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GRASWURZELREVOLUTION/1138: Stuttgart 21 - Proteste am Scheideweg?


graswurzelrevolution 354, Dezember 2010
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Stuttgart 21:
Proteste am Scheideweg?

Von Thomas Trueten


Die Schlichtungsgespräche zu Stuttgart 21 sind für die Befürworter der Rettungsanker in einer politischen Situation, in der sie immer mehr in die Defensive geraten sind. Die politische Krise in Stuttgart - für viele die "Hauptstadt des Widerstandes" - ist auch für die Regierung in Berlin bedrohlich geworden.


Neben für die Gegner altbekannten Fakten brachten die bisherigen Gespräche nur unwesentlich neue Erkenntnisse. Vor allem aber wirkt sich die Schlichtung auf die Proteste aus. Von oben herunter, ohne wirklich demokratischen Entscheidungsprozess, wurden bis auf die Montagsdemonstrationen die weiteren - abwechselnd Freitags oder Samstags stattfindenden - Großdemonstrationen abgesagt. Zumindest bis zum Ende der Schlichtung und mit Ausnahme einer regionalen Großdemonstration am 20. November.


Für die S21 Befürworter geht es um einiges:

Neben der Wiederherstellung des politischen Friedens mit allen Mitteln sind sie hoch motiviert, bis zu 18 Milliarden Euro sichere Aufträge in den nächsten 20 Jahren für die Immobilien- und Baubranche durchzusetzen. Auf Kosten bundesweit notwendiger Sanierungen und Erweiterung der Bahninfrastruktur. Die Befriedigung der Mobilitätsbedürfnisse der Masse der Bevölkerung ist jedoch auch hier nicht der Antrieb.

Hinter dem Projekt Stuttgart 21 steht auch eine Verkehrsstrategie: Konzentration auf Hochgeschwindigkeitszüge zwischen den Metropolen und Flughäfen, Rückbau des Schienen-Nahverkehrs, Verlagerung des Güterverkehrs von der Schiene auf die Straße. Diesen Umbau betreiben die Auto- und Luftfahrtkonzerne - nicht nur in Stuttgart. Im Zentrum: Der Daimler Konzern.

Ein Schelm, wer böses dabei denkt, dass seit Anfang der 90er Jahre drei ehemalige Manager des Konzerns, Dürr, Mehdorn und Grube als Bahnchefs den Umbau der Bahn betreiben. Politisch flankiert vom ehemaligen Siemens Angestellten und heutigen CDU Ministerpräsidenten Mappus.

Für die Durchsetzung dieser Strategie und den Profit wurde gelogen und betrogen, am 30. September auch geprügelt und bürgerlich - demokratische Rechte außer Kraft gesetzt. In dem Augenblick, in dem es nicht gelungen ist, durch die Ereignisse am "blutigen Donnerstag" die Gegner zu kriminalisieren, sondern im Gegenteil immer mehr Menschen politisiert wurden, zauberte Ministerpräsident Mappus die Schlichtung aus dem Hut.

Während sich ein größerer Teil des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21 auf dieses Verfahren einließ, haben vor allem die AktivistInnen der Parkschützer die Schlichtung gleich zu Beginn verlassen. Ein wichtiger Grund war die Tatsache, dass während der Schlichtungsverhandlungen seitens der S21 Betreiber kein Baustopp verkündet wurde. Zudem hatte unter anderem Mappus erklärt, dass ihn die Ergebnisse der Schlichtung nicht interessieren.

Ein weiterer - der zentrale Punkt daran ist, dass mit der Teilnahme an der Schlichtung der Gegenseite die Legitimierung gegeben wird, die sie nicht verdient hat - durch die öffentliche Debatte, um ihr Projekt durchzusetzen, auf die sich die Betreiber anschließend stützen werden. Das ist die große Falle. Eine Schlichtung kann gemacht werden, wenn zwischen den beiden Parteien ein Minimum von Vertrauen, ein Gleichgewicht und Gleichberechtigung besteht. In Wirklichkeit ist das Schlichtungsverfahren ein reiner Missbrauch von Demokratie, angefangen bei der Frage, wer die Vertreter beider Seiten eigentlich dazu legitimiert hat.

Auch angesichts der im Grunde unversöhnlichen Standpunkte - es gibt keinen halben Bahnhof - erscheint vielen klar, was am Ende der Schlichtung steht: Eine sogenannte "Volksabstimmung".


Der Mythos von der demokratischen Volksabstimmung oder der Weg in die Sackgasse

Für eine Volksabstimmung in Baden-Württemberg müsste sich - rein juristisch gesehen - "innerhalb von 14 Tagen ein Sechstel aller Stimmberechtigten des Landes - das sind ca. 1,2 Millionen Menschen - innerhalb von nur zwei Wochen in nur in den Gemeindeämtern aufliegenden Listen [also unter den Augen der Gemeindebehörden] eintragen müssen [Art. 59 Abs. 2 in Verbindung mit Volksabstimmungsgesetz § 25,1 und § 28,1].

Nimmt man hinzu, dass nicht nur die Kosten des Zulassungsantrags, sondern auch diejenigen der Eintragungslisten und ihrer Versendung an die Gemeinden den Antragstellern zur Last fallen [Volksabstimmungsgesetz § 39,1] - während die Parteien wie selbstverständlich stattliche Wahlkampfkostenerstattungen kassieren - ist klar, dass keine Bürgerinitiative je im Stande sein wird, derartige Hindernisse zu überwinden."
(Aus: »Stuttgart 21« - Aufruf zu einem Volksbegehren »Stärkung der Volksrechte in Baden-Württemberg«)

Selbst wenn am Ende der Schlichtung ein wie auch immer geartetes Verfahren steht, diese rechtlichen Hürden zu umgehen: Eine Volksabstimmung findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern unter medialer Hegemonie der S21 geneigten, bürgerlichen Medien und der durch sie verbreiteten Pro S21 Propaganda. Wenn es auch im Großraum Stuttgart so sein mag, dass die Mehrheit der Menschen auch aus der persönlichen Betroffenheit heraus gegen das Projekt ist - in ländlichen Gegenden kann das schon anders aussehen. Und so sehen sich viele S21 GegnerInnen der Gefahr ausgesetzt, auch mit der Forderung nach einer Volksabstimmung der Gegenseite genau die demokratische Legitimierung zu geben, die diese für sich getreu dem Motto: "Wir leben in einer repräsentativen Demokratie" beansprucht. Und es will sich ja niemand sagen lassen, man sei kein Demokrat.


Was aber ist, wenn die "Volksabstimmung" ergibt, dass das "Volk" für S21 ist?

Der eigentliche Trick bei dem jetzigen Verfahren ist, dass in dem Augenblick, in dem die Massenproteste begannen, Wirkung zu zeigen, der Druck herausgenommen und die Initiative an Stellvertreter abgegeben wurde.

Allerdings lässt sich auch hier die Uhr für beide Seiten nicht zurückdrehen. Für die herrschende Politik besteht die latente Gefahr, dass immer mehr Menschen nicht nur erkennen, dass Entscheidungen ohne sie, aber auf ihre Kosten gefällt werden. Sondern dass sie die "repräsentative Demokratie" an sich in Frage stellen und ihre Sache selber in die Hand nehmen. Für die S21 GegnerInnen, vor allem die basisorientierten Kräfte besteht die Herausforderung, die eigenen Graswurzelprinzipien gegen starken Gegenwind seitens der S21 Betreiber, gegen die "Pragmatiker" in den eigenen Reihen, die Medienhetze usw. nicht nur zu verteidigen, sondern höher zu entwickeln.

Die Menschen machen immer mehr die Erfahrung, dass spontane und unkontrollierbare Aktionen nicht nur mehr Spaß machen sondern - gerade wenn sie verbunden sind mit anderen sozialen und politischen Kämpfen wie den Castor Protesten oder den Protesten gegen das "Sparpaket" der Bundesregierung - eine viel stärkere Wirkung entfalten können. Daran können und werden die Befriedungsversuche scheitern.


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S 21: Eine Chronologie

1988: Präsentation erster Ideen für einen Durchgangsbahnhof anstelle des Kopfbahnhofes

1994: Das Projekt Stuttgart 21 wird vom damaligen Ministerpräsidenten Erwin Teufel, Bahn-Chef Heinz Dürr, Verkehrsminister Matthias Wissmann und Oberbürgenneister Manfred Rommel vorgestellt.

1995: Land, Stadt und Region einigen sich mit Bahn und Bund über die zeitgleiche Realisierung von Stuttgart 21 und der Neubaustrecke nach Ulm. Veranschlagt werden 5 Milliarden Mark.

1997: Das Büro Ingenhoven gewinnt den Architektenwettbewerb für den neuen unterirdischen Hauptbahnhof. CDU Oberbürgermeister Schuster verspricht Bürgerbeteiligung bei der Entscheidungsfindung.

1999: Der damalige Bahn-Chef Johannes Ludewig verhängt wegen der hohen Kosten einen Planungsstopp. Die damalige rot-grüne Bundesregierung geht auf Distanz zum Projekt.

2002: Ludewigs Nachfolger Hartmut Mehdorn hebt den Baustopp wieder auf.

2001: Deutsche Bahn, Bund, das Land Baden-Württemberg, die Stadt und die Region Stuttgart verständigen sich auf die Vorfinanzierung. Die Stadt kauft die frei gewordenen Gleisanlagen für 459 Millionen Euro. Das Planfeststellungsverfahren beginnt.

2002: Der Finanzierungsvertrag zum Bau des neuen
Flughafenbahnhofs wird geschlossen.

2004: Das Bundesverkehrsministerium stellt fest, dass Stuttgart 21 teurer wird. Mehrere hundert Millionen Euro sind nicht finanziert.

2005: Die Baugenehmigung für den Tiefbahnhof wird durch das Eisenbahnbundesamt erteilt. Klagen der GegnerInnen scheitern vor Gericht.

2006: Der Verwaltungsgerichtshof weist verschiedene Klagen gegen das Projekt zurück und segnet das Projekt ab. Trotz Grundsatzbeschluss des baden-württembergischen Landtags steht die Finanzierung in Frage.

2007: Ministerpräsident Oettinger bietet die Vorfinanzierung der Neubaustrecke mit 950 Millionen Euro an. Krisengipfel in Berlin. Der Bund bekennt sich zu Stuttgart 21, die Finanzierung bleibt unklar. Die ProjektgegnerInnen sammeln 67.000 Unterschriften für einen Bürgerentscheid, den der Gemeinderat ablehnt.

2008: Der Bundestag bewilligt Gelder für Stuttgart 21 und die Trasse nach Ulm. Sachverständige errechnen Gesamtkosten zwischen 6,9 und 8,7 Milliarden Euro. Die Landesregierung gibt Gesamtkosten von 5,08 Milliarden Euro an. Der Bundesrechnungshof ermittelt Mehrkosten von 2,4 Milliarden Euro.

2009: Bei den Gemeinderatswahlen in Stuttgart werden die "Grünen" mit über 25% die stärkste Kraft. Die Finanzierungsverträge werden unterschrieben. Bahnchef Grube erklärt, die Kosten würden nicht über 4,5 Milliarden Euro hinausgehen. Im Oktober Beginn der ersten Montagsdemo gegen das Projekt. Mit 4 Teilnehmerinnen.

2010: Im Februar wird der Baubeginn verkündet, ein Gutachten des Umweltbundesamtes deckt neben schweren verkehrstechnischen Problemen des Projektes eine "Kostenexplosion" von bis zu 11 Milliarden Euro auf. Trotz des von zu dem Zeitpunkt von 20.000 Menschen unterzeichneten "Stuttgarter Appells" beginnt der Abbruch des Nordflügels am 25. August. Am 30. September werden in Zusammenhang mit Polizeiübergriffen 400 DemonstrantInnen zum Teil schwer verletzt, woraufhin die TeilnehmerInnenzahlen bei den darauffolgenden Großdemonstrationen auf mehr als 100.000 ansteigen. Nach neuen Berechnungen steigen die Gesamtkosten auf bis zu 14 Milliarden Euro. Am 4. Oktober ernennt Ministerpräsident Mappus Heiner Geissler zum Schlichter.


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Quelle:
graswurzelrevolution, 39. Jahrgang, 354, Dezember 2010, S. 8
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Dezember 2010