie unmöglich geworden, in Deutschland politisches Asyl zu erhalten. Dem "Asylkompromiss" zwischen SPD und den Unionsparteien war damals eine monatelange Hetze gegen Flüchtlinge vorausgegangen, die zu den Pogromen in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda und den tödlichen Brandanschlägen in Mölln und Solingen führte.

Auch jetzt wird wieder versucht, die Bevölkerung gegen Asylsuchende zu mobilisieren. Ins Visier geraten sind dabei vor allem Flüchtlinge aus den Balkanstaaten, die als "Asylmissbraucher" oder "Sozialtouristen" denunziert werden. Diese Stigmatisierung wiederholte de Maizière auch jetzt wieder im ZDF. Er behauptete: "Wir haben Anreizsysteme, was die Asylstandards angeht, die lösen einen Sogeffekt aus."

Dabei zeigen die neuesten Zahlen aus dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dass nur noch ein kleiner Teil der Flüchtlinge, die im Juli und August registriert worden sind, aus den Balkanstaaten stammen. Der allergrößte Teil kommt aus Syrien, Afghanistan, Irak und Eritrea und mithin aus Ländern, in denen die Interessen imperialistischer Staaten einschließlich Deutschlands zu blutigen Auseinandersetzungen geführt haben.

In einem Interview mit dem Magazin SuperIllu ging de Maizière sogar noch einen Schritt weiter und verteidigte indirekt die rassistischen Angriffe auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte, indem er erklärte: "Aber ich halte es auch für richtig, dass viele sagen, wir könnten nicht die Sozialprobleme der ganzen Welt unter der Überschrift 'Asyl' auf deutschem Boden lösen. Deshalb ist es wichtig, zu differenzieren zwischen denen, die schutzbedürftig sind, und jenen, die es nicht sind. Es ist auch erlaubt, dass wir uns Gedanken machen, wie wir in Europa und auch in Deutschland die Zahl der Antragsteller verringern."

Das unterscheidet sich kaum noch von den Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, der in Brüssel zu den Flüchtlingen erklärte: "Wenn wir ihnen den Eindruck vermittelten, sie seien willkommen, dann wäre das eine moralische Niederlage. Wir müssen ihnen klarmachen: Kommt nicht, bleibt in der Türkei, das ist besser für euch und eure Kinder."

Auf Druck der deutschen, französischen und italienischen Regierungen soll in der EU erneut über eine Quotenregelung bei der Verteilung der Flüchtlinge verhandelt werden. EU-Ratspräsident Donald Tusk hat vorgeschlagen, 100.000 Flüchtlinge aus Italien, Griechenland und Ungarn anhand festgelegter Quoten umzusiedeln. Insbesondere die osteuropäischen Staaten sperren sich aber gegen jegliche Aufnahme von Flüchtlingen. "Quoten halten keine Migranten auf, sie verhindern nicht, dass sie in LKWs oder auf Schiffen umkommen", sagte der slowakische Außenminister Miroslav Lajcak dem Boulevardblatt Bild.

Der Europaparlamentspräsident Martin Schulz warnte davor, dass die Flüchtlingsfrage die Europäische Union zerreißen könnte, wenn sich "nationale Egoismen" durchsetzen. Nach dem Treffen mit Viktor Orban in Brüssel erklärte er: " Wenn wir keine gemeinsame Lösung finden, dann ist eine Spaltung der Europäischen Union eine echte Gefahr, die wir nicht ausschließen können."

In einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hatte Orban der Europäischen Union zuvor eine verfehlte Einwanderungspolitik vorgeworfen und den Schutz der Grenzen um jeden Preis zum obersten Prinzip erklärt. Über jede andere Frage zur Flüchtlingskrise "lohnt es sich nur dann zu sprechen, wenn die Flut aufgehalten worden ist", sagte er.


Anmerkung:
[1] https://www.wsws.org/de/articles/2015/09/02/merk-s02.html

*

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: psg[at]gleichheit.de

Copyright 2015 World Socialist Web Site - Alle Rechte vorbehalten

*

Quelle:
World Socialist Web Site, 04.09.2015
Flüchtlinge werden zum Spielball nationaler Interessen
http://www.wsws.org/de/articles/2015/09/04/flue-s04.html
Partei für Soziale Gleichheit
Sektion der Vierten Internationale (PSG)
Postfach 040 144, 10061 Berlin
Telefon: (030) 30 87 27 86, Telefax: (032) 121 31 85 83
E-Mail: psg[at]gleichheit.de
Internet: www.wsws.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. September 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang