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GRASWURZELREVOLUTION/1152: Gewaltfreiheit trainieren


graswurzelrevolution 355, Januar 2011
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Gewaltfreiheit trainieren
Die Rolle des gewaltfreien Anarchismus in der Trainingsgeschichte

Von Achim Schmitz


Die Geschichte des Trainings in Gewaltfreier Aktion ist in der BRD eng mit der gewaltfrei-anarchistischen Graswurzelbewegung verbunden. In der Graswurzelrevolution ist nach einer neuen wissenschaftlichen Zeitschriftenanalyse des Sozialwissenschaftlers Achim Schmitz das Thema "Training" am besten vertreten. Der Friedensforscher Schmitz zeigt in seiner im September 2010 als Buch "Gewaltfreiheit trainieren" (1) erschienenen Dissertation auf, dass sich das Training in Gewaltfreiheit immer mehr von gesellschaftsverändernden gewaltfreien Visionen löste und dass eine Rückbesinnung auf diese Wurzeln notwendig ist.
(GWR-Red.)


Das Training in gewaltfreier Aktion als Ansatz auf der Graswurzelebene ("Grassroots") nach John Paul Lederach (1997; vgl. Abb. 1) findet in der Friedenswissenschaft eine geringe Beachtung. Diese Lücke wird durch meine Studie aufgegriffen mit dem Ziel, dem Thema eine größere Beachtung in der Friedenswissenschaft zu ermöglichen.


Abb 1: Akteursebenen nach Lederbach (1997: 39)

TYPES OF ACTORS
APPROACHES TO BUILDING PEACE


LEVEL 1: TOP LEADERSHIP
Military / political / religious
leaders with high visibility








Focus with high-level negotiations
Emphasize cease-fire /
Led by highly visible,
single midiator





LEVEL 2: MIDDLE-RANGE LEADERSHIP
Leaders respected in sectors
Ethnic / religious leaders
Academics / intellectual
Humanitarian leaders (NGOs)






Problem-solving workshops
Training in conflict resolution
Peace commissions
Insider-partial teams





LEVEL 3: GRASSROOTS LEADERSHIP
Local leaders
Leaders of indigenous NGOs
Community developers
Local health officials
Refugee camp leaders







Local peace commissions
Grassroots training
Prejudice reduction
Psychosocial work
in postwar trauma




Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Tabellarische Umsetzung der Grafik von:
John Paul Lederach: Building Peace. Sustainable Reconciliation in Divided Societies. Washington 1997.
Die Grafik stellt eine Pyramide dar, an deren oberen Teil Level 1 liegt und im unteren Teil Level 3.
Die vertikale Richtung Affected Population ist nach oben zur Pyramidenspitze Few, nach unten zum Pyramidenfuß Many.


Gewaltfreie AkteurInnen können mit ihren Aktionsformen das politische Feld zu mehr Gewaltfreiheit verändern: "Man erkennt die Präsenz oder Existenz eines Akteurs in einem Feld daran, dass dieser den Zustand des Felds verändert (oder dass sich viel verändert, wenn er nicht mehr da ist)." (2)

Anstelle des Mehrheitsprinzips kann dementsprechend das Konsensprinzip zu einem gewaltfreien politischen Feld der Kooperation anstelle des Wettbewerbs beitragen - sicher ein gewaltfrei-anarchistisches Anliegen.


Themenkonjunkturen in Zeitschriften

Um Themenkonjunkturen zu Trainings herauszufinden, führte ich eine quantitativ orientierte Zeitschriftenanalyse in bewegungsnahen und pädagogischen Publikationen (z. B. Fachzeitschriften, Rundbriefe) durch. (3) Sie befasste sich mit der Frage, in welchen Publikationen das Training mit welchen thematischen Schwerpunkten behandelt wurde. Es ging nicht um präzise Worthäufigkeiten im Sinne einer exakten Statistik, sondern eher um thematische Schwerpunkte, für die es einen interpretativen Freiraum gab, ob ein Beitrag diesem Themenbereich wirklich zuzuordnen war.

Untersucht wurden Zeitschriften in der Friedensbewegung, von denen ich vermutete, dass das Training in gewaltfreier Aktion dort signifikant behandelt wurde. Exemplarisch wurden Fachzeitschriften aus den Feldern Friedenspädagogik und Friedenswissenschaft hinzugezogen. Außerdem wurden exemplarisch Beiträge aus pädagogischen Fachzeitschriften und aus anderen sozialen Bewegungen (Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Rundbrief X-tausendmal quer) und zu Vorläufern der Trainings in gewaltfreier Aktion in einer inzwischen eingestellten Zeitschrift des Versöhnungsbundes (Der Christ in der Welt) untersucht, in der einige Beiträge zur Friedensarbeit zu finden waren.

Diese am 18.1.2008 abgeschlossene Untersuchung kann ein Ausgangspunkt weiterreichender Untersuchungen sein.

Rundbriefe lagen z. T. nicht komplett vor; diese Zeitschriften und Rundbriefe wurden eher stichprobenartig gesichtet. Zeitschriften erschienen unterschiedlich oft: Die Graswurzelrevolution erschien bisher zehnmal im Jahr - viel öfter als die meisten anderen der untersuchten Zeitschriften.

Es ging hier nicht in erster Linie um rechnerische Genauigkeit, sondern um die Ermittlung von Trends, nämlich der fünf Themenfelder mit herausragender Bedeutung und darunter der Themenfelder oberhalb des Mittelwertes.

Folgende Themenfelder wurden mit folgender Häufigkeit behandelt; in einem Beitrag konnten mehrere der genannten Themenfelder vorkommen:

Abb. 2: Zeitschriftenbeiträge nach Themenfeldern (Gesamtübersicht)

Abb. 2: Zeitschriftenbeiträge nach Themenfeldern (Gesamtübersicht). - © Achim Schmitz 2008

Eine besonders herausragende Bedeutung hatten die fünf Themenfelder "(Training in) Gewaltfreie(r) Aktion", "Ausbildung (von TrainerInnen in Gewaltfreiheit, Friedensfachkräften, u. a.)", "Trainingskollektive/Trainingszentren", "Transnationale Friedensarbeit/zivile Konfliktbearbeitung" und "Konstruktive Konfliktaustragung/Gewaltprävention".

Sie erschienen in deutlichem Abstand zu den übrigen zehn Themenfeldern und wurden in jeweils mehr als 100 Beiträgen (zusammen 82,7 %) behandelt. Häufungen von Themenschwerpunkten (mindestens 5 Nennungen) waren bei den Zeitschriften und Rundbriefen unterschiedlich:

1. Am häufigsten behandelt wurde das Themenfeld "(Training in) Gewaltfreie(r) Aktion". Dazu gehörte auch das Training zur Vorbereitung auf Strafprozesse wegen der Teilnahme an Aktionen zivilen Ungehorsams. Dieses Themenfeld wurde gehäuft behandelt in Graswurzelrevolution, FriedensForum, FöGA-Rundbrief (4), gewaltfreie aktion, ZivilCourage (5), Kurve Wustrow Rundbrief, Mutlangen Rundbrief und Soziale Verteidigung. Dabei handelt es sich um Zeitschriften, die zum Großteil bereits seit den 1970er oder 1980er Jahren erscheinen.


Abb. 3: Zeitschriftenbeiträge nach Themenfeld "Gewaltfreie Aktion"

Abb. 3: Zeitschriftenbeiträge nach Themenfeld 'Gewaltfreie Aktion'. - © Achim Schmitz 2008

2. Für einen Bedarf nach Kontinuität spricht die Variable "Ausbildung (von TrainerInnen in Gewaltfreiheit, Friedensfachkräften, u. a.)".

Damit wurde einem großen Bedürfnis nach Professionalisierung und langfristigen Strukturen bei der Friedensarbeit Rechnung getragen. Zunächst ging es um die Ausbildung von TrainerInnen in Gewaltfreiheit mit einem Schwerpunkt auf gewaltfreier Aktion.

Seit den 1990er Jahren wurden Friedensfachkräfte für Auslandseinsätze (zivile Konfliktbearbeitung/Ziviler Friedensdienst) qualifiziert. Dieses Themenfeld kam gehäuft in folgenden Zeitschriften vor: Graswurzelrevolution, Soziale Verteidigung, FriedensForum, Frieden braucht Fachleute, Versöhnung, gewaltfreie aktion, Kurve Wustrow Rundbrief, FBF-Mitteilungen, Zivil-Courage und Wissenschaft & Frieden.


Abb. 4: Zeitschriftenbeiträge nach Themenfeld "Ausbildung"

Abb. 4: Zeitschriftenbeiträge nach Themenfeld 'Ausbildung'. - © Achim Schmitz 2008

3. Für einen ähnlichen Bedarf nach Kontinuität spricht die Häufigkeit des Themenfeldes "Trainingskollektive/Trainingszentren".

Es hat einen engen Bezug zum Themenfeld "(Training in) Gewaltfreie(r) Aktion", da es hierbei meistens um Trainingskollektive für Gewaltfreie Aktion ging. Daher ist hier ein positiver Zusammenhang zwischen diesen beiden Themenfeldern erkennbar, die beide eher den status-quo-gesamtkritischen Strömungen zuzuordnen sind. In der Graswurzelrevolution und im FöGA-Rundbrief liegen Häufungen des Themenfeldes "Trainingskollektive/Trainingszentren" vor.


Abb. 5: Zeitschriftenbeiträge nach Themenfeld "Trainingskollektive"

Abb. 5: Zeitschriftenbeiträge nach Themenfeld 'Trainingskollektive'. - © Achim Schmitz 2008

4. Das Themenfeld "Transnationale Friedensarbeit/zivile Konfliktbearbeitung" gewann mit der Ausbildung von Friedensfachkräften in den letzten Jahren an Bedeutung, war aber auch vorher ein wichtiges Thema bei Trainings. Somit ist ein positiver Zusammenhang zwischen diesem Themenfeld und dem Themenfeld "Ausbildung" erkennbar.

Diese beiden Themenfelder erscheinen hier in der Forschungsarbeit über Trainings in gewaltfreier Aktion, da Elemente dieser Trainings oft darin vorkommen, auch wenn "Gewaltfreiheit" bei diesen Maßnahmen oft nicht explizit genannt wird. Dennoch geht es darum, mit der Arbeit von NGOs und sozialen Bewegungen eine gegenseitige Unterstützung zu ermöglichen, um Konflikte ohne Gewalt auszutragen; es geht um Friedensarbeit. Dieses Themenfeld kam gehäuft in Soziale Verteidigung, Graswurzelrevolution, FriedensForum, Versöhnung, Frieden braucht Fachleute, Kurve Wustrow Rundbrief, gewaltfreie aktion, ZivilCourage, FK-aktuell, Wissenschaft & Frieden und Zivil vor.

Abb. 6: Zeitschriftenbeiträge nach Themenfeld "Zivile Konfliktbearbeitung"

Abb. 6: Zeitschriftenbeiträge nach Themenfeld 'Zivile Konfliktbearbeitung'. - © Achim Schmitz 2008

5. Das Themenfeld "Konstruktive Konfliktaustragung/Gewaltprävention" kam im eher innergesellschaftlichen Kontext auch unter anderen Stichworten vor, z. B. Zivilcourage, Training gegen Rassismus, Training gegen rechte Gewalt. Es wurde hauptsächlich in Soziale Verteidigung, Graswurzelrevolution, Versöhnung, FriedensForum, FöGA-Rundbrief, Gewaltfrei Aktiv, ZivilCourage, et cetera ppf (6) und Ohne Rüstung Leben Informationen behandelt, also auch in der untersuchten friedenspädagogischen Literatur, ansonsten in einem größeren Spektrum an Zeitschriften und Rundbriefen verschiedener Strömungen.

Abb. 7: Zeitschriftenbeiträge nach Themenfeld "Gewaltprävention"

Abb. 7: Zeitschriftenbeiträge nach Themenfeld 'Gewaltprävention'. - © Achim Schmitz 2008

Außer diesen Schwerpunkten gab es weitere Häufungen zu anderen Themenbereichen: "Gewaltfreie Kommunikation" und "Mediation" in der "Versöhnung"; diese Arbeitskonzepte spielen beim Internationalen Versöhnungsbund eine wichtige Rolle.

Im Bund für Soziale Verteidigung mit der Zeitschrift Soziale Verteidigung gab es weitere Häufungen in den Themenbereichen "Konflikttrainings in Schulen", Kampagnen/Projekte (hauptsächlich "Wege aus der Gewalt") und "Mediation". Eine Häufung zum Themenfeld "Gewaltfreiheits-Trainings allgemein" gab es im inzwischen eingestellten Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren und in der Graswurzelrevolution.

Die leicht modifizierte Arbeitshypothese zu dieser Analyse lautet:

Der Untersuchungsgegenstand wird zunächst in Publikationen von status-quo-gesamtkritisch (7) eingestellten Strömungen mit gesellschaftsverändernden Visionen eher im Kontext Gewaltfreier Aktion und später in Publikationen von status-quo-teilkritisch eingestellten Strömungen eher mit gesellschaftserhaltenden Zielen im Kontext von Gewaltprävention und ziviler Konfliktbearbeitung behandelt.

Wenn auch diese Tendenz nicht absolut trennscharf ist, lässt sich dennoch ein grober Trend ausmachen: Die größten Häufungen der Themenfelder "Gewaltfreie Aktion" und "Trainingskollektive" erscheinen in einer Zeitschrift, die bereits seit 1972 erscheint (Graswurzelrevolution). Die größten Häufungen bei den Themenfeldern "Gewaltprävention" und "Zivile Konfliktbearbeitung" erschien in einer Zeitschrift, die erst ab 1989 erschien, wobei die herausgebende Organisation z. T. mit staatlichen Akteuren kooperiert (Bund für Soziale Verteidigung); erhebliche Häufungen auch in der Zeitschrift des Forum Ziviler Friedensdienst sowie in strömungsübergreifenden Zeitschriften.

Insgesamt stellte sich heraus, dass die Graswurzelrevolution für das Training in Gewaltfreiheit eine herausragende Bedeutung hat.


Gesellschaftsverändernde Visionen in Trainingsprotokollen

In meiner Studie untersuchte ich in Protokollen von Trainingsbeispielen die Haltungen, Konzepte und Visionen von Gewaltfreiheit, die dort thematisiert wurden. Trainings umfassten konkrete Aktions- und Kampagnenplanungen und langfristige, gesellschaftsverändernde Visionen gewaltfreier Revolution: "Häufig analysierten Trainings spezifische gewaltfreie Aktionen oder Kampagnen und diskutierten Langfristziele gewaltfreier Revolution." (8) Auch Günter Saathoff (1980: 129 ff.) zufolge hatten die Trainingskollektive ein Selbstverständnis von pädagogischer Praxis und politischer Orientierung im Sinne einer herrschaftslosen, gewaltfreien Gesellschaft und der befreienden Pädagogik nach Paulo Freire.

Zunächst war die Verbindung zwischen Gewaltfreiheitstrainings und dem "Graswurzel-Netzwerk" informell; später gab es mehr TrainerInnen, und ab 1975 gründeten sich in verschiedenen Regionen Trainingskollektive, die in Verbindung mit dem "Graswurzel-Netzwerk" standen. (9)

Zu den (visionären) Zielen des gewaltfreien Anarchismus zählt Hans-Willi Derenbach (1980: 18) eine Gesellschaft ohne strukturelle Gewalt. Dazu gehören dezentrale, föderative Organisationen von autonomen Individuen, Gruppen und Produktionseinheiten.

Unter dem Titel "Das Trainingstrauma" reflektierte Ulrich Bröckling (1983: 6 f.) in der Graswurzelrevolution eine Entwicklung von Trainingskollektiven zu Dienstleistungsbetrieben, die bei vielen Anfragen kaum dazu kamen, darüber hinaus eine politische Reflexion zu leisten. Paradox erscheint sein Befund, dass viele Menschen sich erst nach einem Training zu einer Aktion zivilen Ungehorsams entschieden haben, andererseits aber viele Menschen durch den Zwang zum Training von der Teilnahme an Blockaden abgehalten wurden. (10)

Im ersten unter dieser Bezeichnung bekannten und von Eric Bachman durchgeführten Trainingskurs in gewaltfreier Aktion vom 17.-25.6.1972 in Bückeburg (11) wurde in der Presseerklärung darauf hingewiesen, dass die Teilnehmenden die gewaltfreie Aktion als "radikales Mittel zur Gesellschaftsveränderung begriffen".

Weiter ist in der Presseerklärung nachzulesen: "Gewaltfreiheit sei aber nicht allein bei gesamtgesellschaftlichen Prozessen und Konflikten notwendig, sondern ebenso zwischen den einzelnen Individuen: Gewaltfreiheit sei sowohl revolutionäres Prinzip als auch umfassendes Lebensprinzip."

Diese Terminologie spricht für eine Orientierung an der prinzipiellen Gewaltfreiheit auf individuellen und gesellschaftlichen Ebenen und damit auch an einer gesellschaftsverändernden Vision in Anlehnung an eine anarchistische Demokratietheorie. (12)

Im Training von Bückeburg von 1973 wurde bei der Auswertung eines Utopiespiels im Plenum ein Alternativmodell als Rätesystem vorgestellt bzw. diskutiert. Im Training von Bückeburg von 1974 wurde eine Visionengalerie hergestellt, die die Zukunft im Jahr 1984 ausmalen sollte.

Die erste Gruppe wünschte sich eine Gesellschaft mit mehr Selbstorganisation, Selbstverantwortung und Sozialismus.

Die zweite Gruppe wünschte sich eine gewaltfreie Gesellschaft ohne Militär und ohne Hierarchie.

Die dritte Gruppe einigte sich auf sechs Bereiche mit konkreten Wünschen; dazu gehörten z. B. Mitbestimmung im Wirtschaftssystem, Erziehung zur Selbstverwirklichung, Konsequenzen für den Umweltschutz, eine klassenlose Gesundheitsfürsorge. Somit wurden verschiedene gesellschaftsverändernde (antimilitaristische, sozialistische und anarchistische) Visionen thematisiert.

Im Training von Bückeburg von 1975 wurde bei einem Austausch über Gewalt und Gewaltfreiheit (strukturelle) Gewalt mit Hierarchien in Verbindung gebracht. Eine von sechs aufgestellten Thesen zur Gewalt lautete: "Jede Hierarchie beinhaltet Gewalt." Dies spricht für eine Verortung in gesellschaftsverändernden Ansätzen bzw. einer anarchistischen Demokratietheorie.

Bei den Aktionstrainings (analysierte Beispiele bis 1991) wurden noch gesellschaftsverändernde Visionen und Ansätze thematisiert, die zu einer anarchistischen Demokratietheorie passen.

Bei den übrigen Trainingstypen (Konflikttrainings und Berufsqualifizierungen wie z. B. Kurse im Zivilen Friedensdienst) wurden gesellschaftsverändernde Ansätze wesentlich weniger thematisiert und z. T. auf die Aktionsmethoden (z. B. Entscheidung im Konsens) beschränkt. Ein Teil der Arbeitshypothese lautet:

Gesellschaftsverändernde Visionen und Ansätze einer veränderten Friedens- und Energiepolitik (ohne Militär und Atomkraft) sowie konkrete Vorbereitungen status-quo-gesamtkritischer Aktionen (Ziviler Ungehorsam) standen neben status-quo-teilkritischen und status-quo-orientierten Konflikttrainings der Gewaltprävention und -deeskalation.


Kritik an einer Tendenz zur Entpolitisierung der Gewaltfreiheit

Die zentrale Arbeitshypothese wird durch die Ergebnisse der Studie eher bestätigt. Sie lautet leicht modifiziert:

Das Training in gewaltfreier Aktion bietet im Sinne einer partizipatorischen bzw. anarchistischen Demokratietheorie die Vorbereitung einer friedenspädagogisch relevanten Alternative gesellschaftlichen Empowerments und gewaltfreier Handlungskompetenzen zu gewalt- bzw. militärgestützter Konfliktaustragung; für die Entfaltung breiter friedenspolitischer Wirkungen ist ein flächendeckender Ausbau gewaltfreier Trainingsmöglichkeiten notwendig.

Die politische Bildung wird durch die Einführung einer anarchistischen Demokratietheorie bereichert, wonach das anarchistische Konsensmodell als eine "alternative Demokratiekonzeption" bezeichnet werden kann. (13)

Für das Training in gewaltfreier Aktion erscheint diese Demokratietheorie als relevant, da ich im Kontext des Trainings in gewaltfreier Aktion weit verbreitete anarchistische Strömungen feststellte und da Übungen in einer nicht-hierarchischen Entscheidungsfindung im Konsens beim Training eine hohe Bedeutung haben.

Eine Tendenz zu einer Entpolitisierung der Gewaltfreiheit sehe ich darin, dass die militärgestützte Außen- und Sicherheitspolitik der Regierungen nicht ausreichend kritisch hinterfragt wird. Heutzutage wird oft der Fokus mehr auf individuelles Verhaltenstraining statt Visionen einer gewaltfreien Gesellschaft als Trainingsinhalte gelegt. In diesem Kontext möchte ich hinterfragen, ob das Training noch ein fester Bestandteil sozialer Bewegungen ist oder ob es in einem gesellschaftlichen Mainstream an politischer Zuspitzung verliert. Damit kann das Konzept der Gewaltfreiheit so sehr verflachen, dass ihr Potenzial der Bildung zur Mündigkeit nicht mehr voll ausgeschöpft wird.

"Gewaltfreiheit" wird dann nur noch als Abwesenheit direkter Gewalt durch nicht-staatliche Akteure, aber nicht mehr als eine Gesellschaft verändernde Kraft betrachtet.

Interessant wäre hier eine nähere Betrachtung der Aktionstrainings, wie sie im Widerstand gegen das Projekt Stuttgart 21 durchgeführt wurden.


Notwendige Rückbesinnung auf Gewaltfreiheit als verändernde Kraft

Meine Arbeit zeigt die institutionengeschichtliche Entwicklung vom Beginn des Trainings in gewaltfreier Aktion im Umfeld der Graswurzelbewegung bis zur Ausbildung von Friedensfachkräften unter den Rahmenbedingungen des Militäreinsätze nicht ausschließenden Aktionsplans "Zivile Krisenprävention" der Bundesregierung (2004) auf.

Diese Entwicklung gilt es, im Kontext herrschaftskritischer Bildung zur Mündigkeit dementsprechend kritisch zu hinterfragen.

In die friedenspädagogischen Trainingskonzeptionen gehören demnach auch kritische Reflexionen über die zu hinterfragende Sinnhaftigkeit militärgestützter Außenpolitik und über gewaltfreie Alternativen dazu. Dafür ist es wichtig, sich auf ein ursprüngliches Verständnis von Gewaltfreiheit als einer verändernden Kraft des Individuums, der Gruppe und gesamter Gesellschaften zu besinnen. In diesem Sinne erscheint es wünschenswert, sich auf die in den daraufhin analysierten Einführungstrainings der 1970er Jahre thematisierten Visionen einer gewaltfreien Gesellschaft ohne Militär und evtl. auch ohne Hierarchien zu besinnen, da der Wert der Gewaltfreiheit auf diese Weise am wirksamsten verwirklicht werden dürfte.

Das Nebeneinander verschiedener Strömungen bei den verschiedenen Trainingsangeboten legt eine gegenseitige Ergänzung dieser Ansätze nahe, um verschiedene Visionen der Gewaltfreiheit gesellschaftlich voranzubringen. Einerseits gibt es keinen gesellschaftlichen Konsens über die "richtige Gewaltfreiheit", wenn es sie schon bewegungsintern nicht gibt. Andererseits dürfte es gewaltfreien Visionen mehr helfen, wenn sie sich gegenseitig ergänzen. Wichtig erscheint dabei unabhängig davon, ob sie eher der anarchistischen oder der partizipatorischen Demokratietheorie zuzuordnen sind, überhaupt politische Inhalte in die Konzeptionen aufzunehmen, soweit dies nicht geschehen ist.


Gewaltfreiheit als verändernde Kraft

Achim Schmitz' Dissertation ist ein Plädoyer für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft

Achim Schmitz, Gewaltfreiheit trainieren. Institutionengeschichte von Strömungen, Konzepten und Beispielen politischer Bildung, Sozio-Publishing, Belm-Vehrte/Osnabrück 2010, 448 Seiten, 24,80 Euro, ISBN 978-3-935431-15-6

"Gewaltfreiheit trainieren" ist ein sehr wichtiges Praxisfeld in Friedenspädagogik und in den Sozial- und Umweltbewegungen. Daher ist diese Publikation hervorragend geeignet für die Friedens- und Konfliktforschung, Aktive in Bewegungen und für alle an dieser Thematik Interessierte. Sie holt die Entwicklung wichtiger Strömungen und Visionen gewaltfreier Bewegungen ins Bewusstsein und lädt zur kritischen Diskussion ein. Auf der Basis einer konflikttheoretischen Annäherung wird die Thematik demokratietheoretisch eingeordnet und vor dem Hintergrund der Kritischen Erziehungswissenschaft pädagogisch betrachtet.

Im Fazit wird ein kritischer Blick auf die Entwicklung der Trainingsgeschichte - ausgehend von ursprünglichen gewaltfreien Visionen bis zu heutigen Kursen - gelenkt. Daraus ergeben sich Vorschläge für Training und Ausbildung in gewaltfreiem Konfliktverhalten. Das Buch ist ein Plädoyer für eine Rückbesinnung auf Gewaltfreiheit als verändernde Kraft in politischen Konflikten und für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft.

Das Buch kann u.a. bestellt werden beim Bund für Soziale Verteidigung, Schwarzer Weg 8, D-32423 Minden, Tel. 0571-29 456, E-Mail info@soziale-verteidigung.de, über Sozio-Publishing oder den allgemeinen Buchhandel.



Literatur (auch unveröffentlichte):

Bourdieu, Pierre (2001): Das politische Feld. Grandes conférences de Lyon, Université Lumière-Lyon 2, 11. Februar 1999. In: Bourdieu, Pierre (2001): Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft. Konstanz: UVK, S. 41-66. Bröckling, Ulrich (1983): Das Trainingstrauma. Eine (Selbst-)Kritik der Politik der Trainingskollektive für Gewaltfreie Aktion. In: Graswurzelrevolution, 11. Jahrgang. Heft 79, Nov. 1983, S. 6 f.

Burnicki, Ralf (2003): Anarchismus und Konsens. Gegen Repräsentation und Mehrheitsprinzip: Strukturen einer nichthierarchischen Demokratie. 2. Auflage, Frankfurt/M.: Verlag Edition AV. Derenbach, Hans-Willi (1980): Training in gewaltfreier Aktion. Entwicklungen und Probleme praktischer Friedenspädagogik. Diplomarbeit, Universität-Gesamthochschule Siegen, Fachrichtung Sozialwesen. Im Archiv Aktiv.

Lederach, John Paul (1997): Building Peace. Sustainable Reconciliation in Divided Societies. Wahington, United States Institute of Peace Press.

Lyons, Matthew Nemiroff (1988): The "Grassroots" Network - Radical Nonviolence in the Federal Republic of Germany 1972-1985. Western Societies Program Occasional Paper. Center for International Studies. Cornell University. Rosenberg, Marshall B. (2002): Gewaltfreie Kommunikation. Aufrichtig und einfühlsam miteinander sprechen. Neue Wege in der Mediation und im Umgang mit Konflikten. 3., korrigierte Auflage, Paderborn: Junfermann.

Saathoff, Günter (1980): "Graswurzelrevolution" - Praxis, Theorie und Organisation des gewaltfreien Anarchismus in der Bundesrepublik 1972-1980. Diplomarbeit, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Uni Marburg. Im Archiv Aktiv.

Schmitz, Achim (2010): Gewaltfreiheit trainieren. Institutionengeschichte von Strömungen, Konzepten und Beispielen politischer Bildung. Belm-Vehrte/Osnabrück: Sozio-Publishing.

Wasmuht, Ulrike C. (1987): Die Entstehung und Entwicklung der Friedensbewegungen der achtziger Jahre. Ihre geistigen Strömungen und ihre Beziehung zu den Ergebnissen der Friedensforschung. In: Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hrsg.) (1987): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/M.: Campus, S. 109-133.


Fußnoten:

(1) vgl. Schmitz 2010

(2) vgl. Bourdieu 2001: 50

(3) Die einzelnen Zeitschriften und Rundbriefe werden im Buch "Gewaltfreiheit trainieren" vorgestellt.

(4) Rundbrief der Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen, erschien von 1978 bis 1997

(5) Zeitschrift der DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen)

(6) Informationsrundbrief der "Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden"

(7) Diese Terminologie findet sich bei Wasmuht (1987: 131).

(8) Lyons 1988: 26 (Übersetzung aus dem Englischen: Achim Schmitz)

(9) vgl. Lyons 1988: 27

(10) vgl. Bröckling 1983: 6

(11) Protokolle zu den hier analysierten Trainingskursen konnte ich im Archiv Aktiv in Hamburg finden.

(12) vgl. Burnicki 2003

(13) vgl. ebd.: 265


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Quelle:
graswurzelrevolution, 39. Jahrgang, 355, Januar 2011, S. 12-13
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net

Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2011