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GRASWURZELREVOLUTION/1487: Gimme Shelter


graswurzelrevolution 400, Sommer 2015
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Gimme Shelter

von Nicolai Hagedorn


In Frankfurt am Main haben sich junge Leute organisiert, um denen zu helfen. denen sonst keiner hilft. Flüchtlinge ohne Aufenthaltsgenehmigung werden betreut und von der Straße geholt. Das "Project Shelter" sorgt bereits für einiges Aufsehen in der Stadt.


Ortsbeiratssitzung Frankfurt Bornheim. Eine Riege routinierter PolitikerInnen, deren Interesse unübersehbar entweder in der eigenen Karriere (bei den wenigen jüngeren) oder in einer angesichts der Entscheidungskompetenz solcher Gremien skurrilen Selbstdarstellungssucht besteht. Man suhlt sich in der von BürgerInnen und Bürgerinitiativen vorgetragenen Dankbarkeit.

Man präsentiert stolz zwei neue Spielplätze, ein freundlicher, dankbarer Herr von einer Bürgerinitiative wird für sein Engagement gelobt, er bedankt sich artig, ein anderer Herr, der weniger dankbar als kritisch ist, wird niedergemacht. Stadtteilpolitiker in Aktion.

Als die AktivistInnen vom "Project Shelter" schließlich ihr Anliegen vortragen, kommt Leben in die Bude. Den Minipolitikern weht plötzlich ein anderer Wind entgegen, jetzt hat man es mit Leuten zu tun, die sich offenbar mit echter Leidenschaft für andere Menschen einsetzen und wenig von Etikette verstehen. Bei denen sind Emotionen im Spiel, sie fordern Räumlichkeiten für Flüchtlinge, die keinen Aufenthaltsstatus in Deutschland haben, weil sie in einem anderen europäischen Land bereits einen Asylstatus besitzen. Nur gibt es in den von Deutschland niederkonkurrierten Volkswirtschaften der europäischen Südperipherie eben auch keine Arbeit mehr. Und am allerwenigsten für AusländerInnen. Deswegen kommen sie nach Deutschland, dem kapitalistischen Zentrum Europas. Einen Asylantrag können sie nicht einreichen, da sie in einem anderen Land bereits einen Status haben, also leben sie auf der Straße, in Obdachlosenunterkünften, unter Brücken. Ohne feste Wohnadresse können sie aber keine Arbeit aufnehmen, ohne Arbeit keine Wohnung finden. Plötzlich sind die Auswirkungen der großen Krise der Wertverwertung im kleinen Ortsbeirat angekommen, ist die kleine heile Welt gestört.

Die engagierten jungen Leute, die sich bald mit den saturierten Ortspolitikern heillos angelegt haben, fordern von diesen menschliches Mitgefühl, Empathie, ein bisschen Wut auf den Kapitalismus und sie auf, sich mit ihnen für die Geflüchteten, für die Arbeit, Wohnraum und eine Lebensperspektive für sich und ihre Familien Suchenden einzusetzen. Sie wollen in einem selbstverwalteten Zentrum Flüchtlinge beraten und unterbringen, ihnen eine feste Wohnadresse verschaffen, um sie aus dem Teufelskreis zu befreien. Dafür brauchen sie die Unterstützung der LokalpolitikerInnen. Zahm und beflissen wie die anderen wollen sie dabei aber nicht auftreten.

Bisher hat das erst im Januar 2015 gegründete "Project Shelter" bereits über 20 Personen in Frankfurter Wohngemeinschaften oder auf Campingplätzen untergebracht. Das ist teuer und die Suche nach immer neuen Unterbringungsmöglichkeiten bringt die AktivistInnen bereits jetzt an die Grenzen der Belastbarkeit.

"Die meisten unserer Flüchtlinge haben ein Visum für nur drei Monate, danach ist ihr Aufenthalt in Deutschland nicht mehr legal", sagt Anousha Tomatzki, eine der Aktivistinnen, die an diesem Abend die Ortsbeiratssitzung für einige Minuten zu einem aufregenden Ort machen. "Die Unterbringungsmöglichkeiten, die wir bisher organisiert haben, stellen aber oft keine dauerhafte Lösung dar." Sie und ihre MitstreiterInnen finanzieren sich über Spenden, Solipartys und "Küchen für alle". (Spendenkonto siehe unten)

Es geht dem Projekt dabei neben der Befriedigung von Grundbedürfnisse wie Wohnung und Verpflegung auch darum, den Betroffenen Zeit zu verschaffen, "um ihren politischen Kampf' führen zu können, um Anerkennung und die Möglichkeit, ihr Leben selbst zu gestalten.

Ähnliche Initiativen sorgen auch in vielen anderen Städten dafür, dass die in der Krise des Kapitalismus "überflüssig" Gewordenen nicht nur als Obdachlose oder Illegalisierte verwaltet werden. Die Betroffenen in die politischen Kämpfe vor Ort einzubinden, ist eines der Ziele solcher Initiativen. Etwa in Berlin und Augsburg haben AktivistInnen bereits für einiges Aufsehen gesorgt. "Wir vernetzen uns derzeit und wollen das Problem auch in Frankfurt für die Öffentlichkeit sichtbar machen", sagt Tomatzki.

Demo

Für den 13. Juni dieses Jahres ist eine Demonstration in Frankfurt geplant, die von verschiedenen linken Gruppen unterstützt wird und bei der laut Demoaufruf die Stadt Frankfurt dazu aufgefordert werden soll, "direkte Verhandlungen mit den obdachlosen MigrantInnen und ihren UnterstützerInnen über die Eröffnung eines selbstverwalteten Zentrums aufzunehmen".

Während des Auftritts der Gruppe bei der Ortsbeiratssitzung ist den LokalpolitikerInnen anzumerken, dass sie mit derartigem Einsatz für Obdachlose Flüchtlinge wenig anfangen können. Man erklärt, die Stadt tue genug für "Problemfälle", außerdem sei man ohnehin nicht zuständig. Während die CDU-Abgeordneten sich zumindest gelangweilt der Diskussion enthalten, echauffieren sich Vertreter der SPD und insbesondere der Grünen vor allem darüber, dass der Diskussionsstil der AktivistInnen nicht angebracht sei. Fehlte eigentlich nur noch, dass sie das Tragen von Turnschuhen vor einem so wichtigen Gremium moniert hätten.

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Wer in der Umgebung von Frankfurt WG-Zimmer oder andere Unterbringungsmöglichkeiten für Geflüchtete zur Verfügung stellen kann und will, kann sich unter E-Mail project.shelter-ffm@riseup.net an das Projekt wenden.

Außerdem gibt es eine Petition, die Räumlichkeiten für das Projekt fordert: Unter www.openpetition.de/petition/online/project-shelter kann man mit einer Unterschrift den saturierten PolitikerInnen etwas auf die Sprünge helfen.

Weitere Informationen finden sich darüber hinaus auf der Internetseite der Initiative:
www.projectshelter.net

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Quelle:
graswurzelrevolution, 44. Jahrgang, Nr. 400, Sommer 2015, S. 11
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
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Internet: www.graswurzel.net
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juli 2015

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