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GRASWURZELREVOLUTION/1275: Ein Kommentar zu Horst Hipplers Kritik an der Bolognareform


graswurzelrevolution 371, September 2012
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Fensterreden und der übliche Schavansinn

Ein Kommentar zu Horst Hipplers Kritik an der Bolognareform

Von Joseph Steinbeiß



In der SZ vom 14./15. August 2012 hat sich Horst Hippler, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), mit ungewöhnlich deutlichen Worten zur Studiensituation in Deutschland geäußert.


Das ist zunächst einmal erfreulich. Allein, dass die Redaktion seine streng sachbezogene Kritik "scharf" nennt, vermittelt einen Eindruck davon, was für ein weltfremdes Gesäusel bisher von der mächtigsten Lobbygruppe der deutschen Hochschulen zu diesem Thema zu vernehmen war. Die Bolognareform habe wesentliche ihrer Ziele verfehlt, so Hippler. Internationale Mobilität sei nicht erleichtert worden. Das Credit-point-System ermögliche keine Vergleichbarkeit der Leistungen und sage über die tatsächlichen Fähigkeiten eines Bachelor-Absolventen ohnehin nichts aus.

Durch steigende Studierendenzahlen bei gleichzeitig weiter sinkenden Investitionen in die Bildung drohe den Universitäten der Kollaps. Auch die künstliche Verknappung der Master-Studienplätzen werde über kurz oder lang zu großen Problemen führen. Denn der Bachelor sei bestenfalls ein Ausweis der Berufsbefähigung. Ganz sicher sei er keine Berufsqualifikation. All das ist richtig. All das ist nicht neu. Wer hier einen medientauglichen Skandal wittert, hat die letzten 13 Jahre Hochschulentwicklung verschlafen.

Ebenso weltfremd allerdings wäre es, sich von nun an über eine HRK zu freuen, die sich entschiedener der Demontage des tertiären Bildungssektors entgegenstemmt. Denn Hipplers Wortmeldung hat den deutlichen Haut-goût einer Fensterrede. Das wird unter anderem deutlich, wenn er die Schwierigkeiten erläutert, die die Wirtschaft mit eben jenen Absolventinnen und Absolventen habe, die die Bolognareform für sie zu mundgerechten Häppchen hatte pressen sollen: "Die Unternehmen brauchen Persönlichkeiten, nicht nur Absolventen. Wir alle arbeiten immer länger, da ist es sinnvoll, am Anfang mehr Zeit zu investieren und eine solche Persönlichkeit auszubilden.

Hierzu gehört auch, dass Studenten über den Tellerrand des Fachs hinausschauen können. Der Jugendwahn ist an dieser Stelle vorbei".

Der Jugendwahn ist an dieser Stelle vorbei? Vergebung, Herr Hippler, aber der Jugendwahn fängt an dieser Stelle gerade erst richtig an! Denn ab dem Wintersemester dieses Jahres drängen, sogar 16-17jährige (!) an die Universitäten; Kinder, die nicht einmal den Mietvertrag für ihre Studentenbude selber unterschreiben dürfen und deren Eltern sich vermutlich am liebsten neben ihnen in die Hörsäle setzen würden.

Universitätsleitungen bitten landauf, landab ihre Dozentinnen und Dozenten, bei der Wahl ihrer Lehrinhalte Vorsicht walten zu lassen, damit nicht etwa ein anstößiger Vers von Goethe eine Klage wegen Verstoßes gegen das Jugendschutzgesetz nach sich zieht.

Das Abitur nach 12 Schuljahren hat den Jugendwahn in Deutschland auf die Spitze getrieben, und man hat nicht den Eindruck, dass sich irgendjemand inner- oder außerhalb der Universitäten über die Folgen Gedanken gemacht hat. Schon gar nicht die Hochschulrektorenkonferenz.

Die Unselbstständigkeit deutscher Studierender ist ohnehin schon jetzt erschreckend. Die Verschulung des Studiums hat, wenig überraschend, die Verschülerung der Studentinnen und Studenten nach sich gezogen. Bis zum Bachelor-Abschluss haben die meisten von ihnen praktisch keine Möglichkeit, eigenen Interessen im Studium nachzugehen oder diese zu entwickeln. Ja, viele haben noch nicht einmal Zeit und Muße, solche Interessen überhaupt zu entdecken. Sie hetzen in rasantem Tempo durch eine Kette von Pflichtveranstaltungen mit minimaler Wahlfreiheit, deren Leistungsanforderungen sich meist in schnödem Auswendiglernen erschöpft.

Die meisten dieser Kurse werden dann konsequenterweise auch mit Klausuren abgeschlossen - ganz wie in der Schule. Eine eigenständige, kritische Persönlichkeit lässt sich unter diesen Umständen tatsächlich schwer entwickeln.

Das hat Folgen, auch für die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt. Englische Verlage beispielsweise stellten über Jahre hinweg gerne und häufig deutsche Hochschulabsolventinnen und Absolventen ein. Der Grund: Ihre Selbstständigkeit. Ein, zwei Wochen Eingewöhnungsphase hätten genügt, und die betreffende Person sei handlungsfähig gewesen.

Das habe sich gründlich geändert. Inzwischen sind deutsche Philologinnen und Philologen auf dem englischen Verlagsmarkt chancenlos. Die nötigen Einarbeitungsphasen seien einfach zu lang. Ein Beispiel unter vielen. Hippler weiß das alles. Die logische Konsequenz jedoch, nämlich eine Rücknahme der Bolognareform zu fordern, mag er nicht ziehen: "Eine Umkehr würde nichts besser machen. Man sollte das jetzige Konzept optimieren".

Der Österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann hat in seinem lesenswerten Buch "Theorie der Unbildung" dieses "Optimieren" unsinniger Neuerungen sarkastisch beschrieben: Was dabei herauskomme, sei die Reform einer Reform einer Reform einer Reform einer Reform..., bis sich niemand mehr auskenne, aber eben auch niemand mehr haftbar gemacht werden könne für das grassierende Chaos.

Was hilft es da, wenn Hippler im gleichen Atemzug klagvoll betont, Universitäten seien keine Ausbildungsstätten, sondern Bildungsstätten, an denen junge Menschen Fähigkeiten erwerben könnten, die weit über die Erfordernisse eines künftigen Berufs hinausgingen?

Als die Bolognareform mit allerlei Winkelzügen, Lügen und Erpressungen, aber eben auch mit diensteifrigem Gehorsam der Verantwortlichen an den Universitäten durchgesetzt wurde, war ihr erklärtes Ziel, den alten Gedanken der Universitas und mit ihm das Humboldtsche Bildungsideal ins Grab zu stoßen. Statt seiner sollte von nun an die Vorstellung einer quasi-industriellen, normierten Produktion von "Wissen" dominieren, die durch keine Widerworte, Eigensinnigkeiten und menschlichen Subjektivitäten mehr gestört würde. Wer dieses System und das ihm zugrundeliegende Denkgebäude "optimieren" will, sollte sich eigentlich schämen, das Wort "Bildung" weiter im Munde zu führen. Wenig überraschend kommen Hipplers "Optimierungsvorschläge" denn auch relativ blutleer daher: Lockerung der Regelstudienzeiten, Aufhebung der Anwesenheitspflicht, Ausbau der Masterstudienplätze. Viele Universitäten haben diese Vorschläge längst umgesetzt - allerdings als Reaktion auf die massiven Studierendenproteste des Jahres 2009. Wenn dies die Kampfansage der HRK an die bildungspolitisch Verantwortlichen sein soll, muss sich Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) keine Sorgen machen. Sie hat erst kürzlich die Bolognareform eine "europäische Erfolgsgeschichte" genannt. Der Schavansinn wird weitergehen, bis die Interessenvertreterinnen und Vertreter der Hochschulen sich endlich von der luftigen Höhe ihrer Fenster herab auf die Erde bequemen. Dort sollten sie dann handeln - und nicht reden.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 41. Jahrgang, Nr. 371, September 2012, S. 6
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. September 2012