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GRASWURZELREVOLUTION/1649: "Das sollen Gedichte sein?" - Leben und Werk des Revolutionsdichters Oskar Kanehl


graswurzelrevolution 417, März 2017
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft
- beilage libertäre buchseiten -

"Das sollen Gedichte sein?"
Leben und Werk des Revolutionsdichters Oskar Kanehl

Von Horst Blume


Der Amtsgerichtsrat des Berliner Schöffengerichts, der den Theaterregisseur Oskar Kanehl (1888 - 1929) wegen seiner aufrührerischen Verse Anfang der 1920er Jahre abgeurteilt hatte, war empört. Diese freche Hetze gegen Obrigkeit, Kapital und Militär sollte etwas mit Kunst zu tun haben? Seiner Meinung nach müsste sich bei Gedichten schön unpolitisch Herz auf Schmerz reimen.

Kanehl gehörte nach dem Ersten Weltkrieg zu den bekanntesten Antikriegsdichtern mit offensiv antikapitalistischer Ausrichtung. Wolfgang Haug hat bereits 1979 und 1981 Kanehls Gedichtband "Straße frei" im Trotzdem Verlag veröffentlicht. Jetzt hat der ehemalige "Schwarzer Faden"-Redakteur einen Großteil von Kanehls Gedichten und Artikeln aus verschiedenen Zeitschriften zusammengetragen und darüberhinaus Würdigungen von Kanehls WegbegleiterInnen hinzugefügt. Eingeleitet wird das alles durch ein 80seitiges "Vorwort" von Haug, in dem er das Wirken des Dichters historisch, politisch und literarisch einordnet.

Nachdem Kanehl in Berlin studiert hatte, musste er als kritischer Student mehreren Universitäten seine Dissertation über Goethe "anbieten", bis sie letztendlich in Greifswald angenommen wurde. Hier in der Nähe gründete er 1913 die Zeitschrift "Wiecker Bote" (1), in der er seine vom Expressionismus beeinflussten Gedichte veröffentlichte. Schnell wurde der Verleger und Herausgeber der einflussreichen expressionistischen und später rätekommunistischen Zeitschrift "Die Aktion", Franz Pfemfert, auf Kanehl aufmerksam und förderte ihn.

Kanehls Gedichte waren facettenreiche Beobachtungen im Literaturcafé, Vergnügungspark, beim Verkehrsunfall, am Strand oder Bahnhof. Schon 1914 bemerkte er während einer rasanten Autofahrt: "Wir fressen das Land". In dem Gedicht "Auto" setzte er sich kritisch mit dem technischen Fortschritt und der Rücksichtslosigkeit vieler Menschen auseinander.


Anti-Kriegsgedichte

Oskar Kanehl wurde Anfang des Ersten Weltkrieges zur Armee eingezogen. Die "Mordsaison" war eröffnet. Seinem Freund Pfemfert gelang es, "Die Aktion" als Kunst- und Literaturzeitung trotz Repression während des Krieges herauszugeben und einige Gedichte Kanehls in Anthologien zu veröffentlichen. Haug weist darauf hin, dass in den beiden Anfangsjahren des Krieges unzählige chauvinistische Kriegsgedichte entstanden sind. 1917 konnte dem etwas entgegengesetzt werden. Die antimilitaristischen Gedichte im "Aktionsbuch" erschienen in einer Auflage von 10.000 Exemplaren.

1922 wurden Kanehls zahlreiche Gedichte in dem Buch "Die Schande" im Verlag "Die Aktion" veröffentlicht. In ihnen stellte er grundsätzlich fest: "Wir sind vaterlandslos. Nationale Ehre haben wir nicht." Sehr direkt rief er in seinem Gedicht "An alle" dazu auf, die schrecklichen Folgen des Krieges sichtbar zu machen:

"Soldaten! Alle!
Entblößt eure Narben auf den Marktplätzen.
Reißt Eure Wunden auf.
Hebt Eure Krücken, Kriegskrüppel, in den belebtesten Gassen.
Kriegsblinde, Eure leeren Augenhöhlen.
Kriegskranke, zeigt Eure Schwären öffentlich."

Nach dem Ersten Weltkrieg hatten große Teile der Bevölkerung von Kaiserreich und Militarismus die Nase voll. Während dieser revolutionären Aufbruchsstimmung entstand 1919 für eine kurze Zeit eine Doppelherrschaft von Räten und Reichsregierung. Kanehl war als Parteiloser Mitglied im Rätekongress und musste mit ansehen, wie die Sozialdemokratie immer offensichtlicher mit der alten Heeresleitung kooperierte und durch brutale Gewalt diesem Demokratisierungsversuch ein blutiges Ende bereitete.

Haug beschreibt und analysiert in seinem Beitrag, wie in der Folgezeit ab 1920 die linkskommunistischen und räteorientierten Organisationen außerhalb der KPD immer zerstrittener und bedeutungsloser wurden.

Und Kanehl? Er kämpfte gegen diese Entwicklung an und war zusammen mit Pfemfert Mitglied in der strikt antiparlamentarischen "Allgemeinen Arbeiter Union - Einheitsorganisation (AAU-E)", die zu Beginn einige zehntausend Mitglieder hatte.


"Wir sind der Pöbel!"

Mit drastischen Worten grenzte er den "Proleten" vom "Bürger" ab und verwies auf die gegensätzlichen Interessen:

"Der saugt dein Blut. Der isst dein Brot.
Der sperrt dich ein. Der schießt dich tot.
Mit dem wird dir Befreiung nicht.
Steh auf, Prolet! Zum Weltgericht!"

Kanehl brach in seiner Dichtung nach 1918 die Brücken zu nichtrevolutionären politischen Strömungen ab und deutete negative Zuschreibungen wie "Hetzer" oder "Verbrecher" selbstbewusst um: "Wir sind der Pöbel. Gott sei Dank." Haug spricht in diesem Zusammenhang von einer "im Voraus akzeptierten Deklassierung". Kanehl versuchte, in seiner kraftvollen Sprache das Selbstbewusstsein der ArbeiterInnenschaft zu stärken und sie zu Aktionen gegen die AusbeuterInnen anzuspornen.

Streik, Demonstration, Hungerkrawall, Hassgesänge, Barrikadenbau, staatliche Morde und Repression sind wichtige Themen in seinen Gedichten nach 1918 und stellen damit ein getreues Abbild der aufgeheizten politischen Situation im Land dar. Kanehl rief trotz der ungünstigen Kräfteverhältnisse verbissen nach Waffen für die "Roten Soldaten":

"Geheiligt ist unser Krieg.
Gesegnet sind unsere Waffen.
Gerecht sind unsere Kugeln."

Im Gegensatz zu diesen gewagten Zuspitzungen gelingen Kanehl Wortschöpfungen oder -kombinationen, die den Knackpunkt eines Problems zutreffend aufzeigen: Parteiexperimentierer, Parlamentsdiätenschlucker, Geldsackschutzwehr, Ungerechtigkeitsbude, Blutvorwärts, "Sozialisten. Minister-Statisten" ...


Parteikritik

In der Beschreibung seiner politischen Utopie erweist er sich als ein Meister der knappen Form: "Alles ist unser. Ohne Besitz." Mit seiner Kritik an zentralistisch aufgebauten Parteien, wie etwa der KPD, hat er in seinen Gedichten "Völker, hört die Zentrale", "Der Parteiidiot" oder "Antreten zum Parteikommunismus" auch noch für heute Maßstäbe gesetzt. Wie er das Verhalten von ParteifunktionärInnenen gegenüber der Mitgliedschaft aufs Korn nimmt, hat wohl universelle Gültigkeit:

"Ihr müsst nur pünktlich zahlen
auf euern Mitgliedsschein.
Und immer bei den Wahlen
für uns zur Stelle sein."

Kritik anderer SchriftstellerInnen von der linken Konkurrenz an seinem "Rigorismus" musste sich Kanehl öfters anhören. Trotz seiner flammenden Aufrufe und hellsichtigen Analysen der Parteipolitik befand sich die AAU-E ab Anfang der 1920er Jahre im Niedergang.


Im Abseits

Eine Ursache hierfür war sicherlich die Theorie von der "Todeskrise des Kapitalismus", die an eine heute kaum nachvollziehbare illusionistische Revolutionserwartung gekoppelt war. Pfemfert und Kanehl erklärten die Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen innerhalb des Kapitalismus allen Ernstes zur Privatsache und setzten voll auf den Sturz des Systems. Als ab Mitte der 1920er Jahre der ArbeiterInnenbewegung sozialpolitische Zugeständnisse gemacht wurden, wandten sich immer mehr Menschen von der AAU-E ab. Sie hatte sich durch zahllose besserwisserische Auseinandersetzungen mit anderen Linken ins Abseits manövriert und galt als unbelehrbar.

In seiner differenzierten Analyse hält Wolfgang Haug Kanehl einerseits die grundlegend wichtige Erkenntnis zugute, dass "ein Rätesystem nicht unter den Einfluss von Parteien geraten darf, um dem Massenwillen Ausdruck verleihen zu können". Andererseits bescheinigt er ihm eklatante erkenntnistheoretische Defizite und einen ausgesprochenen Unwillen, kritische Fragen zuzulassen und eigene Positionen zu überdenken. Andere Rätekommunisten, wie etwa Otto Rühle, waren selbstkritischer und wurden ausgeschlossen.


Theater

Oskar Kanehl war seit 1921 Dramaturg und Theaterregisseur bei mehreren großen Theaterhäusern in Berlin. Sie gehörten den jüdischen Rotter-Brüdern und spielten leichte und ernste Unterhaltung. Kanehl sah sich einerseits als "Revolutionshetzer", während er andererseits in seinem bürgerlichen Beruf als Dramaturg für Lustspiele und Komödien dem Broterwerb nachging.

Diese auf den ersten Blick merkwürdige Doppelexistenz irritierte auch Jahrzehnte später noch mehrere BeobachterInnen. Kanehl weigerte sich strikt, das Theater revolutionär zu verändern, um damit dem alten System Legitimation zu verschaffen oder es zu "erneuern".

Dabei schuf Kanehl auch anspruchsvolle Inszenierungen von Arthur Schnitzler, Henrik Ibsen, Oskar Wilde und Gerhart Hauptmann. "Seine langjährige Tätigkeit am Theater spricht dafür, dass er seine 'Doppelexistenz' sehr gut ausbalancieren konnte", betont Haug. Obwohl die Vorstellungen sehr gut besucht waren, wurden sie, wie fast alle Aufführungen, im bürgerlichen und linksliberalen Feuilleton heftig kritisiert. Mit antisemitischem Unterton schrieben rechte Blätter von einer "Verlotterung und Verrotterung" des Theaters und wetterten gegen angeblich zu seichte Unterhaltung und "Amerikanisierung" bei den Rotter-Theatern.

Kanehl selbst mischte sich durchaus mit provokativen Mitteln in den Theaterbetrieb ein. So störte er durch penetrantes Flötenspiel (!) aus dem Hinterhalt die Uraufführung des "progressiven" Stückes "Die Exzesse" des von ihm abgelehnten Arnold Bronnen und löste damit einen handfesten Theaterskandal aus. Bronnen biederte sich in späteren Jahren den Nazis an, um sich nach 1955 dem autoritären Staatssozialismus in der DDR zuzuwenden. Kanehl lag also mit seiner frühen unkonventionellen "Kritik" an dem schillernden Bronnen gar nicht so falsch.

Seine politische Erfolglosigkeit und die Umdichtung einiger seiner Gedichte durch die Nazis machten Kanehl sehr zu schaffen. Als er 1929 geschwächt durch einen Malariaanfall von einem Balkon aus dem vierten Stockwerk fiel und starb, blieb für viele seiner Freundinnen und Freunde unklar, ob es ein Suizid war. Dagegen sprach, dass er beim Theater gerade neue Projekte in Angriff nahm und neue politische Vorträge vorbereitete.

Besonders hervorzuheben ist die sorgfältige Edition von Haug, der schon in den 1980er Jahren im Luchterhand Verlag ausgewählte Werke von Kanehls Weggefährten Pfemfert, Ludwig Rubiner und Erich Mühsam herausgegeben hat. In den zum Teil sehr ausführlichen Anmerkungen erfährt man viel über Hintergründe und Entstehungsgeschichte der einzelnen Beiträge, die bis in die heutige Zeit hineinwirken. Beispielsweise wie sich der entstehende Energiekonzern RWE schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg mit Hilfe rechter Politiker in den Kommunen Monopole und Pfründe sicherte. Viele Faksimiles aus rätekommunistischen Zeitschriften, die teilweise von George Grosz illustriert wurden, lockern optisch das Buch auf.

Da Kanehl vor 1933 gestorben ist, konnte er in neuerer Zeit weder als Naziopfer noch als Exilschriftsteller im Rahmen einer Erinnerungskultur gewürdigt werden. Wolfgang Haug hat mit der Herausgabe und kenntnisreichen Kommentierung von Kanehls Schriften den bisher wichtigsten Beitrag dazu geleistet, damit das Werk dieses dynamischen Vertreters der linksradikalen Bewegung nicht in Vergessenheit gerät.


Oskar Kanehl "Kein Mensch hat das Recht, für Ruhe und Ordnung zu sorgen".
Herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Haug. Verlag Edition AV, Lich 2016, 400 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-86841-146-1


Anmerkung:
(1) Seit 1995 erscheint der "Wiecker Bote" in neuer Folge wieder als literarische Zeitschrift:
www.wiecker-bote.com

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Quelle:
graswurzelrevolution, 46. Jahrgang, Nr. 417, März 2017
Beilage libertäre buchseiten, S. 6
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. April 2017

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