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GLEICHHEIT/6100: Militäroffensive auf Mossul verschärft regionale Spannungen


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Militäroffensive auf Mossul verschärft regionale Spannungen

Von Jordan Shilton
25. Oktober 2016


Seit dem Vormarsch der irakischen Armee und der kurdischen Peschmerga-Truppen auf die vom Islamischen Staat (IS) kontrollierte Millionenstadt Mossul haben sich am Wochenende die Spannungen zwischen der Türkei und dem Irak verschärft.

US-Verteidigungsminister Ashton Carter traf am Freitag in Ankara ein. Er reiste am Samstag weiter zu einem Treffen in Bagdad und besuchte am Sonntag Irbil, die Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan (KRG). Nach seinem Treffen mit dem türkischen Präsidenten Recep TayyipErdogan erklärte Carter, er habe mit ihm eine Grundsatzvereinbarung ausgehandelt, die es den nahe Mossul stationierten türkischen Truppen ermöglicht, an der Militäroffensive teilzunehmen.

Doch nur vierundzwanzig Stunden später wies die irakische Regierung das Abkommen zurück. Sie hatte im Voraus angekündigt, mit Gewalt gegen türkische Truppen vorzugehen, wenn diese in die Kämpfe eingreifen würden. Ministerpräsident Haider al-Abadi erklärte, die irakischen Truppen würden Mossul ohne ausländische militärische Unterstützung erobern. Nach dem Gespräch mit Carter erklärte er: "Ich weiß, dass die Türken teilnehmen wollen, aber wir müssen dankend ablehnen. Die Iraker werden diese Angelegenheit selbst regeln, und die Iraker werden Mossul und den Rest der Territorien befreien."

Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim ignorierte al-Abadis Erklärung und bestätigte am Sonntag, dass türkische Panzer und Artillerie die Peschmerga-Kämpfer bei ihrem Vormarsch auf die vom IS kontrollierte Stadt Baschika unterstützt hätten. Al-Abadi bezeichnete den Stützpunkt nahe Baschika, der von türkischen Soldaten benutzt wurde, als eine illegale Besetzung irakischen Staatsgebiets.

Erdogan hatte letzte Woche in einer Rede regionale Ansprüche der Türkei im Nahen Osten und auf dem Balkan geltend gemacht und erklärte, dass die türkischen Truppen nicht abziehen werden. Er betonte, die Türkei werde sich am Kampf um Mossul beteiligen. Sie teilten eine "350 Kilometer lange Grenze mit dem Irak, und werden von jenseits der Grenze bedroht. ... Die Türkei wird sich an der Operation auf Mossul beteiligen und am Verhandlungstisch sitzen. Es kommt gar nicht in Frage, dass wir uns da heraushalten. Wir haben eine Geschichte in Mossul."

Der Streit zwischen der irakischen und der türkischen Regierung ist nur einer von zahlreichen regionalen und religiösen Konflikten, die mit der jüngsten, US-geführten Militäroffensive geschürt werden. Washington hat im Laufe seiner Interventionen im Irak und Syrien mehrere Bündnisse mit gegenseitig verfeindeten Staaten und nichtstaatlichen Kräften geschlossen. In dieser Situation wächst die Gefahr, dass die Konflikte außer Kontrolle geraten und die Großmächte in einen offenen Krieg ziehen könnten.

Die Türkei kündigte am Sonntag weitere Angriffe auf die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Nordsyrien an. Diese Milizen werden von den USA unterstützt. Carter versuchte während seines Aufenthalts in der Türkei, die Spannungen zwischen Washington und Ankara zu besänftigen. Doch die jüngsten Angriffe auf die kurdischen YPG zeigen, dass die USA und die Türkei entgegengesetzte Interessen verfolgen.

Vor diesem Hintergrund könnten sich außerdem die Spannungen mit Damaskus verschärfen. Syriens Regierung hatte bereits mit dem Abschuss türkischer Flugzeuge gedroht, wenn diese Luftangriffe auf ihr Staatsgebiet fliegen sollten. Eine solche Entwicklung könnte von den USA und ihren Nato-Verbündeten leicht ausgenutzt werden, um einen offenen Krieg in Syrien mit der Begründung zu rechtfertigen, dass die Türkei, ein Nato-Mitglied, angegriffen wurde.

Die Nato würde bei einer solchen Intervention nicht nur gegen Syrien kämpfen, sondern auch gegen die Atommacht Russland, die das Assad-Regime unterstützt, um seinen einzigen Verbündeten im Nahen Osten zu stärken.

Selbst innerhalb der "Anti-IS-Koalition", die momentan auf Mossul vorrückt, bestehen grundlegende Differenzen. Immer mehr Kommentatoren müssen einräumen, dass die Eroberung von Mossul vermutlich eine weitere Welle religiös motivierter Massaker auslösen wird, wenn die rivalisierenden Milizen versuchen, Teile dieser Region zu besetzen. Zu diesen Kräften gehören schiitische Gruppen, die in den sogenannten Volksmobilmachungseinheiten (PMU) organisiert sind und offiziell der Regierung in Bagdad unterstehen, in Wirklichkeit aber vom Iran kontrolliert werden; sunnitische Stammesmilizen; in der Türkei ausgebildete sunnitische Kämpfer; und die reguläre irakische Armee. Vor allem könnte sich der Konflikt zwischen der Autonomen Region Kurdistan und Bagdad zuspitzen. Der Außenminister der KRG hatte letzte Woche erklärt, dass die KRG im Gegenzug zur Teilnahme ihrer Peschmerga-Streitkräfte an der Militäroffensive einen Anteil an der energiereichen Region um Mossul fordert, um die sich Irbil und Bagdad bereits jetzt teilweise streiten.

Genau wie beim Einmarsch im Irak 2003 wird der US-Imperialismus nicht zögern, diese regionalen Spannungen rücksichtslos auszunutzen, um seine dauerhafte Militärpräsenz im rohstoffreichen Irak zu festigen und seine Vormachtstellung in der ganzen Region auszudehnen.

Mehrere Berichte belegen, dass IS-Kämpfer aus Mossul nach Syrien fliehen, weil die Stadt noch nicht vollständig eingekesselt wurde. Der französische Präsident François Hollande gab am Donnerstag während einer diplomatischen Konferenz in Paris zu, dass IS-Kämpfer auch nach Rakka reisten.

Diese Entwicklung entlarvt die Lüge vom "Krieg gegen den Terror", mit der das amerikanische politische Establishment und die großen Medien in den letzten zwei Jahrzehnten einen Krieg nach dem anderen gerechtfertigt haben. In Wirklichkeit hat Washington den IS toleriert, als er in Syrien entstand, und betrachtete ihn als nützliches Werkzeug im Kampf zum Sturz des Assad-Regimes. Erst als die Gruppe auch im Irak beträchtliche Erfolge erzielte und das pro-amerikanische Regime zu destabilisieren drohte, entschied sich Washington zur Intervention gegen den IS.

Während Washington mit seiner Unterstützung der Militäroffensive in Mossul einer weiteren humanitären Katastrophe den Weg bereitet, verschärft es gleichzeitig den Konflikt in Syrien. Am Freitag sprach ein Bericht der Vereinten Nationen von einem dritten Chemiewaffenangriff seitens des Assad-Regimes. Daraufhin veröffentlichte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats Ned Price eine aggressive Stellungnahme, in der er Russland und dem Iran Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das Völkerrecht vorwarf. Price schwor, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und erklärte: "Wir rufen alle UN-Mitgliedsstaaten und Teilnehmer der Chemiewaffenkonvention, darunter Russland und den Iran, die weiterhin für das Assad-Regime Militäroperationen durchführen, dazu auf, diese Anstrengungen unmissverständlich zu unterstützen und unsere gemeinsame Verpflichtung zu den internationalen Normen gegen den Einsatz von Chemiewaffen aufrechtzuerhalten." Weiter erklärte er: "Die militärische und wirtschaftliche Unterstützung Russlands für Syrien ermöglicht es dem Assad-Regime, seinen Feldzug gegen sein eigenes Volk fortzusetzen. Wie die Ergebnisse dieses Berichts zeigen, verstößt es dabei gegen das Völkerrecht."

Die Heuchelei und Doppelmoral der USA kennen keine Grenzen. Sie verurteilen Assad und seine russischen Unterstützer, weil sie Chemiewaffen einsetzen und islamistische Milizen in Ost-Aleppo angreifen, während sie gleichzeitig nur wenige hundert Kilometer weiter östlich ein Kriegsverbrechen von noch viel größerem Ausmaß vorbereiten.

Mithilfe der amerikanischen Massenmedien, die ihre Reporter zu den irakischen und kurdischen Truppen schicken und ständig Propagandaberichte liefern, wird das schreckliche Ausmaß der humanitären Katastrophe, die von den USA und ihren Verbündeten verursacht wurde, vor der Öffentlichkeit weitgehend verheimlicht.

Mehr als 5.600 Menschen sind seit Beginn des Vorstoßes auf Mossul am 17. Oktober bereits geflohen. Der UNICEF-Vertreter im Irak, Peter Hawkins, beschrieb die Bedingungen in einem der Flüchtlingslager als "sehr, sehr schlecht" für Kinder und fügte hinzu, dass die von Entwicklungshelfern gelieferten Vorräte nur für eine Woche reichen würden.

Laut Schätzungen der UN werden in den ersten vier Wochen der Offensive 200.000 Menschen aus Mossul fliehen. Im schlimmsten Fall könnte diese Zahl in den kommenden Monaten auf bis zu eine Million ansteigen. Das UN-Hilfswerk wies darauf hin, dass sie bisher nur 58 Prozent der Gelder, die für humanitäre Nothilfe gebraucht werden, erhalten habe. Tausende Menschen würden unter diesen Umständen dem Tod überlassen, während viele weitere unter elenden Bedingungen auf sich allein gestellt sein werden. William Spindler, ein Sprecher des UN-Hilfswerks, erklärte letzte Woche, der Angriff auf Mossul könnte eine humanitäre Katastrophe auslösen und "zu einer der größten, von Menschen verursachten Flüchtlingskrisen der letzten Jahre" führen.

Die Berichterstattung der Medien konzentriert sich fast ausschließlich darauf, dass der IS die Einwohner Mossuls als menschliche Schutzschilde missbraucht. In Wirklichkeit geht aber die größte Gefahr für die Bevölkerung von den Luftangriffen aus, mit denen die USA und ihre Verbündeten die Offensive unterstützen. Dieser Militäreinsatz wird mit großer Wahrscheinlichkeit eine weitere Welle religiöser Gewalt in der Region entfachen.

Als Reaktion auf einen Angriff von 50 IS-Kämpfern auf die Stadt Kirkuk, die sich am Freitag eine einstündige Schlacht mit Sicherheitskräften lieferten, führten die USA einen Luftangriff durch, bei dem mindestens fünfzehn Frauen nahe eines schiitischen Schreins getötet und viele weitere Zivilisten verwundet wurden.

Sowohl den schiitischen PMU-Milizen, die eine wichtige Rolle bei der Rückeroberung anderer Städte, unter anderem von Ramadi, gespielt haben, als auch den kurdischen Peschmerga-Einheiten werden Kriegsverbrechen vorgeworfen. Die Peschmerga sollen letztes Jahr ethnische Säuberungen in sunnitischen Dörfern durchgeführt haben, die sie vom IS zurückerobert hatten. Die PMU waren laut Amnesty International ebenfalls an Vergeltungsaktionen gegen Sunniten beteiligt, darunter Entführungen, Folter und Morde.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 25.10.2016
Militäroffensive auf Mossul verschärft regionale Spannungen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2016

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