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GRASWURZELREVOLUTION/1219: Griechisches Chaos ... und das Demokratieverständnis der "Demokraten"


graswurzelrevolution 364, Dezember 2011
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Griechisches Chaos
... und das Demokratieverständnis der "Demokraten"

von Ralf Dreis, Thessaloniki


Es ist keine neue Erkenntnis, dass das Kapital zur bürgerlichen Demokratie ein rein taktisches Verhältnis hat. Solange es die eigenen Geschäfte nicht allzu sehr behindert, wird das Wahl- und Parlamentstheater toleriert, in der Regel sogar nach Kräften gefördert. Artikuliert sich Widerspruch gegen kapitalistische Ausbeutung in der Bevölkerung, verweist man dann gerne auf die demokratische Legitimation des eigenen Handelns. Wagt es jedoch eine gewählte Regierung, sich dem kapitalistischen Diktat zu widersetzen, wird sie im Zweifelsfall durch einen Putsch beseitigt.


Sucht sie, wie Ende Oktober in Griechenland, nach zweijährigem Massenwiderstand, mit dem Rücken zur Wand Zuflucht in der Aufforderung an die Bevölkerung, selbst über existentielle Fragen wie das so genannte Hilfspaket der EU und des IWF zu entscheiden, bricht heillose Panik aus. PolitikerInnen, Wirtschaft und die von ihr kontrollierte beziehungsweise alimentierte Presse, drücken "tiefe Bestürzung", "Entrüstung", "Enttäuschung" oder gar "blankes Entsetzen" aus.

Alle Hebel werden in Bewegung gesetzt, um die drohende Katastrophe abzuwenden: ein mögliches Nein der Griechinnen und Griechen zum Spardiktat, als beispielgebender Auslöser eines Dominoeffektes in anderen Eurostaaten - Spanien, Italien, Portugal - letztendlich das Scheitern der Eurozone.

Die politische Elite, die sich während des EU-Krisengipfels vom 26./27. Oktober in Brüssel zum wiederholten Male für die "Rettung Griechenlands" und des Euro hatte feiern lassen, musste schon eine Woche danach zur erneuten Krisenintervention nach Cannes reisen.
Was war geschehen?


Das neue "óxi" der GriechInnen

Der 28. Oktober ist Nationalfeiertag in Griechenland. An diesem Tag hatte der faschistische Diktator Metaxás 1940 durch sein "óxi - nein", ein Ultimatum seines italienischen Kollegen Mussolini zur kampflosen Übergabe Griechenlands an Italien abgelehnt.

Die italienischen Faschisten marschierten ein und wurden durch den breiten, allübergreifenden Widerstand der griechischen Armee und Bevölkerung geschlagen. Die erste Niederlage der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg. 1941 besetzten die weit überlegenen Truppen der deutschen Wehrmacht das Land.

Traditionell wird der 28. Oktober in griechischen Dörfern und Städten mit Militär- und SchülerInnenparaden begangen, die an Ehrentribünen, besetzt mit lokalen und nationalen Honoratioren, vorbei defilieren. Zehntausende Menschen stehen an den Straßen und applaudieren. Der oder die Schulbeste trägt die Nationalfahne voran, was wiederholt zu Eklats geführt hatte, wenn SchülerInnen aus Einwandererfamilien dieses "Privileg" durch nationalistische Elternbeiräte oder Schulleitungen verwehrt wurde.

In den letzten Jahren war es durch linke LehrerInnen, anarchistische und antirassistische Organisationen zu Kritik und Protesten wegen des militaristischen und rassistischen Charakters der Paraden gekommen. Der diesjährige 28. Oktober wird der griechischen Elite in Erinnerung bleiben. Sie wurde schlicht zum Teufel gejagt. Über Partei- und Ideologiegrenzen hinweg, verhinderte ein spontanes Bündnis zehntausender Menschen landauf landab die normale Durchführung der Feierlichkeiten.

Es kam zu Auseinandersetzungen mit den Polizeikräften, Ehrentribünen wurden besetzt, Honoratioren vertrieben, Politiker als "Verräter" beschimpft, mit Eiern und Joghurt beworfen und in Einzelfällen mit Deutschlandfahnen verfolgt und geschlagen.

In Thessaloniki blockierten nach Handgemengen mit der Polizei und einer paradierenden Armeeeinheit Tausende die Straße. Erst als alle Ehrengäste, einschließlich des Staatspräsidenten und früheren Widerstandskämpfers Karólos Papoúlias, vertrieben waren, formierten sich Truppenteile und SchülerInnen, nun ohne Absperrungen, unter Applaus zu einer "Volksparade".

Nie zuvor waren die Feiern am "óxi-Tag" so massiv gestört, geschweige denn verhindert worden. Und nie zuvor muss griechischen PolitikerInnen klarer gewesen sein, dass der gesellschaftliche Konsens der "metapolítevsi" - der Zeit nach dem Ende der Diktatur 1974 und dem Wechsel zur parlamentarischen Demokratie - aufgekündigt ist. Zwei Tage danach verkündete Ministerpräsident Giórgos Papandréou, die Bevölkerung selbst über das in Brüssel verordnete "Rettungspaket" entscheiden zu lassen.


Allgemeine Panik der "Demokraten" ...

Die Drohung mit etwas Demokratie hat Parteien, Regierungen, Wirtschaftsverbände und Börsen in Panik versetzt. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Martin Wansleben, erklärte, die Volksabstimmung sei "eine Gefahr für die Euro-Rettung". Der Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), Anton F. Börner, bezeichnete das Referendum als "unverantwortlich".

Mit "Finanzbranche fürchtet den Ernstfall in Griechenland" titelte die Nachrichtenagentur Reuters. Im Text wird die Fondsgesellschaft Allianz Global Investors zitiert: "Ein drohender Domino-Effekt bei anderen Peripherie-Ländern ist real. Wir könnten letztlich den Anfang vom Ende der Euro-Zone sehen."

Der Deutsche Aktienindex brach um mehr als sechs Prozent, die Kurse der Finanzinstitute um fast zehn Prozent ein. Die Börsen in Paris, Frankfurt und London notierten Verluste, die in Mailand stürzte über 7 Prozent ab.

Politiker der Berliner Regierungskoalition äußerten sich mit "nicht mehr nachvollziehbar" (CSU-Parlamentsgeschäftsführer Stefan Müller) und Andeutungen über einen Austritt Athens aus der Euro-Zone (FDP-Finanzexperte Hermann-Otto Solms). Die "Wirtschaftswoche" beklagte, das Referendum zerstöre "die Hoffnung, dass in die Rettung Griechenlands ein Minimum an Vorhersehbarkeit einkehren würde", und forderte offen zum Sturz der Regierung Papandréou auf, da diese "nicht die Lösung, sondern Teil des Problems" sei.

Da jedoch auch der konservative Oppositionsführer Antónis Samarás alle Rettungspakete abgelehnt hat, sollten sich die "europäischen Politiker schnellstens nach Alternativen umsehen". Vielleicht mal wieder ein Militärputsch?

Angela Merkel und Nicolas Sarkozy schließlich zitierten Papandréou ultimativ noch vor dem G-20-Gipfel nach Cannes und verknüpften die geplante Abstimmung über das Spardiktat mit der Frage "ja oder nein zur Eurozone".

Zur Drohkulisse gehörte auch, Griechenland vorerst den Geldhahn zuzudrehen und die unmittelbar bevorstehende Zahlung aus dem alten 110-Milliarden-Paket einzufrieren.


... Chaos in der Wiege der Demokratie

Konsequent und chancenlos hatte die Kommunistische Partei (KKE) seit 30 Jahren eine Volksabstimmung über den Verbleib in Nato und EU gefordert, jetzt wollte sie es doch nicht so gemeint haben. Das Zentralkomitee der Partei erklärte: "Nieder mit der Regierung. Wahlen jetzt. Nein zur nackten Erpressung und ideologischen Einschüchterung gegen das Volk. Die Erpressung wird keinen Erfolg haben." In die gleiche Richtung zielte Jánnis Mílios, ein Mitglied des Parteivorstandes der Linksallianz: "In einer Abstimmung das Volk zu befragen, ist ein hohes demokratisches Gut. 'Wollt ihr die Kürzungspolitik ertragen oder den Austritt aus der Euro-Zone hinnehmen' verkürzt das Problem. So droht die Volksabstimmung zu einem letzten Trick von Papandréou zu werden, den Fall der Regierung zu verhindern, angesichts steigenden Drucks der Massenmobilisierungen. Notwendig sind jetzt Neuwahlen." In der anarchistischen Bewegung wurde heftig gestritten. "Es bleibt dabei, keine Teilnahme an den Spielen der Herrschenden - Boykott der Volksabstimmung!" verkündeten die Puristen. Andere forderten, "mit aller Kraft" für ein "Nein" und damit den "Zusammenbruch der Eurozone und Sturz des Kapitalismus" zu kämpfen. Eine dritte Fraktion analysierte auf indymedia athens die Chancen und Gefahren der momentanen Situation: "Ein 'Ja' bedeutet, dass sich die katastrophalen sozialen Folgen der Spardiktate, die wir jetzt schon spüren, in den kommenden zehn, zwanzig Jahren zuspitzen werden.

Ein 'Nein' zieht die ebenso brutalen sozialen Folgen eines isolierten, deindustrialisierten Landes mit schwacher nationaler Währung und einer zu großen Teilen nicht vorbereiteten Bevölkerung nach sich.

Das Dilemma dieser beiden für die Arbeiterklasse gleich katastrophaler Perspektiven kann nur aufgelöst werden, wenn sich weitere Teile der Bevölkerung organisieren und gegen das kapitalistische System entscheiden. Es stimmt, dass uns die anhaltendende Schwäche des Systems in die Hände spielt, wir aber organisatorisch nicht in der Lage sind, eine revolutionäre Situation zu meistern. Was wir dringend brauchen, ist ein politischer Aktionsplan und eine revolutionäre Massenorganisation. Das Beste, was uns momentan passieren kann, ist eine 'Regierung der nationalen Einheit', in der alle zusammen das EU-Diktat verantworten. Zwar wird dies eine noch brutalere Repression mit sich bringen, doch gleichzeitig wird endgültig klar, dass keine wirklichen Unterschiede zwischen den Parteien bestehen und sich die Bevölkerung für eine Seite der Barrikade entscheiden muss."

Während die konservative Néa Dimokratía (ND) ebenso vehement Neuwahlen forderte wie die Demokratische Linke und die rechtspopulistisch-orthodoxe Partei Laós, glich die regierende Pasok einem Tollhaus. Finanzminister Evángelos Venizélos distanzierte sich als erster: "Die Beteiligung des Landes an der Eurozone ist eine historische Errungenschaft und kann nicht infrage gestellt werden."

Es folgten Absetzbewegungen weiterer MinisterInnen und ParlamentarierInnen, die Abgeordnete Wáso Papandréou verortete ihren Parteichef "außer Raum und Zeit". Nach Krisensitzungen und den Ankündigungen, doch keine Volksabstimmung durchführen zu wollen, die Bildung einer "nationalen Einheitsregierung" in die Wege zu leiten, um dann seinen Posten zur Verfügung zu stellen, überstand Papandréou am 4. November die Vertrauensabstimmung mit 153 Ja-Stimmen bei 300 Abgeordneten.

Nach sechstägigem Geschacher wurde am 11. November der ehemalige stellvertretende EZB-Vorsitzende Loúkas Papadímos als neuer Premier präsentiert. Ein Finanzexperte, der mit schwierigen Situationen umzugehen weiß. Schließlich war er an der Einführung des Euro zur Jahrtausendwende als Chef der griechischen Notenbank maßgeblich beteiligt, als das Land mit gefälschten Zahlen Gründungsmitglied der Eurozone wurde. An der Regierung beteiligt sind Pasok, ND und Laós.


Das andere Griechenland

"Während die Vibrationen der Geschichte immer spürbarer werden und uns bestätigen, dass wir tatsächlich eine historische Epoche erleben, gleicht Griechenland täglich mehr einem unregierbaren Land. Staatliche Institutionen werden missachtet, elementare demokratische Regeln funktionieren nicht, Gesetze werden straflos gebrochen.

Im Gleichschritt mit Arbeitslosigkeit und Armut steigt die Gewalt auf allen Ebenen spektakulär an, der Staatsapparat scheint in Auflösung begriffen und die Verwaltungsbürokratie hält die Regierung schon seit geraumer Zeit für ihren Feind. Diese ist nicht in der 'Lage, die schulische Ausbildung zu gewährleisten, die Gesundheitsvorsorge sicherzustellen, Steuern einzutreiben und Steuerhinterzieher ausfindig zu machen, genauso wenig, wie sie es schafft, die selbst verabschiedeten Gesetze umzusetzen. Die Lage ist extrem unsicher und niemand weiß, wohin die Reise geht ..."

Die von der Journalistin Vasilikí Sioúti in der Sonntagsausgabe der Athener Tageszeitung Eleftherotypía vom 6.11. sehr pessimistisch beschriebene Realität führt jedoch auch dazu, dass immer mehr Menschen versuchen, ihr Leben kollektiv zu organisieren. Linke und anarchistische Pfleger und Ärztinnen haben in Athen und Thessaloníki solidarische Gesundheitszentren eröffnet, in denen sich Arme und Menschen ohne Pass umsonst behandeln lassen können.

Ziel ist die Übernahme der Wasserwerke durch die Bevölkerung der Stadt, wozu pro Kopf 136,- Euro nötig wären. Während anarchistische Gruppen in den letzten Wochen erneut Supermärkte in Vólos, Pátras, Athen und Thessaloniki geplündert und die erbeuteten Waren auf den nahen Wochenmärkten verteilt haben, organisiert sich der Widerstand gegen die Sonderabgabe auf Wohnungs- und Hausbesitz auch aus den Rathäusern heraus. Der Betrag wird pro Quadratmeter Wohnfläche berechnet und seit Oktober über die Stromrechnung abkassiert.

Hauseigentümern, die nicht bezahlen können oder wollen, wird der Strom abgedreht. Vor allem Städte mit linken Mehrheiten fordern die Bevölkerung inzwischen auf, den Abschlag zu verweigern, und haben Freiwilligentrupps zusammengestellt, die vom Stromnetz abgeklemmte Haushalte wieder an selbiges anschließen.


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Quelle:
graswurzelrevolution, 40. Jahrgang, Nr. 364, Dezember 2011, S. 6-7
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Dezember 2011