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GRASWURZELREVOLUTION/1791: Stichworte zum Postanarchismus - Klassen


graswurzelrevolution 431, September 2018
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Klassen. Gegen Grundbuchämter und Porträts
Stichworte zum Postanarchismus 6

von Oskar Lubin


Als wir in den späten 1980er Jahren zum Anarchismus fanden, war das im Wesentlichen schon ein Neoanarchismus. Also einer, in dem die Klassenfrage eigentlich keine Rolle mehr spielte.


Irgendwann um die "1968er Jahre" herum hatten sich die neu aufgekommenen anarchistischen Strömungen an die Kritische Theorie angelehnt und die Arbeiter*innenklasse als "integriert" betrachtet. Ihre Farbfernseher, Ford Fiestas und die Rente waren ihnen wichtiger als der Klassenkampf. Wir hatten zwar einen Heidenrespekt vor den noch lebendigen Kämpferinnen und Kämpfern aus der Spanischen Revolution, die sich nach wie vor bruchlos positiv aufs Proletariat bezogen, aus dem sie kamen. Aber mit der Realität der Arbeiter*innen, die wir kannten, hatte das nichts zu tun. Mit ihren Schnauzbärten und Vorgärten, beide gepflegt, gehörten sie zum System wie das Herrengedeck zur Eckkneipe. Wir skandierten auf Demos "Die totale Härte: Oberlippenbärte" und meinten letztlich nicht nur die Bullen, die uns begleiteten.

Neben der analytischen Anlehnung an Adorno und vor allem an Herbert Marcuse sahen wir unsere Ignoranz gegenüber den stattfindenden Klassenkämpfen auch politisch gerechtfertigt. Uns Anarchisten, lasen wir bei Gustav Landauer, "ist jeder, welcher Gesellschaftsklasse er auch angehören mag, als Genosse recht",(1) er (und sie) muss nur die Haltungen teilen und nicht die Position im Produktionsverhältnis. Warum also allein aufs Proletariat setzen? Sich nach wie vor hauptsächlich auf die Arbeiter*innen zu beziehen und politische Hoffnungen in sie zu setzen, schien uns so unzeitgemäß wie das Layout von Broschüren der DKP.

Dass die soziale Ungleichheit wuchs, nahmen wir zwar zur Kenntnis. Aber anstatt die SPD nach links zu drängen, stimmten die Arbeiter*innen 1993 mehrheitlich für die massive Einschränkung des Asylrechts und Helmut Kohl wurde ständig wiedergewählt. Von heute aus betrachtet, muss die Selbstkritik unserer früheren Haltungen gegenüber aber dennoch ambivalent ausfallen.

Mit beidem, der analytischen Integrationsthese und der politischen Diversitätsthese ("uns ist als Genoss*in jede/r recht"), lagen wir einerseits richtig.

Die entscheidenden emanzipatorischen Kämpfe fanden auf dem Terrain der Ökologie (Anti-Atom) und in Bezug auf Frauenrechte statt, sie wurden vor Migrationshintergrund um Bleiberecht und Staatsbürgerschaft geführt. Auch wenn um höhere Löhne und weniger Arbeit gekämpft wurde, in der zentralen Arena fand das nicht statt, weder im Hinblick auf weitreichende Emanzipationsvorstellungen noch in Bezug auf soziale Veränderungen insgesamt. Je differenzierter eine Gesellschaft, desto vielfältiger auch die Positionen, von denen aus gekämpft werden kann und wird. Von einer "working class", die eine "dezentralisierte Form popularer Macht"(2) entwickelt, wie sie der Anarchist Michael Schmidt noch (oder wieder) 2013 sieht, kann überhaupt keine Rede sein. Gegen solche, im Anarchismus wie der Linken insgesamt verbreitete, arbeitertümelnde Positionen sind Neo- und Postanarchismus gute Korrektive.

Andererseits lagen wir mit beidem aber auch kolossal daneben. Die Annahme, die Arbeiter*innen hätten sich selbst integriert, erwies sich als viel zu verallgemeinernd. Wenn auch das Gros der Fabrikarbeiter*innen nicht ständig auf Demos auftaucht, so sind doch durchaus andere Formen denkbar und angewandt worden, in denen Widerstand oder zumindest ein Nichteinverstandensein zum Ausdruck kommt. Verallgemeinernd aber auch im Denken darüber, wer und was die Arbeiter*innen sind. Wir dachten da bloß in Industriegesellschaftskategorien. Die migrantische Putzhilfe, den Call Center-Angestellten, all die Inhaber*innen kurzzeitiger und prekärer Jobs hatten wir nicht im Blick. Auch sie werden über ihre Arbeit ausgebeutet. Und nicht nur das.

Sie werden auch diskriminiert. Mit der Unsichtbarkeit von Klassen gingen wir auch - fälschlicherweise - davon aus, Klasse spiele in den Herrschaftsverhältnissen kaum eine Rolle mehr. Nur weil man sie nicht mehr sieht und sie auch objektiv nicht mehr so einheitlich existieren, heißt das nicht, dass die Klassen nicht da sind und wirken. Erst Pierre Bourdieu und die Klassizismus-Debatte machten uns darauf aufmerksam: Klassenherrschaft existiert nicht nur über die Wertschöpfung. Sie reproduziert sich im Konsum und in Gesten, im Geschmack.

Der spanische Schriftsteller Rafael Chirbes lässt in seinem 2003 auf Spanisch erschienen Roman "Alte Freunde" einen, der Protagonisten über die "zähe Resistenz der Klassenschranken" sinnieren. "Uns Anarchisten und Kommunisten war klar: Wollte man Gleichheit wenigstens für einen Augenblick erreichen, musste man zuerst die Grundbuchämter, die Archive verbrennen. Wollte ich noch einmal eine egalitäre Welt schaffen, ich würde außerdem noch die Porträts verbieten, nicht nur weil die Kleidung auf den Bildern die Klasse verrät, sondern auch, weil sich in Haltung, Gebärden sowie im Blick eine besondere Geschmeidigkeit ausdrückt, die nur eine über Generationen wiederholte Klassengymnastik hervorbringt."(3)

Klassenherkunft ist langlebig. Sie hat sich in die Körper eingeschrieben und in ihnen abgelagert. Die Lebenserwartung von Armen ist wesentlich niedriger als die von Reichen. Diese Ablagerungen werden unter der neoliberalen Hegemonie wieder sichtbarer: Die Schnäuzer sind zwar weg, aber darunter treten die schlechten Zähne und die grobporige Haut als Verräterinnen des Herkunftsmilieus hervor. Dass Menschen deswegen benachteiligt werden, ist so offensichtlich wie skandalös. Jede anti-herrschaftliche Positionierung muss auch daran ansetzen. Der Kampf gegen die Diskriminierung schließt den Kampf gegen die Ausbeutung keinesfalls aus, er ergänzt ihn.


Anmerkungen:

1) Gustav Landauer: "Der Anarchismus in Deutschland" [1893]. In: Ders.: Auch die Vergangenheit ist Zukunft. Essays zum Anarchismus. Frankfurt am Main: Sammlung Luchterhand 1989, S. 45-54, hier. S. 52

2) Michael Schmidt: Cartography of Revolutionary Anarchism. Oakland/Edinburgh/Baltimore: AK Press 2013, S. 131 (Übers. O.L.).

3) Rafael Chirbes: Alte Freunde, München: Heyne Verlag 2006, S. 138f.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 47. Jahrgang, Nr. 431, September 2018, S. 23
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2018

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