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GRASWURZELREVOLUTION/1442: Machtkämpfe - Eine antimilitaristische Sicht auf den Krieg in der Ukraine


graswurzelrevolution 395, Januar 2015
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Machtkämpfe
Eine antimilitaristische Sicht auf den Krieg in der Ukraine

von Vadim Damier



Im November 2014 hat der Moskauer Sozialwissenschaftler Dr. Vadim Damier in Veranstaltungen in acht deutschen Städten vor zahlreichen ZuhörerInnen seine alternative Sicht auf den Krieg in der Ukraine dargelegt. Träger der Veranstaltungsreihe waren Connection e.V. und das Bildungswerk der DFG-VK Hessen. Mitveranstalter in Münster war u.a. die Graswurzelrevolution. Der GWR-Autor und Anarchosyndikalist hat uns sein Redemanuskript zum Abdruck angeboten. Wir dokumentieren den redaktionell überarbeiteten Text in zwei Teilen. Teil 2 erscheint im Februar 2015 in der GWR 396. (GWR-Red.)    


Die Problematik der ukrainischen Krise und des ukrainischen Bürgerkrieges ist vielfältig und kompliziert. Es ist unmöglich, alle Aspekte der Ereignisse und der aktuellen Situation im Rahmen eines einzigen Vortrags zu analysieren.

Darum schlage ich folgenden Ablauf vor: Zunächst werde ich die für das Verständnis des Geschehens notwendigen Grundlagen vermitteln. Danach seid ihr eingeladen, Fragen zu stellen, anhand derer ich weitere Einzelheiten beleuchten kann.

Weder prorussisch, noch proukrainisch oder prowestlich

Die von mir hier vertretene Position ist weder prorussisch, noch proukrainisch oder prowestlich. Sie ist explizit antinational.

Die propagandistische Hysterie aller Seiten übersteigt in der aktuellen Krise jedes Maß, sie ist sogar mit der Kriegspropaganda aus der Zeit des Ersten Weltkrieges und den damals aufgebauten Feindbildern vergleichbar. Überall wird mit zweierlei Maß gemessen. Die gegenseitigen Vorwürfe klingen oft absurd bis zum Idiotismus. So erklärte der damalige Kriegsminister der Ukraine Geletey, dass die russischen Militärs während der Kämpfe in Lugansk taktische Atomwaffen eingesetzt hätten.

Die russische Propaganda hält ihrerseits abrupt die ganze politische Elite der Ukraine für "faschistisch". Beide Seiten versuchen hartnäckig, die ukrainische Krise ausschließlich durch Einmischung von außen zu erklären. Die ukrainische Propaganda verneint sogar die Existenz eines Bürgerkrieges, indem sie alle Unzufriedenheit im Osten des Landes mit dem Maidan-Staatsstreich ausschließlich als Folge der Einmischung durch das Putin-Regime deutet. Russische Medien neigen umgekehrt dazu, die Maidan-Proteste und den Sturz des Ex-Präsidenten Janukowitsch mit einer US- und EU-Verschwörung zu erklären.

Die herrschende Methode ist dabei die Verabsolutierung einzelner Tatsachen und ihre Eingliederung in ein gängiges primitives Erklärungsmuster. Genau ein solches Vorgehen müssen wir vermeiden, um die wirkliche Verflechtung verschiedener und vielfältiger Faktoren zu verstehen. Ich versuche heute zu zeigen, dass die aktuelle Krise ihrem Ursprung nach eine innerukrainische war, dann aber durch die anderen Staaten mit ihrer imperialistischen Interessenpolitik gewaltig verstärkt und zugespitzt wurde.

Zuerst müssen wir uns klarmachen, was eigentlich auf dem Kiewer Maidan-Platz passierte, was für eine Protestbewegung das war und woher sie kam. Einige nennen sie "Volksrevolution", andere reden von einem "faschistischen Putsch". Beides ist falsch. Hier sind unbedingt die oberflächlichen Vorwände von den wirklichen Hintergründen zu unterscheiden. In Wirklichkeit war das ein Staatsstreich, der von der Opposition schon lange angestrebt wurde.

Diese Opposition wurde durch drei politische Parteien vertreten. Das waren: die rechtspopulistische "Batkiwschtschina" ("Vaterland") von Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, die liberal-rechtszentristische "Ukrainische Demokratische Allianz für Reformen" (UDAR) von Vitali Klitschko (er ist ein ehemaliger Boxer und heute Bürgermeister von Kiew) sowie die Partei "Freiheit" (Swoboda) von Oleg Tjagnibok. Letztere ist rechtsradikal, extrem nationalistisch und antisemitisch und hatte eine starke Unterstützung besonders im Westen des Landes.

Die ukrainische Opposition bekam eine finanzielle und moralische Hilfe vom Westen, durch verschiedene Stiftungen und angebliche Nicht-Regierungs-Organisationen. Vor allem galt das für Batkiwschtschina sowie die UDAR-Partei von Klitschko, der seit Jahren enge Beziehungen mit Deutschland pflegte und auch von der CDU unterstützt wurde.

Die drei Parteien, die einen gemeinsamen Oppositionsblock bildeten, suchten schon einige Jahre lang nach jeder Möglichkeit, um die Regierung Janukowitsch zu destabilisieren. Dabei nutzte man verschiedene Vorwände: von der angeblichen Fälschung der Parlamentswahlen 2012 über Korruptionsskandale und die Kampagne für die Freilassung der verurteilten Timoschenko bis hin zur Organisierung heftiger Massenproteste gegen das Sprachgesetz der Regierung, das die Rechte der regionalen Minderheitssprachen anerkannte. Während dieses letzten Konfliktes pumpte die Opposition die nationalistische Hysterie auf, indem sie versuchte, das Janukowitsch-Regime als anti-ukrainisch und pro-russisch darzustellen.

Diese Kämpfe bildeten aber nur die politische Oberfläche des Geschehens. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die Ukraine verfassungsgemäß zwar ein Staat mit einer repräsentativen Demokratie. In den meisten Ländern außerhalb der westlichen politischen Traditionen besagt das aber wenig, da unter dieser Oberfläche verschiedene Klans und Interessengruppen agieren, die eigentlich entscheiden und ihre Entscheidungen dann parteipolitisch institutionalisieren.

Die Ukraine ist ein Land mit extremer sozialer Polarisierung: Während die meisten Menschen in bitterer Armut leben, ist die überwältigende Mehrheit der Wirtschaft und des Eigentums in den Händen weniger oligarchischer Gruppen konzentriert. Diese Gruppen entstanden in den 90er Jahren in enger Zusammenarbeit mit Mafiastrukturen, und die Geschichte der Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit ist in Wirklichkeit eine Geschichte ununterbrochener Machtkämpfe zwischen diesen Klans und Wirtschaftseliten. Zuerst setzte sich der Donezker Klan durch, dann wurde er Mitte der 90er Jahre durch die Dnepropetrowsker Gruppe verdrängt. 2010 kehrte mit Janukowitsch als Staatspräsident dann die Donezker Gruppe um Multimilliardär Achmetow an die Macht zurück. Nun versuchte aber das neue Staatsoberhaupt eine Neuverteilung der wichtigsten Kontrollposten, des Eigentums und der Wirtschaft zugunsten eines ganz engen Kreises seiner eigenen Verwandten und Bekannten, und das brachte ihn in einen Konflikt mit allen anderen oligarchischen Gruppen, einschließlich Achmetow. Dabei geschah etwas ganz Neues: Die bis dahin zutiefst verfeindeten oligarchischen Gruppen fanden sich im Laufe des Jahres 2013 unerwartet zusammen und wandten sich geschlossen gegen das Janukowitsch-Regime. Niemand hätte jemals gedacht, dass erbitterte Gegner wie Poroschenko, Kolomojskij, Achmetow, Pintschuk, Firtasch, Taruta und andere sich zusammentun könnten. Aber es geschah. Die Oligarchen finanzierten nicht nur die Maidan-Proteste. Ihr entscheidendes informelles Treffen im Januar 2014 wurde zum Todesurteil für das Janukowitsch-Regime.

Der Staatsstreich wurde dadurch erleichtert, dass Janukowitsch nicht auf eine breite Unterstützung in der Gesellschaft bauen konnte. Während seiner Regierungsjahre hatte er unermüdlich eine reaktionäre neoliberale Sozialpolitik betrieben.

Die Dimensionen des Sozialabbaus in der Bildung, im Gesundheitswesen oder im Arbeitsrecht waren zwar geringer als zum Beispiel in Russland, aber trotzdem erheblich. Die Löhne waren überdies viel niedriger als in Russland (offiziell weniger als 400 Dollar monatlich), die Arbeitslosigkeit lag offiziell bei 8% und eine normal bezahlte Arbeit war kaum zu finden.

Im wichtigsten Kohleabbaugebiet im Donbass, also im Osten des Landes, waren mehrere Bergwerke geschlossen; teilweise wurden sie illegal weiter betrieben. Im Westen des Landes standen viele der alten Betriebe still. Millionen Menschen arbeiteten im Ausland: diejenigen aus der Westukraine üblicherweise in der EU, diejenigen aus den östlichen Gebieten eher in Russland. Die Korruption der Behörden war enorm.

So hatten die arbeitenden Menschen in der Ukraine kaum Gründe, das Janukowitsch-Regime zu unterstützen. Die Mehrheit der Bevölkerung schenkte während der Maidan-Proteste aber auch der Opposition keine Unterstützung. Als beispielsweise die Opposition Ende 2013 zu einem Generalstreik gegen die Regierung aufrief, wurde der Aufruf kaum befolgt. Die Maidan-Proteste waren von Anfang bis Ende die Sache einer hartnäckigen und sich allmählich radikalisierenden Minderheit.

Euromaidan

Die Protestaktionen auf dem Kiewer Maidan-Platz wurden Ende November 2013 von einer Gruppe Studierender begonnen. Sie wurden "Euromaidan" genannt, weil die Hauptforderung der Protestierenden die ukrainische Assoziation mit der EU war. Diese Konstellation ist eine genauere Analyse wert, da sich hinter ihr die machtpolitischen Interessen verschiedener Imperialismen verbergen.

Es gibt eine weit verbreitete Meinung, die auch von der damaligen ukrainischen Opposition propagiert wurde, dass nämlich Janukowitsch ein explizit pro-russischer Politiker gewesen sei. Das ist aber ein Propaganda-Mythos und entspricht nicht der Wahrheit. Janukowitsch betrieb eine Politik des Lavierens zwischen dem Westen und Russland, indem er bereit war, mit beiden Seiten zusammenzuarbeiten. Insbesondere wollte er mit der Seite zusammenarbeiten, die ihm ein besseres Angebot machen würde.

Er erklärte seine prinzipielle Bereitschaft, sowohl eine Assoziation mit der EU als auch eine Kooperation mit der Zollunion unter Führung Russlands einzugehen. Alles hinge von den konkreten Bedingungen ab.

Janukowitsch wollte feilschen und warten, wer ihm das bessere Angebot unterbreiten würde. In diesem riskanten Spiel brach er sich den Hals.

Wie waren und sind nun die Interessen der Außenmächte in der bzw. um die Ukraine?

Sie sind vor allem geostrategischer, militärischer und wirtschaftlicher Natur. Verschiedene imperialistische Mächte sind daran interessiert, die Ukraine unter ihrer Kontrolle zu halten.

Obwohl die EU-Staaten mit ihren Beschlüssen und Sanktionen gern demonstrieren möchten, dass sie in der Ukraine-Frage einig und auch mit den USA im Einklang sind, ist das in der Realität nicht der Fall. Tatsächlich sind einige der europäischen Staaten an der Beeinflussung der Ukraine mehr interessiert als die anderen.

Ein besonderes Interesse an einer prowestlichen und Russland fernstehenden Regierung in Kiew haben Deutschland, Polen und die baltischen Länder. Wenn dabei die osteuropäischen Staaten einfach Angst vor einem zu starken Russland haben (teilweise auch historisch motiviert), so stimmen die Bestrebungen der herrschenden Eliten Deutschlands weitgehend mit den Interessen, Plänen und Hoffnungen einflussreicher multinationaler und europäischer Konzerne, der EU-Bürokratie und der NATO-Strukturen überein.

Wirtschaftlich gesehen gilt die Ukraine als wichtiger Handelspartner Deutschlands. Mit etwa 6,6 Milliarden US-Dollar haben deutsche Investitionen in der Ukraine einen Anteil von 16,5 Prozent an den gesamten ausländischen Investitionen. Knapp 400 deutsche Unternehmen sind in der Ukraine vertreten, berichtet das "Handelsblatt".

Interessant für deutsche Unternehmen sind der traditionsreiche ukrainische Maschinen- und Anlagenbau, die Elektroindustrie sowie Teile der metallverarbeitenden Industrie. Außerdem ist die Ukraine ein großer potentieller Absatzmarkt (www.handelsblatt.com/politik/deutschland/ukraine-krise-400-deutsche-unternehmen-in-der-ukraine-aktiv/9376948-2.html).

Potentiell attraktiv für verschiedene ausländische Investoren kann auch Fracking in der Ukraine sein.

Die westlichen Firmen und Konzerne sind bereit, noch stärker in der Ukraine zu investieren, doch wollen sie mehr politische, finanzielle und wirtschaftliche Stabilität. Letztere ist in der heutigen Welt mit tiefgreifenden neoliberalen Wirtschaftsreformen verknüpft.

Der IWF erarbeitete vor einigen Jahren Forderungen an die Ukraine als Vorbedingung für Kredite in Höhe von sechzehn Milliarden. Dazu gehörten: Erhöhung des Rentenalters, Kürzung der Renten, Löhne und des Arbeitslosengeldes, drastische Erhöhung der Gas- und Stromtarife und der Preise für Arzneimittel, Abschaffung aller sozialen Präferenzen für einzelne Bevölkerungskategorien, Kürzung der Sozialleistungen, Verzicht auf Erhöhung des Existenzminimums, weit reichende Privatisierungen, Einführung des freien Landverkaufs usw.

Während der Assoziationsverhandlungen 2013 forderte die EU von der Ukraine, mit dem IWF ein entsprechendes Abkommen zu schließen. Das konnte die Regierung von Janukowitsch sich aber nicht leisten. Nicht weil sie prinzipiell etwas gegen neoliberale Reformen hatte: Sie selbst führte solche durch. Aber so schnelle und drastische Maßnahmen hätten für sie tödlich sein können, besonders mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2015. Sie hätten die soziale Lage massiv verschlechtert, besonders in den Kohle- und Metallurgie-Gebieten im Osten, wo die regierende "Partei der Regionen" ihre Stammwählerschaft hatte.

Außerdem hätte die einseitige EU-Assoziation die traditionellen Wirtschaftsbeziehungen der östlichen Regionen mit Russland gefährden können. Janukowitsch erklärte, er sei bereit, ein Assoziationsabkommen zu unterschreiben, forderte aber eine milliardenschwere Kompensation von der EU. Ein Kuhhandel begann. Die Unterzeichnung des Vertrags wurde vertagt, und das rief die Protestaktion namens Euromaidan hervor. Das war der Auftakt des Spektakels.

Beweggründe

Wirtschaftsinteressen und neoliberale Reformforderungen waren aber nicht die einzigen Beweggründe der westlichen Eliten in Bezug auf eine Kontrolle über die Ukraine. Durch dieses Land verlaufen die Pipelines, die Europa mit dem für seine Volkswirtschaften lebenswichtigen Gas, vor allem aus Russland, versorgen. Die Lieferwege in der Energiewirtschaft zu kontrollieren, das ist in der heutigen Welt nicht nur wirtschaftlich profitabel, sondern auch strategisch wichtig.

Und was die herrschenden Eliten der USA und die NATO betrifft, so ist für sie die Dominanz in der Ukraine ein wichtiger Teil der Strategie der Osterweiterung dieses Militärblocks. Sie könnte ihnen die Möglichkeit verschaffen, nicht nur die russische Marinebasis auf der Krim zu beseitigen, sondern auch einen durchgehenden Korridor bis hin zum Nordkaukasus und dann weiter durch Georgien bis in den Nahen Osten zu schaffen. So würde die Ukraine für die NATO gleichsam das Tor nach Asien, wo die USA nicht nur ihre Gegner im Nahen und Mittleren Osten bekämpfen, sondern sich auch auf eine künftige Konfrontation mit China vorbereiten, das seinerseits seinen Einflussbereich nach Westen im Rahmen der "Großen Seidenstraßen-Doktrin" erweitert.

Die Interessen der herrschenden Eliten Russlands, die ihr Land als eine regionale Supermacht verstehen, sind solchen Bestrebungen der westlichen Mächte völlig entgegengesetzt.

Die Interessen des russischen Staates und des russischen Kapitals in der Ukraine sind ebenfalls vielfältig. Die Ukraine insgesamt und insbesondere das Krim-Gebiet haben für den russischen Staat eine enorme militärische Bedeutung. Seit dem Zerfall der Sowjetunion ist für Russland der Zugang sowohl zur Ostsee als auch zum Schwarzen Meer stark eingeschränkt.

Auf der Krim befinden sich die wichtigsten Stützpunkte der russischen Schwarzmeerflotte, wobei die Frist der Stationierung 2017 ablaufen sollte. Strategisch gesehen ist die Halbinsel Krim, die weit ins Meer hineinragt, ein Schlüssel zum Schwarzen Meer. Und die Perspektive einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine erschreckt die russische Regierung.


Anmerkungen

Teil 2 erscheint im Februar 2015 in der Graswurzelrevolution Nr. 396.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 44. Jahrgang, Nr. 395, Januar 2015, S. 1 und 13
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2015


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