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GRASWURZELREVOLUTION/1665: "Jede Gemeinschaft kann sich selbst verwalten"


graswurzelrevolution 419, Mai 2017
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

"Jede Gemeinschaft kann sich selbst verwalten"
Die kurdische Bewegung wendet sich dem anti-autoritären Paradigma zu.
Ein Konferenzbericht

von Mathias Schmidt


Ein internationales Publikum füllt den Hörsaal der Uni Hamburg. An der Wand prangt ein großes Transparent, welches mehrsprachig die Freiheit des seit 1999 in der Türkei inhaftierten FKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalans fordert. Auf der Bühne sitzen die ReferentInnen aufgereiht im Scheinwerferlicht. Ich bin auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern" gelandet. Zum dritten Mal treffen sich über die Ostertage AktivistInnen und AkademikerInnen, um gemeinsam an einem anti-autoritären theoretischen Unterbau für internationale Befreiungsbewegungen zu arbeiten. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die kurdische Bewegung die "kapitalistische Moderne" überwinden und eine "demokratische Moderne" aufbauen kann. Mit anderen Worten: Wie kann sich eine etatistische Gesellschaft in eine altkommunistische Gesellschaft transformieren?


Nach diversen Grußworten eröffnet Zilan Yagmur an diesem Tag den inhaltlichen Teil der Konferenz. Die Politikwissenschaftlerin referiert über die Rolle der Frauen und Jugend in der Revolution. Ihr zufolge habe die kapitalistische Moderne die Gesellschaft in Individuen zerstückelt und damit ihrer Verteidigung beraubt. Am besten bohre man Löcher in den Status Quo, indem man Alternativen aufbaue und damit die Abhängigkeit vom Staat reduziere. Die kurdische Bewegung habe über Jahrzehnte Widerstand leisten können, da sie nicht dem Dogmatismus verfalle. Der dynamischen Jugend falle dabei als treibende Kraft der Revolution eine besondere Rolle zu, da diese traditionell das Bestehende immer in Frage stellen würde. Darüber hinaus sei keine Revolution ohne Emanzipation und Mitarbeit der Frauen möglich.

Darauf folgt David Graebers Beitrag über Bürokratie und Globalisierung. Der Transformationsprozess in Rojava sei ihm zufolge die wichtigste Revolution seit Spanien 1936. Bürokratie sei das Gegenteil von Revolution und das Mittel des Kapitalismus Mehrwert zu produzieren. Globalisierungsgegner seien an sich nicht gegen Globalisierung, sondern Gegner der Bürokratie, da diese immer undemokratisch sei. Ein interessanter Gedankengang, den der Anarchist und Ethnologe Graeber leider nicht zu Ende führt, sondern stattdessen in diverse Anekdoten seines Rojava-Aufenthaltes abdriftet.

Als dritter Referent kommt der Journalist Raul Zibechi zu Wort. Am Beispiel traditioneller lateinamerikanischer Gesellschaften arbeitet er die entscheidenden Eckpfeiler eines funktionierenden nichtbürokratischen Gemeinwesens heraus. Zentraler Erfolgsfaktor sei die Dezentralisierung der Macht, welche durch Rotation der Ämter gewährleistet werde. Nicht das Individuum mit den ausgeprägtesten Fähigkeiten, sondern der beste im Moment verfügbare Repräsentant einer Gruppe fülle ein Amt am besten aus, ohne dabei einen Bürokratieapparat entstehen zu lassen. Zweiter unverzichtbarer Faktor sei das Prinzip KriegerInnen keine Macht zukommen zu lassen, sondern sie nur auf Abruf der zivilen Basis einzusetzen. So könne eine Gesellschaft entstehen, welche durch Geschwisterlichkeit geprägt sei.

Nach so viel Input verlasse ich vorzeitig das Panel, um mich im Foyer mit Songül Karabulut zu treffen. An diesen Tagen ist die Mitarbeiterin des Kurdischen Zentrums für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad sehr gefragt und hat alle Hände voll zu tun. Die konservative Tageszeitung "Die Welt" bezeichnete Frau Karabulut in einem Interview 2014 als "Europas oberste Kurden-Sprecherin". Mit einem Lächeln relativiert sie derartige Superlative: "Die haben keine Ahnung. Das ist eine typische Krankheit der Mainstream-Presse solche Titel zu vergeben." Wir lassen uns abseits des Hauptgeschehens nieder und kommen ins Gespräch.

Mathias Schmidt: Frau Karabulut, als Mitarbeiterin von Civaka Azad haben sie diese Konferenz mitorganisiert. Welches Ziel verfolgen sie damit?

Songül Karabulut: Das Ziel der Konferenz ergibt sich aus einem Bedürfnis. Die Menschheit steckt weltweit in vielen Problemen. Kriege, Armut und Krankheiten sind nur einige davon. Vor diesem Hintergrund bestand das Bedürfnis eine Plattform bereitzustellen, um die Welt zu analysieren, die Gründe der Probleme auszumachen und herauszuarbeiten welche Alternativen es gibt. Unsere Zielsetzung ist es, dass wir immer mehr Leute dazu ermutigen, theoretisch und praktisch Probleme zu lösen und Initiative zu zeigen. Die Lösung für uns ist der Kommunalismus. Diesen Paradigmenwechsel wollen wir bekannter machen. Auf dieser Konferenz sind Menschen aus 26 verschiedenen Ländern. Gemeinsam wollen wir den demokratischen Konföderalismus als Alternative herausarbeiten.

MS: Pünktlich zu den Newroz-Feierlichkeiten hat der Verfassungsschutz in Deutschland die Verwendung der Symbole der YPG/YPJ und anderen kurdischen Organisationen verboten. Wie gestaltet sich aus Ihrer Sicht politischer Aktivismus in Deutschland für die Kurden?

SK: Deutschland ist das Land mit der größten Anzahl von Kurden, welches außerhalb der kurdischen Siedlungsgebiete liegt. Die größte kurdische Exilgruppe ist hier. Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei gehen bis auf ihre Vorgängerstaaten zurück. In der Geschichte hat Deutschland immer die Türkei unterstützt, auch militärisch und im Ersten Weltkrieg. Diese Ausweitung der Symbolverbote ist da nur der letzte Schritt. Das strategische Bündnis dieser beiden Länder führt dazu, dass die Kurden nicht als eigenständige Gruppe anerkannt werden. Deutschland verfolgt keine eigenständige Kurdenpolitik, sondern Nationalstaatsbeziehungen. Das hat zur Folge, dass Kurden für nichtig erklärt werden. Auch innerhalb der migrantischen Community werden Kurden noch einmal isoliert. Dazu kommt, dass wir in gute und schlechte Kurden unterteilt werden. Alle die eine unabhängige Linie verfolgen, gehören zu den Schlechten und werden in Deutschland kriminalisiert.

MS: Was bedeutet eigentlich Kurdisch-Sein, wenn man in Deutschland groß geworden ist und hier Freunde, Familie, Arbeit und Lebensmittelpunkt hat?

SK: Kurdisch-Sein bedeutet für eine Identität einzustehen, die nicht frei ist. Wenn sich ein Kurde auf seine Identität beruft, dann sind das keine nationalen Gefühle. Solange es unfrei ist, wird es ein Thema sein und die Leute sich als Kurden begreifen. Auch wenn man sich persönlich von Politik abgrenzt, holt einen das früher oder später ein.

MS: Morgen wird in der Türkei über das Präsidialsystem abgestimmt. Welche Folgen hätte die Annahme des Referendums für die Kurden? Können Sie etwas zum Hungerstreik in den türkischen Gefängnissen erzählen?

SK: Erdogan hat bewiesen, dass er ein Nein bei der Abstimmung nicht respektieren wird und sein Ein-Mann-System in jedem Fall umsetzt. Dennoch würde ein Ja als Legitimation für das internationale Parkett dienen. Ein Nein würde bedeuten, dass die Maske fällt, daher ist der Ausgang nicht irrelevant. Der Hungerstreik ist dabei eine Form des Widerstandes. Das ist ein Beitrag aus den Gefängnissen unter sehr schweren Bedingungen. Es ist die letzte Möglichkeit den eigenen Körper als Widerstandsmittel einzusetzen. Es hat immer wieder Hungerstreiks gegeben, wir erinnern uns an den Militärputsch 1980. Damals gab es auch Selbstverbrennungen. Als 2003 die F-Typ-Gefängnisse eingeführt wurden, kam es ebenfalls zu Streiks. Viele Gefangene wurden damals getötet. Jetzt, wo der Faschismus finalisiert werden soll, ist es keine Überraschung, dass es einen solchen Streik gibt. Der Krieg der AKP in den kurdischen Städten gibt mir die Annahme, dass der Staat Tote einplant.

MS: Die deutsche Linke hat den demokratischen Aufbau in Rojava überwiegend mit Wohlwollen beobachtet. Was würden Sie sich von der deutschen Linken wünschen?

SK: Bei dem, was in Rojava und Kobanê geschieht, da wäre eine starke Solidarität und Teilhabe zu wünschen. Im Vergleich zu früher ist es schon besser, aber es könnte noch mehr getan werden. Die Linke in Deutschland ist sehr zersplittert, da ist Rojava ein Anknüpfungspunkt sich zu beteiligen. Solidarität darf nicht als Hilfe missverstanden werden, sondern, dass dieser Kampf auch als eigener Kampf begriffen wird. Die Linke könnte sich in Deutschland beispielsweise dahingehend engagieren, dass die politische Betätigung der Kurden nicht weiter kriminalisiert wird.

MS: Im Kampf gegen den IS haben syrische YPG/YPJ- Einheiten mit irakischen Peshmerga kooperiert. Nun kommt es vermehrt zu Zusammenstößen zwischen diesen beiden kurdischen Organisationen. Wie vermitteln Sie das der deutschen Öffentlichkeit? Zählt getrennte Ideologie mehr als gemeinsame Geschichte?

SK: Diese Widersprüche sind keine innerkurdischen Widersprüche. Die KDP agiert nicht als kurdische Kraft. Sie hat den Sengal nicht beschützt und greift wegen der syrisch-kurdischen Selbstorganisation an. Das ist eindeutig gegen das kurdische Interesse. Die KDP hat eine innige Beziehung zur Türkei. Es wird ein Stellvertreterkrieg durch sie geführt. Das kann nicht als innerkurdischer Konflikt dargestellt werden.

MS: Was ist der Stand der Dinge bezüglich der Befreiung der Frau in der kurdischen Gesellschaft?

SK: Theoretisch und ideologisch sind wir in der Frage der Frauenbefreiung einzigartig. Das darf man aber nicht damit verwechseln, dass diese Befreiung bereits umgesetzt sei. In den letzten 20, 30 Jahren ist viel passiert, diese Frage ist ins Zentrum gerückt. Es reicht nicht anzuprangern, sondern es zählt die Veränderung und die treiben wir voran. Innerhalb der Strukturen liegt viel Entscheidungsmacht bei den Frauen. Viele Europäer glauben bereits, dass die Frauenfrage erledigt sei, im Gegensatz dazu haben viele junge Frauen zunehmend Interesse an dem Thema. Ein Großteil der Leute, die mit uns in Kontakt kommen, sind Frauen.

MS: Vielen Dank!


Nachmittags besuche ich den Workshop "Solidarität mit Rojava". Dieser wird von Saliha Muslim, Co-Vorsitzender der syrisch-kurdischen PYD, angeboten. Herr Muslim sitzt gefasst im Hörsaal und strahlt eine innere Ruhe aus. In zehn Minuten handelt er souverän die letzten Jahrzehnte der Aufstände, Kriege und Revolutionen des Nahen Ostens ab, um abschließend den Status Quo Rojavas zu skizzieren. Die Errungenschaften der Revolution seien die Selbstverwaltung mit "Graswurzeldemokratie", das Gesundheitssystem, welches allen Menschen offen stehe, und die Gleichheit zwischen allen ethnischen und religiösen Gruppen. So etwas habe es noch nie in einem anderen politischen System gegeben. Schwierigkeiten gebe es derzeit mit dem wirtschaftlichen Embargo, der geschlossenen Grenze der Türkei sowie der weitgehenden Zerstörung der Infrastruktur. "Jetzt könnt ihr fragen, was ihr schon immer mal über Rojava wissen wolltet", beendet Muslim sein Referat.

Eine junge Frau möchte wissen, welche Formen der Solidarität sinnvoll seien und welche Projekte funktionieren würden. "Wir haben internationale Büros in Stockholm, Paris und Moskau. Wenn ihr einen Plan habt oder etwas schicken möchtet, dann wendet euch an diese Stellen", so Muslim. Dort könne man sich absprechen und gemeinsam handeln. "Die Anlaufstellen der NGOs in der Türkei werden vom Geheimdienst überwacht. Begebt euch nicht unnötig in Gefahr." Als eine gelungene Solidaritätsaktion hebt Muslim ein Krankenhausprojekt hervor. "So etwas ist wichtig und erfolgreich."

Ein anderer Teilnehmer erkundigt sich, ob das Gesellschaftsmodell von Rojava für ganz Syrien umsetzbar sei. "Natürlich kann unser System nicht eins zu eins überall umgesetzt werden. Trotzdem taugt es für ganz Syrien und darüber hinaus. Jede Gemeinschaft kann sich selbst verwalten", erläutert Muslim. Die Bevölkerung des Sindschar-Gebirges gehöre nicht zu Rojava, doch trotzdem habe man sie gegen den IS verteidigt. Nun seien sie befreit und könnten ihre eigene Selbstverwaltung aufbauen.

Die Fragestunde beendet Muslim mit dem Fazit, dass "der Erfolg Rojavas auch der Erfolg all der Menschen weltweit ist, welche diese Werte teilen. Kommt nach Rojava, seht euch den Stand der Dinge an und berichtet darüber in euren Communities." Darauf folgen einige Selfies mit dem Co-Vorsitzenden und angeregte Debatten zwischen den Teilnehmerinnen. Ich schlendere noch etwas an den Büchertischen entlang und mache mich auf den Heimweg - und berichte mit diesem Artikel "meiner" Community.


Die Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern" fand vom 14. bis 16. April in Hamburg statt. Medienpartner war u.a. die GWR.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 46. Jahrgang, Nr. 419, Mai 2017, S. 5
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2017

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