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GRASWURZELREVOLUTION/1050: Wunde Punkte - Wendepunkte


graswurzelrevolution 343, November 2009
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Wunde Punkte - Wendepunkte
Ereignisse der Friedlichen Revolution 1989/1990 im Raum Crimmitschau / Werdau

EIN ZEITZEUGENBERICHT

Von Schorsch Meusel. 19.10.2009


"Im Herbst 1989, als der Ulbricht-Honecker-Staat in die Luft flog, fragten mich manche, wie denn das alles so plötzlich gekommen sei. Ich antwortete, diese Eruption hätte eine lange Vorgeschichte und erinnerte mich an Königswalde, äußerte sich der Leipziger Schriftsteller Erich Loest ("Durch die Erde ein Riss", "Nikolaikirche". Das Bild einer Sprengung scheint nicht stimmig, denn "in die Luft flog" der DDR-Staat unter Gebeten, Kerzen und gewaltfreien Demonstrationen gerade nicht. Was jedoch zutrifft, dass das Christliche Friedensseminar Königswalde zwischen den Städten Werdau und Crimmitschau im damaligen Bezirk Karl-Marx-Stadt schon seit 1973 politische Reformen in der DDR einforderte und gewaltfreie Konfliktlösungen in der Gesellschaft propagierte.


Aufdeckung von Wahlfälschungen, Bevölkerungseingaben und Pilgerweg trotz Verbot

Am 14. Januar 1989, Vorabend von Martin Luther Kings 60. Geburtstag, traf sich der Vorbereitungskreis des Friedensseminars in Neukirchen an der Pleiße zu einer Klausurtagung. Ich nutzte die Gelegenheit, indem ich in der Andacht zu Beginn darauf hinwies, dass ein gesellschaftlicher Wandel in der DDR nach Kings Vorbild nur mit gewaltfreien Mitteln erfolgen dürfe. Vom Malermeister Bernd Gerber kam während des Treffens der Vorschlag, die in der DDR-Verfassung angemaßte "führende Rolle" der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu diskutieren und in Frage zu stellen.

Vor allem aber griff die Gruppe eine Anregung auf, wegen Unglaubwürdigkeit der Wahlen in der Vergangenheit mit Blick auf die bevorstehende Kommunalwahl an die Synode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens zu schreiben. Die Kirche sollte ihre Mitglieder ermutigen, bewusst zu wählen und die Wahlergebnisse während der öffentlichen Stimmenauszählung zu kontrollieren.

Zwei Teams des Friedensseminars verbreiteten diese Gedanken in Informationsabenden in kirchlichen Gruppen der Ephorie Werdau. Sie klärten auch darüber auf, was überhaupt als Nein-Stimme oder als ungültige Stimme gewertet wurde, denn öffentlich bekannt gemacht wurde dies nicht.

Die Synode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens veröffentlichte eine Stellungnahme zu den Kommunalwahlen, die am 9. April in allen Gottesdiensten verlesen wurde. Die Gemeindemitglieder wurden aufgefordert, "wahrhaftig zu sein und verantwortlich zu entscheiden. Das kann darin bestehen, an der Wahl teilzunehmen und die Kabine aufzusuchen oder von der Wahl fernzubleiben".

Im Kreis Werdau fanden sich am Wahltag, den 7. Mai, so viele SympathisantInnen des Friedensseminars, dass jeweils zwei Leute etwa in einem Viertel der Wahllokale die Stimmenauszählung mit verfolgen konnten. Gab es in Werdau-West nur 1,2 Prozent Gegenstimmen, so waren es in Königswalde 23,9 Prozent, im Durchschnitt rund 5,8 Prozent gegenüber veröffentlichten 1,3 bis 1,6 Prozent.

In absoluten Zahlen ermittelten die BeobachterInnen in dem Viertel der beobachteten Wahllokale etwa so viele Nein-Stimmen, wie die "Nationale Front" laut Zeitung für sämtliche Wahllokale zugab. Sie hatte also, hochgerechnet, etwa drei Viertel der Gegenstimmen unterschlagen. Ähnlich verlief die Wahlbeobachtung DDR-weit. Damit schmolz ein letzter Rest von Grundvertrauen der Bevölkerung in die SED-gelenkte Staatsführung dahin.

Seit Anfang 1989 wuchs die Unzufriedenheit der Menschen stärker als in den zurückliegenden Jahren. Viele resignierten und beantragten die Übersiedlung in die BRD oder versuchten, über bundesdeutsche Botschaften oder die ungarisch-österreichische Grenze in den Westen zu gelangen.

Andere übermittelten in Bevölkerungseingaben selbstbewusst mit Namen und Adresse Vorschläge und Forderungen an die staatlichen Organe. In Werdau und Crimmitschau thematisierten BürgerInnen in Eingaben die innenpolitische Entwicklung, die Informationspolitik und die Verwendung noch strahlenden Haldenmaterials aus dem Uranbergbau der "Wismut" zum Straßenbau.

In einem Brief des Friedensseminar-Vorbereitungskreises vom 13. März an die tschechoslowakische Botschaft in Ost-Berlin und in einer Solidaritätsveranstaltung am 19. März im Piusheim Crimmitschau wurde gefordert, Vaclav Havel und andere inhaftierte Oppositionelle frei zu lassen. Trotz Verbot führten wir mit 25 TeilnehmerInnen eines Treffens zum "Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" aus der DDR, der BRD, der CSSR und Polen in Königswalde am 8. April einen Pilgerweg zu Stätten von Schuld und Betroffenheit durch, quasi eine erste nicht genehmigte Demonstration. Stationen waren u.a. ein polnisches Zwangsarbeitergrab, Gefallenendenkmäler, ein Schießplatz der Wehrsportorganisation "Gesellschaft für Sport und Technik", ein Polizei-Übungsgelände, eine Mülldeponie und eine radioaktiv strahlende atomare "Absetzanlage" des sowjetisch-deutschen Uranbergbaus.


Die Schläger vom Bogendreieck - Bürger, schützt eure Volkspolizisten

Als am 4. Oktober an der Langsamfahrstrecke am Gleisdreieck Steinpleis/Ruppertsgrün von West-Sendern Zugdurchfahrten mit DDR-Botschaftsflüchtlingen von Prag nach Hof gemeldet wurden, versammelten sich dort rund 150 Empörte, Schaulustige und solche, die möglicherweise aufspringen wollten. "Schlagstock frei" - "Beißkörbe ab" lauteten die Befehle, mit denen Volkspolizisten gegen die Menschenansammlung eingesetzt wurden.

Es wurde auch von hinten, ins Gesicht und auf Gestürzte geschlagen - und es kam zu Verletzungen. Während einer Kundgebung vor dem Werdauer Rathaus am 4. Dezember 1989 entschuldigte sich der verantwortliche Major Reinhard Günther öffentlich vor den mehr als 2.000 DemonstrantInnen. Die Volkspolizei war inzwischen zu einer "Sicherheitspartnerschaft" mit den seit dem 3. November allwöchentlich stattfindenden Demonstrationen im Anschluss an ein politisches Friedensgebet in der Marienkirche übergegangen. Die Zeit dafür war längst reif, vor Ort aktiv zu werden, nachdem viele WerdauerInnen zu "Demo-TouristInnen" in die Großstädte Leipzig und Zwickau geworden waren. Im Februar 1990 kam ein Polizist zu mir. Er bat um Unterstützung.

Die Bezirksdirektion der Volkspolizei Karl-Marx-Stadt wollte als Leiter des Volkspolizei-Kreisamtes Werdau den Major, der das Vertrauen von Belegschaft und weiten Bevölkerungsteilen gewonnen hatte, durch einen Politoffizier aus Zwickau ersetzen. Am frühen Morgen des 19. Februars blockierten rund 20 BürgerInnen gemeinsam mit etwa ebenso vielen Polizisten den Zugang zu der Dienststelle, eine wohl DDR-einmalige gewaltfreie direkte Aktion.

Die Direktion nahm von dem Personalwechsel Abstand. Ein Untersuchungsausschuss wertete die polizeilichen Übergriffe gegenüber BürgerInnen an den Zügen mit Botschaftsflüchtlingen im Bezirk Karl-Marx-Stadt aus. Ein ungewohntes Bild dann, als sich am 15. März acht Volkspolizisten auf dem Altarplatz der Ruppertsgrüner Dorfkirche den kritischen Blicken und Fragen von seinerzeit Betroffenen und Gemeindemitgliedern aussetzten. Die Kirchgemeinde hatte eine Entschuldigungsveranstaltung vermittelt. "Wir waren die Lernenden", bekannte der verantwortliche Major im Beisein des Staatsanwalts gegenüber den Anwesenden.


Demokratie von unten - "freie Wahl noch vor der Wahl"

Presse und Öffentlichkeit hatten allerdings das von der Staatssicherheit überwachte Friedensseminar all die Jahre über ignoriert und tabuisiert. 1987 zum Olof-Palme-Friedensmarsch und nochmals 1988 zum 50-jährigen Pogromgedenken sah ich gewisse Gemeinsamkeiten, die eine Diskussionsgrundlage bieten könnten.

So regte ich im Friedensseminar-Vorbereitungskreis Gesprächsrunden mit Vertretern der Blockparteien und der Massenorganisationen an. Auf Anweisung der SED-Kreisleitung blockte die "Nationale Front" diese Vorhaben ab. Als sich im Oktober 1989 der Chefideologe des Politbüros der SED, Kurt Hager, unvermittelt als "Erfinder des Dialogs" präsentierte, schrieb ich empört eine Bevölkerungseingabe nach Berlin, die auch die SED-Kreisleitung Werdau erreichte.

Daraufhin bot deren Erster Sekretär, Gerd Hoffmann, mir ein Gespräch an, das ich dem Friedensseminar weitervermittelte. Daraus entwickelte sich binnen kurzem ein "Runder Tisch" - "das klingt recht polnisch", so der Kommentar des Funktionärs - der in Werdau schon am 1. Dezember, eine Woche vor dem "Zentralen Runden Tisch" in Berlin, zusammentrat.

Es regte sich jedoch bald Kritik am "Runden Tisch" Werdau, weil dieser nicht öffentlich tagte sowie im Bereich der Blockparteien jeweils von "Spitzenfunktionären" und mit kirchlichen Amtsträgern besetzt war, die nicht demokratisch legitimiert schienen. So entstand der den Erfahrungen aus der Novemberrevolution von 1918 entliehene Gedanke, zusätzlich einen "Bürgerrat" zu wählen, der "die Arbeit der staats- und wirtschaftsleitenden Organe im Territorium kontrollieren, Forderungen der Bürger erfassen und durchsetzen", sowie regelmäßig der Öffentlichkeit berichten sollte.

Am 18. Januar 1990, zwei Monate vor der ersten freien Volkskammerwahl und vier Monate vor der Kommunalwahl, organisierten wir im Kino "Central-Theater" eine basisdemokratische Wahl für den "Bürgerrat". In deren Ergebnis erhielten zwölf von 22 Kandidaten jeweils mehr als 50 Prozent der Stimmen.

Dieser bis zur Kommunalwahl arbeitende "Bürgerrat" ergänzte die zehn Arbeitsgruppen, die sich seit November in den Friedensgebeten gebildet hatten. Von diesen überlebte einzig der Ökumenische Arbeitskreis für Aussiedler- und Ausländerfragen bis in die Gegenwart.


Die erste parteiunabhängige DDR-Zeitung in Sachsen: "Werdau-Crimmitschauer Wochenblatt" WCW

Die SED-gelenkte Presse und die restriktive Informationspolitik, vor allem im Bereich der Umwelt, war ein lange bestehendes Ärgernis. Schon während der ersten Friedensgebete und Demonstrationen im November 1989 kam die Forderung nach einer parteiunabhängigen Zeitung auf.

Der "Runde Tisch" beschloss in seiner ersten Sitzung, dass ein "Arbeitsausschuss unabhängige Zeitung" gebildet wird. Nach meinem Eilantrag wurde vom Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Karl-Marx-Stadt eine Lizenz erteilt, ohne die keine Satz- und Druckkapazität zu erlangen war.

Einige Betriebs-Parteizeitungen verringerten ihre Auflage oder stellten ihr Erscheinen ein, um uns Druckpapier zur Verfügung zu stellen. Zeitungsdruck war nur in den Grafischen Werken Zwickau möglich, die nicht volkseigen, sondern Parteibetrieb der SED waren.

In der Nacht zum 5. Januar 1990 rollte das erste "Werdau-Crimmitschauer Wochenblatt" WCW durch die Rotationsdruckmaschine. Die erste SED-unabhängige DDR-Zeitung in Sachsen war geboren. Auf unserem Wohnzimmer-Teppich entstanden die ersten Layouts. Ende Januar 1990 erhielt die Zeitung Redaktionsräume. Inzwischen hatte sich auch die Parteipresse allen Themen kritisch geöffnet und schon zwei Wochen nach Erscheinen des WCW, am 18. Januar, von der SED losgesagt.

Das Wochenblatt arbeitete weiter unter Extrembedingungen. Erst nach vier Monaten erhielt die Redaktion einen Telefonanschluss. Die Druckerei in der Nachbarstadt konnte uns nicht benachrichtigen, wenn unsere Zeitung gesetzt und zum Korrekturlesen bereit war.

Die neue Zeitung wurde zunächst begeistert aufgenommen, von 15.000 Exemplaren wurden 13.000 verkauft. In Zwickau vor der Druckerei dauerte es manchmal mehr als eine Stunde, bis wir mit dem beladenen "Lada" starten konnten. Wir wurden von Menschen umringt, die sofort die Zeitung kaufen wollten, kamen kaum nach, sie auszuhändigen, und warfen die Markstücke auf den Rücksitz.

Dann wurde der Markt von der bunten Papierlawine aus dem Westen überrollt. Nach der Währungsunion wollten nur noch wenige LeserInnen für 90 Pfennig West eine Ost-Zeitung kaufen. Die "gewendeten" früheren SED-Zeitungen mit ihrer kompletten Infrastruktur wurden von bundesdeutschen Verlagen aufgekauft und modernisiert.

Nachdem schon mehrere andere DDR-Zeitungsneugründungen aufgegeben hatten, erschien am 10. August 1990 die Abschiedsausgabe der Wochenzeitung. Das WCW hat die Demokratisierungsperiode der DDR in der Region mit Hilfe vieler Ehrenamtlicher dokumentiert und engagiert begleitet.

"Doch mehr als ein historischer Augenblick war ihm nicht vergönnt." (FAZ)


Plauen - Dresden - Leipzig

Am 4. Oktober 1989 kam es bei der Durchfahrt von Zügen mit DDR-Botschaftsflüchtlingen aus Prag nach Hof zu den "Schlacht um den Dresdner Hauptbahnhof" genannten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen DemonstrantInnen und bewaffneten Sicherheitsorganen, wodurch der Bahnhof beinahe zum zweiten Mal zur Ruine wurde.

Zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober, mit offiziellen Jubelfeiern begangen, zogen rund 20.000 DemonstrantInnen durch das vogtländische Plauen und forderten Reformen. Auf der anderen Seite Polizeiketten, bewaffnete Kampfgruppen, Wasserwerfer und über den Köpfen der Menge ein Polizeihubschrauber. DemonstrantInnen warfen Flaschen und die Lage wurde bedrohlich. Superintendent Thomas Küttler drang zum Oberbürgermeister vor, der nicht bereit war, vors Rathaus zu kommen, aber Gespräche mit Bürgervertretern in Aussicht stellte.

Von der Rathaustreppe aus rief Küttler die DemonstantInnen zur Gewaltfreiheit auf und rang der Einsatzleitung der bewaffneten Organe "Spannung mindernde Maßnahmen" ab. Daraufhin wurden der Polizeihubschrauber und die Kampfgruppen abgezogen. Noch in der Nacht fuhr der Superintendent nach Dresden und berichtete Bischof Johannes Hempel. Am folgenden 8. Oktober demonstrierten in der Dresdener "Prager Straße" etwa 20.000 Menschen, die von bewaffneten Kräften eingekesselt wurden. Kaplan Frank Richter und sein Amtsbruder Andreas Leuschner gingen auf die Polizeikette zu und verlangten einen "Zuständigen".

Oberleutnant Detlef Pappermann kam aus eigenem Antrieb den beiden entgegen. Richter sagte: "Sie wollen keine Gewalt, wir wollen keine Gewalt. Rufen Sie Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer an ..."

Vom "Pusteblumen-Springbrunnen" aus rief Richter dazu auf, dass VertreterInnen der DemonstrantInnen nach vorn kommen sollten - die Geburtsstunde der "Gruppe der 20" - und ließ sich Forderungen der BürgerInnen zurufen. Pappermann kam mit der Nachricht zurück, das "Rathaus" denke über das Gesprächsangebot nach.

Auf der Straße wusste niemand, dass bei Berghofer mit den gleichen Forderungen schon der evangelische und der katholische Bischof am Tisch saßen. Der Oberbürgermeister schickte einen Emissär zu den DemonstrantInnen und stellte für den nächsten Tag ein Gespräch mit deren VertreterInnen in Aussicht. Unter Applaus nahmen die Polizisten Schilde und Helme ab.

Am 9. Oktober standen in Leipzig nach Friedensgebeten in vier Kirchen mindestens 70.000 DemonstrantInnen einer Bürgerkriegsarmee von rund 8.000 Mann Polizei, Kampfgruppen, Volksarmee und Staatssicherheit mit Pistolen, Maschinenpistolen und Schützenpanzern gegenüber.

Die Krankenhäuser hatten Blutkonserven und Kapazitäten für Verwundete bereitstellen müssen und in der Zeitung war Waffenanwendung angedroht worden. In den Kirchen wurde zu Gewaltfreiheit aufgerufen, auch von Bischof Hempel, der nach Leipzig gekommen war. Die beherzten "Sechs von Leipzig", der Kabarettist Bernd-Lutz Lange, Gewandhausdirektor Kurt Masur, Pfarrer Peter Zimmermann und die SED-Bezirkssekretäre Kurt Meyer, Jochen Pommert und Roland Wötzel riefen über den Stadtfunk zu Besonnenheit und Dialog auf. Wie viele der DemonstrantInnen im Lärm der Ereignisse diesen Aufruf überhaupt vernommen haben, ist nicht bekannt. Ein einziger Pflasterstein, ein einziger aus Nervosität oder Versehen ausgelöster Schuss hätte zu einem Blutbad führen können. Doch es blieb auf beiden Seiten friedlich.

Es lässt sich nicht rekonstruieren, welchen Einfluss die Informations- und Erfahrungskette Plauen-Dresden-Leipzig hatte. Das Bürgerkomitee. Leipzig widerspricht den Plauenern, die erste Groß-Demonstration gehabt zu haben. In Leipzig hätten schon am 2. Oktober 20.000 Menschen demonstriert. Leipzig hatte mit 530.000 die siebenfache Einwohnerzahl, was Eifersüchteleien ad absurdum führen dürfte. Das eigentliche Kriterium, welches Plauen für sich in Anspruch nehmen kann, ist, dass es dort zum ersten Mal Vermittlungsgespräche zwischen DemonstrantInnen, Bürgermeister und Kommandeuren der bewaffneten Organe gab, die eine Wende zur Gewaltfreiheit bewirkten.

Es gab keine berichtenden Medien, keine Vernetzung. Vieles lief spontan und parallel, ohne dass man voneinander wusste. Es gab keine Anführer. "Wir sind das Volk" traf im wahrsten Sinn des Wortes zu. Seit mehr als 15 Jahren war in Kirchgemeinden, Friedens- und Menschenrechtsgruppen auch das Gedankengut Martin Luther Kings verbreitet worden. Die InitiatorInnen der Friedensgebete des Herbstes 1989, aus denen heraus die großen Demonstrationen entstanden, hatten die Idee der Gewaltfreiheit längst verinnerlicht und konnten diesen Geist der Masse der BürgerInnen vermitteln, die diesen Vorlauf an Bewusstseinsbildung nicht hatte.


"Kein Zuschauer sein" - Das Martin-Luther-King-Zentrum Werdau

"Ich wollte kein Zuschauer sein, ich wollte dort stehen, dort mittun, wo die Dinge sich entscheiden", hatte Martin Luther King gesagt.

Genau diese Erfahrung hatte ich zu DDR-Zeiten gemacht und genau darum ging es, an die Friedensbewegung in der DDR und an die Friedliche Revolution anzuknüpfen.

Im Sommer 1998 konnte ich FreundInnen aus der Friedensbewegung Ost und West und Jugendliche vor Ort dafür gewinnen, das "Martin-Luther-King-Zentrum für Gewaltfreiheit und Zivilcourage" als Verein ins Leben zu rufen. Zwar beschäftigen wir uns auch mit der Aufarbeitung von DDR-Oppositions- und Repressionsgeschichte und betreiben ein "Archiv Bürgerbewegung", aber nicht im Sinne von DDR-Mottenkiste.

Vielmehr geht es uns darum, uns aktuell politisch einzumischen, zu Bürgermut und "Aufrechtem Gang" heute zu ermutigen, gegen Rechtsextremismus, Gewalt an Schulen, Gewalt in der Gesellschaft überhaupt und Militarisierung uns zu Wort zu melden.


Anm.:
Der Beitrag kann nur Ausschnitte des Geschehens behandeln. Ausführlichere Darstellungen mit Berichten, Chronologie, Fotos und Dokumenten finden sich in dem Buch des Martin-Luther-King-Zentrums Werdau "Wunde Punkte - Wendepunkte - Die Ereignisse der Friedlichen Revolution 1989/90 im Raum Crimmitschau Werdau", Verlag Beier und Beran 1999, ISBN 3-93006-42-8. Verwiesen sei auch auf den "Weg der Friedlichen Revolution" in Crimmitschau und Werdau mit der Ausschilderung von ca. 25 Stationen. Für den Werdauer Abschnitt existiert auch ein Begleitheft des King-Zentrums. Zu den Ereignissen in Leipzig ist mit bester Authentizität und Basisnähe zu empfehlen: Ekkehard Kuhn, Wir sind das Volk, Ullstein 1999.

Info und Kontakt über: www.martin-luther-king-zentrum.de


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Quelle:
graswurzelrevolution, 38. Jahrgang, GWR 343, November 2009, S. 14-15
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
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Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. November 2009