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GLEICHHEIT/6257: EU erwartet nach dem Brexit noch härtere Konflikte


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

EU erwartet nach dem Brexit noch härtere Konflikte

Von Alex Lantier
6. März 2017


Am 1. März veröffentlichte der Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker das sogenannte "Weißbuch zur Zukunft Europas". Es gilt als wichtigste politische Reaktion der EU-Exekutive auf die britische Entscheidung, die EU zu verlassen.

Das Brexit-Votum im Juni 2016 war der Auftakt für eine Reihe von politischen Rückschlägen für die EU. Im Dezember lehnten die Wähler in Italien ein EU-freundliches Verfassungsreferendum ab. Die Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich im Frühjahr werden vom Aufstieg rechtsextremer und antieuropäischer Parteien dominiert, die von der Erbitterung über die EU-Sparpolitik profitieren. Sollte der Front National in Frankreich aufgrund seiner Hetze gegen den Euro und die EU an die Macht kommen, bestünde die akute Gefahr, dass die EU und ihre zentrale deutsch-französische Achse auseinanderbrechen.

Wie Donald Trumps Wahlsieg zeigt, ist der US-Imperialismus - der in der Geschichte die europäische Vereinigung am stärksten vorantrieb - über die Rolle der EU tief gespalten. Trump hat behauptet, Deutschland bediene sich der EU, um die anderen europäischen Länder auszubeuten. Schon im Wahlkampf (als die Obama-Regierung mit der EU gemeinsam in Syrien und der Ukraine den Konflikt mit Russland schürte) betonte er, ein Atomwaffeneinsatz in Europa sei nicht auszuschließen.

Die Europäische Kommission steht der deutschen Regierung sehr nahe. Junckers Dokument verdeutlicht, dass die Union auf den anhaltenden gesellschaftlichen Zusammenbruch und den Kriegskurs keine Antwort hat. Trotz des Versuchs, gute Miene zur aktuellen Lage zu machen, zeichnet das Weißbuch ein verheerendes und zutiefst pessimistisches Bild von der EU. Es präsentiert fünf grobe und diffus gehaltene Szenarien, die alle davon ausgehen, dass sich die Spannungen verschärfen und die politische Uneinigkeit in den heutigen Grenzen sich vertieft. Dabei empfiehlt das Dokument eine massive militärische Aufrüstung, um diese Probleme zu übertünchen.

"Viele Generationen lang war Europa immer die Zukunft", heißt es in der Einführung des Weißbuchs. Und im Vorwort: "Am 25. März 2017 werden die 27 Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Rom in Frieden und Freundschaft vereint sein." Es geht dabei um den 60. Jahrestag der Römischen Verträge, mit denen 1957 der Versuch begann, Europa auf kapitalistischer Grundlage zu vereinen. Heute jedoch ist die EU eindeutig Vergangenheit: Wie das Weißbuch selbst einräumt, drohen der Bevölkerung Krieg und unablässiger sozialer Niedergang.

Das Dokument warnt vor schlimmen äußeren Gefahren wie "Krieg und Terror im Nahen Osten und in Afrika" und erwähnt einen anhaltenden "Aufmarsch von Truppen an unseren östlichen Grenzen". Es verschweigt jedoch, dass die führenden EU-Mächte als Nato-Mitglieder für diese Gefahren mit verantwortlich sind. Seit Jahrzehnten beteiligen sie sich an Regimewechsel-Kriegen im Irak, in Libyen und in Syrien. Mit dem von der Nato unterstützten Putsch in der Ukraine 2014 hat eine immense militärische Aufrüstung an der Grenze zu Russland begonnen.

Deutschland, Frankreich und weitere Länder haben ihre Militärausgaben um mehrere Milliarden Euro erhöht und Schweden hat die Wehrpflicht wieder eingeführt. Trotzdem fordert das Dokument eine weitere Aufrüstung und spricht sich offen für Kriegsvorbereitungen aus: "Europa darf nicht naiv sein, sondern es muss seine Sicherheit selbst in die Hand nehmen. Eine `sanfte Macht` ist nicht länger machtvoll genug, wenn Gewalt die Regeln außer Kraft zu setzen droht."

Dieser Kriegskurs geht Hand in Hand mit der Angst vor einem erneuten globalen Wirtschaftszusammenbruch, da der freie Handel kollabiert. Das Dokument weist auf "Zweifel an der Zukunft des internationalen Handels und des Multilateralismus" hin und sagt voraus, es werde zunehmend schwieriger werden, "für einen freien und fortschrittlichen Handel einzutreten und die Globalisierung zum Wohle aller zu gestalten".

Wie das Weißbuch einräumt, ist der soziale Niedergang durch die Nachwirkungen des Wirtschaftszusammenbruchs von 2008 der Hauptgrund dafür, dass der internationale Kapitalismus und Handel immer mehr in Misskredit geraten. Wörtlich heißt es: "Es bleibt deshalb eine dringende Priorität, die Altlasten der Krise - von der Langzeitarbeitslosigkeit bis hin zur hohen öffentlichen und privaten Verschuldung in vielen Teilen Europas - zu überwinden. Die Herausforderung ist besonders groß für die jüngere Generation. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg besteht die Gefahr, dass es der heutigen Jugend schlechter gehen wird als ihren Eltern."

Das Weißbuch prognostiziert einen konstanten relativen Rückgang von Europas demografischem und wirtschaftlichem Gewicht. Europas Anteil an der Weltbevölkerung wird laut diesen Prognosen von 25 Prozent im Jahr 1900 bis zum Jahr 2060 auf vier Prozent sinken, sein Anteil an der Weltwirtschaft von 26 Prozent im Jahr 2004 auf unter zwanzig Prozent im Jahr 2030.

Das Weißbuch skizziert fünf vage Strategien für den weiteren gemeinsamen Fortbestand der restlichen 27 EU-Mitgliedsstaaten. Diese Strategien heißen: "Weiter wie bisher", "Schwerpunkt Binnenmarkt", "Wer mehr will, tut mehr", "Weniger, aber effizienter" und "Viel mehr gemeinsames Handeln".

Die Option "Weiter wie bisher" könne dabei nicht verhindern, dass die Einheit der EU "bei ernsthaften Differenzen wieder auf dem Spiel stehen" würde. Allein die Tatsache, dass ein solches Festhalten am bisherigen Kurs mit allen Abkommen, die vor und kurz nach dem Brexit unterzeichnet wurden, nur eine von fünf Optionen ist, zeigt die enorme Instabilität der EU. Das Weißbuch hält es durchaus für möglich, dass sich die EU zu einer Freihandelszone mit Binnenmarkt zurückentwickelt.

Bei den weiteren Szenarien weisen die Kommentatoren in Politik und Medien darauf hin, dass der Plan, jene Länder zu konzentrieren, die "mehr wollen und mehr tun", zur Entstehung eines "Kern"-Europas führen würde. All jene Staaten, die nicht "mehr wollen", würden faktisch zu Mitgliedern zweiter Klasse oder gänzlich an den Rand gedrängt werden.

Der ungarische Wirtschaftsminister Mihaly Varga sprach sich ausdrücklich gegen diese Möglichkeit aus und warnte, "starke Akteure" könnten versuchen, die anderen an den Rand zu drängen. Dies würde in den abgehängten Staaten "soziale Unruhe" auslösen. Er erklärte: "Es besteht durchaus die Gefahr, dass die Befürworter eines Europas mit zwei Geschwindigkeiten bestimmen werden, wer im Euroraum dazu gehört und wer nicht zum Euro gehört."

Gleichzeitig mehren sich die Anzeichen, dass die wichtigsten Mitgliedsstaaten der Eurozone den Euro abschaffen könnten. Abgesehen von einem möglichen Sieg des FN bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich hat das niederländische Parlament eine Untersuchung der Vor- und Nachteile des Euro für die Niederlande in Auftrag gegeben. Die italienische Bank Mediobanca veröffentlichte im Januar einen Bericht, laut dem die Abschaffung des Euro in Italien keine negativen Auswirkungen auf die Rückzahlung seiner Staatsschulden hätte.

Im letzten Jahrhundert haben die europäischen Mächte in zwei Weltkriegen gegeneinander gekämpft. Seither wurden über Jahrzehnte Institutionen aufgebaut, die angeblich einen weiteren solchen Krieg verhindern sollen. Doch unter der Last der Krise des europäischen Kapitalismus brechen diese Mechanismen zusammen. Vor hundert Jahren, zur Zeit des Ersten Weltkriegs und der russischen Revolution 1917, sahen die großen Marxisten voraus, dass die Widersprüche des Kapitalismus weltweit revolutionäre Kämpfe hervorbringen würden. Heute brechen diese Widersprüche wieder auf, vor allem der Widerspruch zwischen der Weltwirtschaft und dem System der Nationalstaaten.

Als Reaktion auf das Weißbuch wies die Presse auf die tiefen Spaltungen und Wahlkrisen in Europa hin. Diese Probleme hinderten Juncker daran, konkretere oder ehrgeizigere Vorschläge für die EU zu machen.

Le Monde schrieb, Juncker hoffe, mit dem Weißbuch "die Kontrolle über ein Schiff zurückzugewinnen, das bereits seit mehreren Monaten durch stürmische Gewässer schwimmt. Der Föderalist stößt an seine Schranken und muss zum Realisten werden."

Mujtaba Rahman von der Risikoberatungsgruppe Eurasia Group erklärte: "Junckers Vorschläge können nicht besonders ehrgeizig sein. Deutschland und Frankreich sind sich uneinig, was mit der Eurozone zu tun sei, und Staaten in Mittel- und Osteuropa wollen nach dem Brexit mehr Macht von Brüssel zurück. Damit sind Junckers Pläne klare Grenzen gesetzt."

Die Londoner Financial Times erwähnte einen Bericht der italienischen Beratungsfirma MacroGeo mit dem Titel "Europa in der Ära von Brexit und Trump: Zerfall und Neubildung."

Wie die Financial Times erklärte, kommt der Bericht zu dem Schluss, dass "sich die EU in ihrer derzeitigen Form vermutlich auflösen wird, selbst wenn Pro-Europäer wie der französische unabhängige Zentrist Emmanuel Macron oder der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz die diesjährigen Wahlen gewinnen sollten". In demselben Bericht heißt es: "Die Jahre bis zum Wahlzyklus 2021-2022 könnten die letzten fünf Jahre sein, in denen die EU 'real' existiert."

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Quelle:
World Socialist Web Site, 06.03.2017
EU erwartet nach dem Brexit noch härtere Konflikte
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2017

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