Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GRUNDRISSE/023: zeitschrift für linke theorie & debatte, herbst 2009


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 31, herbst 2009


INHALT

Editorial

Eva Kaufmann:
Millionen und Abermillionen potentieller ALICES
Eine Fortführung von 1968?!

Michael Wolf:
Die Organisierung des sozialen Krieges:
zur staatspolitischen Dimension der Hartz-IV-Reform

Diedrich Diederichsen:
Kreative Arbeit

Karl Reitter:
Bemerkungen zum Buch "Der neue Geist des Kapitalismus"
von Luc Boltanski und Ôve Chiapello

A.M. [agora]:
Die neoliberale Repression Namens Multikulturalismus
Zizek's Versuch zur Wahrheit der Herrschaft

Alfred Müller, Günter Buchholz:
Ein Vergleich von Neoklassik, Keynesianismus und Marxismus



BUCHBESPRECHUNGEN

The Invisible Committee: The Coming Insurrection.
Buchbesprechung: Fuzi

Britta Grell: Workfare in den USA
Das Elend der US-amerikanischen Sozialhilfepolitik
Buchbesprechung: Markus Griesser

Stefan Nowotny/Gerald Raunig: Instituierende Praxen -
Bruchlinien der Institutionskritik
Buchbesprechung: Elisabeth Steger

Jörg Nowak: Geschlechterpolitik und Klassenherrschaft.
Eine Integration marxistischer und feministischer Staatstheorien.
Buchbesprechung: Markus Griesser

Raute

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

wie Ihr sicher schon bemerkt habt, haben wir uns entschlossen das von Lisa Bolyos entworfene grafische Konzept unserer Türkei/Kurdistan-Sondernummer gleich weiter zu verwenden. Ein Relaunch also! Apropos Sondernummer: Die stieß auf große Resonanz, was uns natürlich sehr freut. Auch die Heftpräsentation war überdurchschnittlich gut besucht und inhaltlich spannend - solche Diskussionen wünschen wir uns öfters! Entschuldigen müssen wir uns noch wegen eines Fehlers in der Nr. 30: Der Artikel von Pelin Tan: "Istanbul: Widerstand im Stadtteil und gegenkultureller Raum" ist bereits in "dérive Zeitschrift für Stadtforschung 33" von Oktober 2008 auf Englisch erschienen und wurde von uns übersetzt. Einige Restexemplare sind übrigens noch erhältlich, zögert also nicht mit (Nach)Bestellungen. Wir jedenfalls planen ab sofort jede zweite grundrisse-Ausgabe als Schwerpunktnummer herauszubringen. Und hier ist auch schon der Call for Papers/Ideas: Die Nummer 32 wird sich nämlich mit den Zusammenhängen von Revolten/Aufständen und der globalen Krise auseinandersetzen. Zweckdienliche Hinweise bitte an redaktion@grundrisse.net!

Im aktuellen Heft findet ihr einen Beitrag von Eva Kaufmann zum sagenumwobenen Radio Alice, welches eine zentrale Rolle in der Kommunikation der Bewegungen in Italien 1977 spielte, eine Analyse der deutschen "Sozialpolitik" als soziale Kriegsführung von Michael Wolf sowie eine von A.M. [agora] verfasste Diskussion von Slavoj Zizeks Philosophie, ausgehend von seinem "Plädoyer für die Intoleranz". Alfred Müller und Günter Buchholz vergleichen die theoretischen Ansätze von Neoklassik, Keynesianismus und Marxscher Kritik der politischen Ökonomie und liefern damit eine anschauliche Einführung in die zentralen Elemente ökonomischer Theoriebildung, Karl Reitter wiederum setzt sich ausführlich und kritisch mit dem jetzt bereits als Klassiker gehandelten "Der neue Geist des Kapitalismus" von Luc Boltanski und Ôve Chiapello auseinander. Last not least freuen wir uns, euch in dieser Nummer einen Essay von Diedrich Diederichsen über kreative Arbeit präsentieren zu dürfen. Der Rezensionsteil behandelt die berühmt-berüchtigte "Coming Insurrection", "Instituierende Praxen", herausgegeben von Stefan Nowotny und Gerald Raunig, "Geschlechterpolitik und Klassenherrschaft" von Jörg Nowak sowie Britta Grells "Workfare in den USA".

Und schon sind wir bei den Terminen: Montag, den 5. Oktober 2009 stellen wir ab 19 Uhr im Amerlinghaus (1070 Wien, Stiftgasse 8) diese grundrisse-Ausgabe der interessierten Öffentlichkeit vor. Im Rahmen eines kleinen Umtrunks inklusive noch kleinerem Buffet gibt es die Möglichkeit mit der grundrisse-Redaktion zu plaudern, Bücher und Zeitschrift(en) zu erstehen und außerdem einen Ausblick auf die kommenden Aktivitäten der grundrisse - insbesondere auf unsere Sondernummer 32. Vielleicht ist sogar ein kleiner Film drin, Hippie-Musik sowieso ...

In nächster Zeit planen wir (zumindest) zwei Veranstaltungen, über die wir euch hier schon mal vorab informieren möchten: Einerseits soll das demnächst erscheinende Buch mit dem prägnanten Titel "Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts" (Assoziation a), herausgegeben von Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth vorgestellt und diskutiert werden, zum anderen planen wir eine Veranstaltung zu dem ebenfalls in Kürze erscheinenden "Krise & Ereignis. Den Kommunismus als wirkliche Bewegung denken" (VSA-Verlag) von Thomas Seibert. Nähere Infos findet ihr in Bälde unter www.grundrisse.net sowie über unseren Mailverteiler, für den Ihr euch ebendort anmelden könnt.

Zuletzt noch der Wermutstropfen: Vor allem aufgrund der horrenden Posttarife sind die grundrisse ab sofort um 50 Cent teurer. Die Einzelnummer kostet also EUR 5,30, das 4-Nummern-Abo 20 Euro, für 8 Ausgaben löhnt Ihr 35; immer inklusive Porto, weltweit! Die ersten drei NeuabonnentInnen kriegen dafür aber die wunderbare Türkei-/Kurdistan-Ausgabe als Draufgabe!

Anregende Lektüre und einen heißen Herbst wünscht die
grundrisse-Redaktion

Raute

Eva Kaufmann

Millionen und Abermillionen potentieller ALICES
Eine Fortführung von 1968?!

Einleitung

"Der Teufel ist auf die Erde zurückgekehrt, in vielfältigen Erscheinungen. Der Teufel ist Alice, ist der totale Angriff auf den Staat der Unterdrückung, ist unser Lächeln, ist unser Geist, der denkt, der Teufel ist unser Körper, immer schöner und freier, fähig zu lieben. Heute ist der Teufel hier, und es ist sinnlos, ihm den Hof zu machen, er hat tausend Gesichter, verändert ständig den Ausdruck, wühlt sich durch die Städte, die Stadtteile, die Fabriken, die Schulen, wie eine wilde Katze." [1]

Den zentralen Text für diesen Artikel bildet ein Vorwort von Félix Guattari für das "Kollektiv A/traverso: Alice ist der Teufel" mit dem Titel "Millionen und Abermillionen potentieller Alices". Bei diesem 1977 erschienen Buch handelt es sich um eine Sammlung von Texten aus der gleichnamigen Zeitschrift und aus Texten der im freien Radio ALICE übertragenen Sendungen.

Des Weiteren habe ich für die theoretischen Ausführungen einen älteren Text von Guattari mit dem Titel "Maschine und Struktur" herangezogen, um seinen Maschinenbegriff einzubeziehen und näher zu erläutern und versuche bei diesen Überlegungen, über die Rolle der Technik, in diesem Fall der Übertragungstechnik in seinem Sinne nachzudenken. Dies bezieht sich sowohl auf die Aktivitäten der 1970er Jahre, es soll damit aber auch ein Bezug zur gegenwärtigen Situation der Medien hergestellt werden.

Darüber hinaus habe ich eine umfangreiche Internet-Recherche durchgeführt und sehr viel Material über den "Mythos" Radio ALICE gefunden. Interessant war die Nutzung dieses Mediums auch im Hinblick auf Entwicklungen und Tendenzen, die sich in den letzten 30 Jahren, also nach Radio ALICE, ergeben haben und wie sich diese nun in Bezug auf die damaligen Forderungen und die Nutzung der Technologie Radio durch die "Autonomen" darstellen. Mittels des Internet und speziell mittels zum Teil lebhaft und kontroversiell diskutierter Plattformen wie Youtube lebt also Radio ALICE immer noch weiter.

Radio ALICE

"Drohende Gefahr. Vorsicht, die kleinste Fluchtlinie kann alles zur Explosion bringen. Spezielle Überwachung der kleinen perversen Gruppen, die mit Wörtern werfen, mit Sätzen, mit Verhaltensweisen aufwarten, die ganze Bevölkerungsgruppen anstecken könnten. Hauptsächlich ist jeder zu neutralisieren, der Zugang zu einem Sender hat. Überall Ghettos - möglichst selbstverwaltete, überall Mikro-Gulags, bis in die Familie hinein, in die Zweier-Beziehungen, sogar in die Köpfe, um jedes Individuum zu kontrollieren - Tag und Nacht." [2]

Damit beginnt Guattari sein Vorwort zu der Textsammlung "Kollektiv A/traverso: Alice ist der Teufel" und drückt damit in einem Absatz die drohende Gefahr aus, die Mitte der 1970er Jahre für die Strukturen und den Machtapparat von unabhängigen, sich selbst auch als Autonome bezeichnende Aktivist_innengruppen und in diesem konkreten Fall Betreiber_innen eines der vielen neu entstandenen freien Radios ausgegangen ist, bzw. als solche empfunden wurde.

"Lasst hundert Blumen blühen; lasst hundert Radios senden!" [3]

Erstmals wird das Staatsmonopol für das Radio in Italien entmachtet. Nach einer Zeit des Faschismus und Nationalsozialismus, in der Radio mehr als Manipulationsinstrument und Propagandamaschine diente denn als Kommunikationsmittel, fällt diese Dezentralisierung und - um ein modernes, wenn auch nicht ganz passendes Wort zu verwenden - Privatisierung (bzw. mit dem heute ebenfalls problematischen Begriff der Liberalisierung) ausgedrückt in eine Epoche, in der Italien sich noch im Aufruhr befindet. 1968 ist noch nicht vorüber. Die italienischen Linken sind zwar in einer Krise, das Vertrauen in ein Erreichen der Ziele durch die PCI (Partito Comunista Italiano) ist erschüttert. Bis dahin glaubte man, dass die PCI und die Gewerkschaften, die schon immer eine mächtige Position in Italien inne hatten, das Volk besser leiten könnten. So sagte man zum Beispiel: "In Cile i carri armati, in Italia i sindicati" ("In Chile die Panzer, in Italien die Gewerkschaften"). [4] Tatsächlich suchen militante Linke aber nach neuen Wegen und finden diese in neuen Maschinen.

Bereits in einem Flugblatt des Radios aus dem Jahr 1974, also zwei Jahre vor Beginn der Übertragungen, heißt es: "Informare non basta. Ki emette - ki riceve?" ("Information genügt nicht. Wer sendet - wer empfängt?") [5] Es geht also darum, nicht mehr bloß zu informieren, sondern vielmehr um die Inhalte, die transportiert werden sollten. Und in weiterer Folge darum, offen zu lassen bzw. in Bewegung zu halten, wer sendet (ki emette) und wer empfängt (ki riceve). Überhaupt sieht sich Radio ALICE als Sender in Bewegung, Movimento wird zu einem zentralen und wichtigen Begriff im neuen italienischen Vokabular.

Nun aber kurz zur Chronologie und den Inhalten von Radio Alice und einem Versuch, darzulegen, worin die potentielle Gefahr für die Machthaber bestand und wie sich der Mythos rund um dieses Radio erklären lässt.

Radio Alice entsteht in einem Umfeld der "Indiani metropolitani" der so genannten Stadtindianer in Rom und Bologna, die sich für die Probleme der Jugendlichen stark machen. Es waren einerseits die hohe Jugendarbeitslosigkeit und andererseits verschärfte Studienordnungen, die die Leute auf die Barrikaden steigen ließen. In Kriegsbemalung wandten sie sich auf ihren Zügen durch die Straßen gegen die katholisch-kommunistische Regierungskoalition, die sie für die Probleme verantwortlich machten. Gleichzeitig lehnten sie sich damit aber auch gegen die Alt-Marxist_innen auf, deren linke Politik sie nicht als zeitgemäß und vor allem nicht als befugte Vertretung ihrer Belange ansahen.

"Historisch muss man ausgehen von der Krise der italienischen Linksradikalen nach 1972, insbesondere von einer der lebendigsten Gruppen sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Ebene: "Potere Operaio". Diese ganze Strömung der extremen Linken zerfließt also zur Zeit dieser Krise, hat aber Momente der Revolte in den verschiedenen Autonomien belebt. (Das Italienische gibt den Namen "Autonomie" den verschiedenen Bewegungen, z.B. der der Frauen, Jugendlichen, Homosexuellen etc.) Es entstehen dann politisch-kulturelle Zirkel wie in Bologna der "Gatto Selvaggio" (Wild Cat), aus dem 1974 die Initiative von Radio ALICE entsprang." [6]

Parallel zu diesen Bewegungen wird - wie bereits erwähnt - das staatliche Radiomonopol als verfassungswidrig aufgehoben, und es entstehen neue freie Radiostationen. So auch Radio ALICE. Im Jänner 1976 beginnen die ersten Probesendungen von Radio ALICE. Die allererste Übertragung wird mit dem Lied "White Rabbit" von Jefferson Airplane begonnen, einem Song, der das Motiv von "Alice im Wunderland" und der entscheidenden Begegnung mit dem weißen Kaninchen eine psychedelische Konnotation ganz im Stile der Hippie-Bewegung der späten 1960er und frühen 1970er Jahre gibt.

Auch bei der ersten regulären Sendung am 9. Februar 1976 beginnt das Programm, das täglich von 7.00 Uhr früh bis Mitternacht ausgestrahlt wird und von einem Kollektiv von ca. 40-50 Personen gemacht wird, die sowohl für Technik als auch Redaktion verantwortlich zeichnen und allesamt ohne Bezahlung arbeiten, in Anlehnung an Motive der 68er Bewegung: Indische Musik und eine sanfte Frauenstimme, die die Hörer dazu auffordert, im Bett zu bleiben: "Eine Einladung an euch, heute morgen nicht aufzustehen, mit jemandem im Bett zu bleiben, euch Musikinstrumente zu bauen und ...". [7]

Wie Clemens Gruber in seinem Buch "Die zerstreute Avantgarde" weiter schreibt, lag das Unerhörte dieser beiden unterschiedlichen Einstiege und vor allem der verführerisch vorgetragenen Ansage nicht nur in der für damalige Zeiten gewagten Aufforderung (also der Aufforderung sich nicht in die Rollen der "Kinder, Frauen, Ehefrauen, Väter, Arbeiter, Studenten" pressen zu lassen, nicht "brav zu sein, diszipliniert, gehorsam, arbeitsam..." [8]) sondern vielmehr darin, dass eine wichtige Grenze überschritten wurde: "vom kritischen Konsum des schon Gegebenen wie des schon Gesagten zur kritischen Produktion". [9] Also wieder: "Ki emette? Ki riceve?"...

In weiterer Folge wird dieses Überschreiten von Grenzen in vielfältiger Weise immer wieder ausprobiert. Einerseits entsteht das Programm oft spontan, außer einer fixen Nachrichtensendung zu Mittag gibt es keinen feststehenden Programmablauf oder vorgefertigte Sendungen, keine fixen Sprecher_innen und auch keine Werbung. Verschiedene so genannte "autonome" Gruppen nutzen Radio ALICE als Plattform für ihre Anliegen und dies in unterschiedlichsten Formen. Diese waren zu einem großen Teil eher traditionell, würde heute gesagt, d.h. es gab Gespräche, Texte, Gedichte, dazwischen Musik, dann wieder das Verlesen von Manifesten und Rezensionen sowie Nachrichten.

Der eigentliche Skandal lag aber in den verbreiteten Inhalten, so wurde z.B. nach dem Motto Informazioni false producono eventi veri" mit der Methode der ironischen Falsifikation gearbeitet, das heißt, es wurden falsche Meldungen so weiter gegeben, als ob diese Wirklichkeit wären. Beispielsweise wurde ein täuschend echtes Ankündigungsblatt (so genannte Locandine) des "Corriere della Sera" lanciert, das über die Landung von Außerirdischen berichtete, eine verblüffende Geschichte. Vor allem ist erstaunlich, dass sie auch knapp 40 Jahre nach dem berühmten "War of the Worlds"[10] noch immer funktionierte. Es gab so viel Aufsehen und Verwirrung um die Geschichte mit den Außerirdischen, dass sogar die New York Times - wie man sagt schadenfroh - darüber berichtete. Ein Beispiel für eine solche Falsifikation behauptet, dass im Jahr 1976 4000 Arbeiter_innen während ihrer Arbeit umgebracht worden seien, was ebenfalls zu kurzfristiger Verwirrung und Empörung unter der Bevölkerung führte.

Auf der anderen Seite wurden auch immer wieder die Machthaber quasi vorgeführt, so als z.B. Franco Berardi, genannt Bifo und einer der wichtigsten Akteure und Mitbegründer von Radio ALICE, den damaligen italienischen Ministerpräsidenten Andreotti live während einer Sendung angerufen hat. Er gab sich als Gianni Agnelli, Präsident und Besitzer der FIAT-Werke, aus und bat Andreotti um Unterstützung gegen die aufsässigen Arbeiter, welche er auch prompt zugesagt bekam.

Die dritte radikale Änderung zum bisher Bekannten war die Praktik des Radiohörens. Frei nach dem Motto "Ki emette Ki riceve?" konnte jeder Hörer jederzeit im Studio des Senders anrufen und war sofort ohne Filter auf Sendung. Damit realisierte Radio ALICE auf seine Art, was Bertolt Brecht bereits in seiner Radiotheorie gefordert hatte, nämlich den Rundfunk in einen Kommunikationsapparat öffentlichen Lebens zu verwandeln. Ein weiteres wichtiges Schlagwort war auch das der "Controinformazione", also der Gegeninformation, ein Begriff der sich in Italien bis heute gehalten hat und als Schlagwort auch im Bereich der Globalisierungsgegner_innen und ähnlichen Gruppierungen für das "Richtig-Stellen" falschen Darstellungen von Ereignissen seitens der Massenmedien gilt.

Radio ALICE wird von Seiten der Behörden und der Politik verunglimpft und auch polizeilich verfolgt. So wird Bifo 1976 wegen "moralischer Anstiftung zur Revolte" verhaftet. Mit harten Worten und auch Bildern geht man gegen die linke Bewegung vor. Dagegen wehrt sich ALICE und legt der PCI Worte in den Mund, um damit ihre Auffassung zu unterstreichen, dass diese nicht die legitimierte Vertreterin der Arbeiterklasse sei:

"ALICE, Hurensöhne. All diese kleinbürgerlichen Schweine, all diese Fixer, diese Schwulen, diese Perversen, diese Penner, die das Herz unserer schönen Emilia beschmutzen wollen. Aber sie werden es nicht schaffen. Weil hier in 30 Jahren jeder ein hohes Klassenbewusstsein erlangt hat. Hier haben sogar kleine Geschäftsleute ihr Parteibuch. Unsere arbeitsame Jugend wird sich nicht in eine teuflische Maschinerie einfangen lassen. Das Volk wird solch ein Abenteuer ablehnen. Und man klage die PCI nicht der antidemokratischen Praktiken an! Überall in den Fabriken, in den Stadtteilen, in den Schulen, haben wir die Entstehung von Volkskomitees und Delegiertenräten begünstigt. Und gerade sie sind heute dabei, die besten Garanten der Ordnung zu werden. [...] Glaubt man denn, dass die italienische kommunistische Partei, die Partei der Arbeiter und des ganzen Volkes, sich noch lange von einer Handvoll Exaltierter einschüchtern lässt? Von verantwortungslosen Provokateuren, die sich selbst als Stadtindianer bezeichnen? Unsere einzige Schwäche ist dann unsere langwährende Geduld gewesen. Die Legitimität der Staatsmacht ruht heute auf uns. Und in letzter Instanz ist es Sache der Partei zu beurteilen, was für die Massen gut oder schlecht ist." [11]

Trotz all dieser Widerstände funktioniert das Projekt Radio ALICE etwas mehr als ein Jahr lang. Genauer gesagt bis zum 11. März 1977, jenem Tag an dem der Student Francesco Lorusso von einem Carabiniere im Univiertel von Bologna erschossen wird. Die Nachricht von seinem Tod - diesmal allerdings keine falsifizierte - wird über Radio ALICE ausgesendet und verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Es kommt zu Krawallen von Studierenden und Kämpfen mit der Polizei. Radio ALICE bleibt immer live auf Sendung und berichtet über alle Vorkommnisse.

"Aber Zangheri, der kommunistische Bürgermeister von Bologna, hat die Repressionskräfte in ihrer gewalttätigen Form gerufen. Er hat gepanzerte Fahrzeuge in die Stadt gelassen, hat persönlich die Polizei zum Kampf mit den Worten aufgerufen: "Geht, es ist Krieg, diese Leute da müssen eliminiert werden, sie haben sich selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen...". Wir waren 15.000 auf der Straße. Nie zuvor hatte man so etwas in Bologna. Wir waren 15.000 auf der Straße. Nie zuvor hatte man so etwas in Bologna gesehen! ALICE hielt uns jederzeit über alles, was passierte auf dem Laufenden." [12]

Auf Befehl des Bürgermeister wird Radio ALICE schließlich einen Tag nach der Ermordung des Studenten eliminiert, in dem das Studio von der Polizei gestürmt und gewaltsam geräumt wird. Auch diese letzten Szenen werden noch live vom Sender übertragen. Die Begründung für diese Aktion lautet "Aufstachelung zum Klassenkampf". Franco Berardi flieht nach Paris, wo er während dieser Zeit auch Kontakt zu Félix Guattari und Michel Foucault hat. Bei einer Rückkehr nach Italien im Jahr 1978 wird er verhaftet und muss schließlich für seine Aktivitäten bei Radio ALICE ins Gefängnis.

1976 und 30 Jahre später...

Für die linken Bewegungen zeigt sich durch solche Provokationen, dass die Gefahr, mit der die Kommunisten immer drohen, nämlich die Gefahr des Faschismus, in den Hintergrund rückt. Die Faschisten werden nicht mehr ernst genommen, man nennt sie "eine Handvoll Clowns". Die viel realere Gefahr droht für die Aktivisten sozusagen aus der eigenen Ecke, "aus der Verbindung zwischen kapitalistischem Staatsapparat und bürokratischen Apparaten der PCI und der Gewerkschaften", die sie "Agenten der embryonären Form einer neuen Art von Faschismus" nennen. Die Krise der 1970er Jahre will von dieser Bewegung nicht beseitigt werden, vielmehr sieht sie darin einen Ausdruck und eine Vorankündigung dessen, dass eine ganze Welt zusammenbrechen wird. Ganz so dramatisch ist es bis heute (noch) nicht, aber tatsächlich sehen wir heute im Zuge der Globalisierung bereits etwas, was Guattari schon 1977 in seinem Text geschrieben hat: "Morgen werden andere Bevölkerungsschichten, andere Länder, der Reihe nach, auch diese Rolle spielen." Um dem entgegenzuwirken wird dem Versuch, ALICE zu liquidieren noch widerstanden, die Arbeit der "revolutionären Deterritorialisierung" wird unermüdlich fortgesetzt. [13] Und so heißt es auch: "ALICE. Radio in Fluchtlinie." [14] Bei Gilles Deleuze bezeichnet diese Fluchtlinie das "UND", also die Vielheit und Mannigfaltigkeit, eine Zerstörung von Identitäten. "Das UND ist weder das eine noch das andere, es ist immer zwischen den beiden, es ist eine Grenze, eine Flucht-oder Stromlinie, nur sieht man sie nicht, weil sie das Unscheinbarste ist. Und doch spielen sich die Dinge, die Werden auf dieser Fluchtlinie ab, zeichnen sich hier die Revolutionen ab." [15]

Auch wenn Franco Bifo Berardi bis heute unermüdlich in diesem Sinne agiert, Begründer des ersten Street-TV in Italien ist und noch immer an Protesten teilnimmt (so zuletzt 2006 ebenfalls in Bologna) ist es aus heutiger Sicht, also gut 30 Jahre später, nicht gelungen, dem Kapitalismus in dieser Form die Stirn zu bieten. Denn die Erwartung damals war: "Wir stellen fest, dass die Bewegung, die es erreichen wird, die gigantische kapitalistische-bürokratische Maschinerie zu zerstören, a fortiori durchaus fähig sein wird, eine andere Welt aufzubauen." [16]

Eben diese Idee der Autonomiebewegung im Italien der 1970er, dass Widerstand, Kreativität und Mediengebrauch etwas miteinander zu tun haben, existiert weiterhin. So sieht Bifo heute Sender wie Radio ALICE mit ihrem Konzept der Integration der Zuhörer_innen in den Sendestrom als Vorwegnahme partizipativer Medien wie dem Internet. Umgekehrt ermöglicht das Internet bzw. die Internettechnologie auch wieder eine neue Chance für das Radio (vgl. auch Podcasts etc.). Als Beispiel sei das Radio GAP (Global Audio Project) erwähnt, ein Zusammenschluss freier Radiostationen in Italien, das während des berüchtigten G8 Gipfels in Genua ähnlich wie schon einst Radio ALICE die Demonstrant_innen und Globalisierungsgegner_innen über Radio, Handy und Internet koordinierte und miteinander vernetzte. Der besondere Vorteil von Radiosendern ist deren Flexibilität. Innerhalb weniger Stunden ist ein solcher Transmitter aufgebaut und kann schnell wieder abgebaut und an einen neuen Ort überstellt werden. Bifo sagt dazu in einem Interview folgendes und nimmt damit indirekt auf Guattari und Deleuze Bezug:

"Genau das ist die Stärke des Radios: Kurzzeitig aufzutauchen und temporäre Plattformen bereitzustellen. [...] Das meine ich, wenn ich sage, Radio schafft temporäre Identitäten. Damit können wir dann bestimmte Dinge um uns herum ändern, können neue Fluchtlinien schlagen und können neue Identitäten für den Kampf um den nächsten Moment, den Kampf um das Morgen schaffen, und immer so weiter." [17]

Im klassischen Maschinenbegriff wäre also das Radio (später das Internet und auch zum Teil das Fernsehen und zwar im Sinne von Piratensendern oder dem Street-TV in Italien) nur ein "Werkzeug", das egal von wem und in welchem Sinne (also egal ob von Faschist_innen oder Kommunist_innen, von Machthaber_innen oder Revolutionär_innen) auf die gleiche Art und Weise eingesetzt wird. So gesehen wäre das Medium nur ein Sprachrohr, eine Prothese und Bestandteil der Struktur. Guattari (und später auch gemeinsam mit Deleuze) sieht aber seinen Maschinenbegriff weiter gefächert. So soll sich eine derart verstandene Maschine, die nicht Verlängerung des Protagonist_innen ist, sondern vielmehr einen Teil seiner darstellt, nicht gegenüber verschiedenen Sozialstrukturen verschließen. Sie soll sich ganz im Gegenteil ihnen gegenüber öffnen, auch wenn diese Struktur (im speziellen nennt er die Staatsstruktur) "scheinbar den Grundstein der herrschenden Produktionsverhältnisse bildet, obwohl sie den Produktionsmitteln nicht nicht mehr entspricht". [18] Wie er schon in seinem Text aus dem Jahr 1969 anmerkt, scheint es nichts mehr außerhalb dieser Strukturen zu geben, bzw. eine Bewegung außerhalb dieser Strukturen unmöglich zu sein. Daraus folgert er:

"Das revolutionäre Vorhaben als "Maschinentätigkeit" einer institutionellen Subversion müsste solche subjektiven Möglichkeiten aufdecken und sie in jeder Phase des Kampfes im Voraus gegen ihre "Strukturalisierung" absichern. Aber ein solches permanentes Erfassen der auf Strukturen wirkenden Maschineneffekte könnte sich nicht mit einer "theoretischen Praxis" zufrieden geben. Es verlangt die Entwicklung einer spezifischen analytischen Praxis, die jede Stufe der Kampforganisation unmittelbar betrifft." [19]

Wie ambivalent dieses Thema ist, hat sich auch bei der Recherche zu diesem Artikel gezeigt. Wie ich bereits in der Einleitung kurz erwähnt habe, habe ich sehr viel Material im Internet gefunden. Aber nicht nur die offiziellen Websites der ehemaligen Radio ALICE Macher oder von Befürworter_innen aus anderen Ländern tragen dazu bei, dass die italienische Revolution der 1970er Jahre wieder auflebt. Vor allem so kontroversiell diskutierbare Plattformen wie Youtube stellen offenbar eine Maschinenform dar, die zumindest immer noch die Möglichkeit offen halten, revolutionäre Vorhaben zu ermöglichen. Und auch das Fernsehen muss nicht mehr den früheren monopolistischen Strukturen entsprechen und - was zu wünschen wäre - eventuell auch bald nicht mehr den neoliberalen. Auch hier gibt es bereits Tendenzen zu neuen Formen. Aber ganz allgemein gilt es, heute völlig anderen Strukturen den Kampf anzusagen als noch in den 1970ern, die nicht mehr so klar differenzierbar und abgrenzbar sind, die Vermischung von Strukturen bzw. das Nutzen der "Produktionsmittel" ist um einiges undurchsichtiger geworden. So meint auch Franco Bifo Berardi:

"Das Konzept freier Medien hat sich in den letzten 30 Jahren dramatisch geändert. In den 1970ern waren freie Medien eine kulturelle Bewegung und Kraft mit dem Ziel der Kritik an bzw. der Zerschlagung des staatlichen Informationsmonopols und suchten politische Gegeninformationen zu bieten und eine kulturelle Ermächtigung der Gesellschaft zu fördern. Heute sind freie Medien etwas viel Komplexeres. Wenn ich heute an freie Medien denke, dann denke ich an Medienaktivismus, Dekonstruktion und Subversion des dominierenden Informationsflusses. Aber ich denke auch an die dringliche Notwendigkeit, ruhige und vom repressiven weißen Rauschen der (elektronischen) Medien freie Orte zu kreieren. Freie Medien bedeuten heute auch eine mediale Kampagne gegen die Durchdringung durch die Medien und den Versuch der Wiederentdeckung und Freilegung der Möglichkeit nicht-mediierten, direkten Kontakts nicht medialer Körper." [20]


Eva Kaufmann studiert Philosophie an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt und lebt derzeit in Mumbai, Indien, wo sie für eine Arbeit zum Thema Schmerz im interkulturellen Kontext forscht. E-mail: evaelisabethkaufmann@gmail.com


Anmerkungen:

[1] "Kollektiv A/traverso: Alice ist der Teufel" Berlin, Merve 1977 S. 68 ("wilde Katze" oder "gatto selvaggio" ein politischer Kreis im Bologna dieser Zeit, der sich auf den englischen Ausdruck "wildcat" für wilden Streik bezieht)

[2] Guattari F., "Millionen und Abermillionen potentieller Alices"

[3] ebd.

[4] vgl. ebd.

[5] www.radioalice.org

[6] Guattari F., "Millionen und Abermillionen potentieller Alices"

[7] vgl. www.radioalice.de zitiert aus Gruber C., "Die zerstreute Avantgarde" Wien, Böhlau 1989 S. 38

[8] vgl. Guattari F., "Millionen und Abermillionen potentieller Alices"

[9] "Kollektiv A/traverso: Alice ist der Teufel" Berlin, Merve 1977 S. 108

[10] Orson Welles schrieb ein Hörspiel nach Vorlage des Science-Fiction-Romans "Krieg der Welten" von H.G. Wells, das am Halloween-Abend des Jahres 1938 ausgestrahlt wurde. Das Hörspiel war in Form einer Reportage gehalten und hat auf Grund der Authentizität eine kolportierte Massenpanik unter der Bevölkerung ausgelöst.

[11] Guattari F., "Millionen und Abermillionen potentieller Alices"

[12] Guattari F., "Millionen und Abermillionen potentieller Alices"

[13] vgl. Guattari F., "Millionen und Abermillionen potentieller Alices"

[14] Guattari F., "Millionen und Abermillionen potentieller Alices"

[15] G. Deleuze, "Drei Fragen zu six fois deux" S. 68

[16] ebd.

[17] www.radioalice.de

[18] vgl. Guattari, F. "Maschine und Struktur" S. 137

[19] ebd. S. 138

[20] http://www.fro.at/print.php?id=1107


Literaturverzeichnis

Capelli L., Saviotti S., "Kollektiv A/traverso: Alice ist der Teufel", Berlin 1977, Merve
Deleuze, G., "Unterhandlungen", Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1993
Gruber, K., "Die zerstreute Avantgarde", Böhlau, Wien 2006
Guattari F., "Millionen und Abermillionen potentieller Alices", in "Kollektiv A/traverso: Alice ist der Teufel", Berlin 1977, Merve
Guattari F., "Maschine und Struktur", in "Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institutionellen Analyse", Frankfurt a.M. 1976, Suhrkamp


Weblinks:

http://www.goldfisch.at/manana/links/vor_guattari.html
http://www.youtube.com/watch?v=3ctemUI1tUE
http://www.youtube.com/watch?v=-oRTXURmo-c
http://www.youtube.com/watch?v=2EKQNtLXm4o
www.radioalice.de "Hör zu oder Stirb - Radio zwischen Kampf und Kunst" http://www.generation-online.org/p/pbifo.htm
http://eipcp.net/transversal/1106/raunig/de
http://www.fro.at/print.php?id=1107

Raute

Michael Wolf

Die Organisierung des sozialen Krieges: zur staatspolitischen Dimension der Hartz-IV-Reform[1]

"Wenn wir garantieren, dass jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist, werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu erfüllen." (Friedrich A. Hayek)

"Der Sozialstaat wird nach und nach, ebenso unablässig wie konsequent, in einen ‹Besatzungsstaat‹ umgewandelt [...] - einen Staat, der zunehmend die Interessen globaler, transnational operierender Unternehmen schützt, ‹während er zugleich den Grad der Repression und Militarisierung an der Heimatfront steigert‹."
(Zygmunt Bauman)


*


Vorbemerkung der Schattenblick-Redaktion: Dieser Artikel ist bereits in der Internetzeitung "Kritiknetz" am 06.07.2009 erschienen.

In der Printausgabe der Grundrisse wurde der Text um das Literaturverzeichnis sowie um Fußnoten gekürzt. Der Schattenblick veröffentlicht die vollständige Version, wie sie auf der Webseite www.grundrisse.net zu finden ist.


I

Schon immer ist Arbeitslosigkeit Gegenstand politischer Kämpfe und öffentlicher Dispute gewesen - und dies hinsichtlich wenigstens zweier Momente. Das erste Moment ist bezogen auf die Frage nach der Existenz von Arbeitslosigkeit, thematisiert also deren Definition und Verursachung. Das heisst, es fragt danach, was unter Arbeitslosigkeit zu verstehen ist und von wem, den Käufern oder den Verkäufern von Arbeitskraft, Arbeitslosigkeit verursacht wird. Indem es die Frage nach der Bewertung von Arbeitslosigkeit aufwirft, ist das zweite Moment hingegen normativer Art. Von zentraler Bedeutung ist hier, ob Arbeitslosigkeit positiv oder negativ konnotiert und damit in der Konsequenz als ein Problem begriffen wird, das gesellschaftlich und politisch als inakzeptabel gilt und deswegen beseitigt oder doch zumindest entschärft werden soll. Dieser eigentlich recht triviale Sachverhalt, dass Arbeitslosigkeit nicht ‹an sich‹ existiert, sondern sozial konstruiert und definiert wird, wenn auch mit Rückbezug auf ‹objektive‹ soziale Phänomene[2], führt dazu, dass erst im politischen Prozess auf der Basis von Machtstrukturen und gegensätzlichen Interessenlagen in einem stets prekären und instabilen Interessenkompromiss entwickelt und selektiv festgelegt wird, ob überhaupt und in welcher Art und Weise Arbeitslosigkeit auf der politischen Agenda als Gegenstand erscheint.[3]

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass - je nach Zeitgeist - nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch die Arbeitslosen selbst unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt werden.[4] Als Mitte der 1970er Jahre die Arbeitslosigkeit erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Millionengrenze überschritt und sich deren Verstetigung auf hohem Niveau allmählich abzuzeichnen begann[5], galten die meisten Arbeitslosen als "echte Arbeitslose mit einem schweren Schicksal" (Uske 1995: 216), denen die Politik durch Maßnahmen zur Wiederherstellung von Vollbeschäftigung zu helfen suchte. Gut 30 Jahre später hat sich der Blick auf Menschen ohne Arbeit gewandelt. Waren vormals die ‹unechten‹ Arbeitslosen, das heisst die Arbeitslosen, von denen angenommen wird, dass sie eigentlich arbeiten könnten, es aber nicht wollten[6] und statt dessen lieber Transfereinkommen beziehen, eine Minderheit, der die ‹echten‹ Arbeitslosen gegenüberstanden, rückten nunmehr in Politik und Medien und zunehmend auch in der Wissenschaft die Arbeitslosen als Menschen in den Vordergrund, denen es nicht an Arbeit fehle, sondern die etwas erhielten, das ihnen an und für sich nicht zustünde: nämlich staatliche Unterstützungsleistungen. Die Folgen hiervon seien desaströs, weil sie bei den Betroffenen Passivität fördere und Eigenaktivität mindere[7], so dass diese sich letztlich mit ihrer "nicht sehr komfortablen, aber erträglichen" (Kocka 2006) materiellen Situation abfänden und eine Art und Weise der Lebensführung herausbildeten, mit der der ‹anständige‹ Bürger partout nichts zu tun haben will, weil sie unzivilisiert sei und eine Bedrohung der bürgerlichen Werteordnung mit ihren Sekundärtugenden wie Fleiß, Ordentlichkeit, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Beständigkeit darstelle.

Dass die veränderte Wahrnehmung der Arbeitslosen in der seit etwa dem Jahr 2004 forciert geführten Debatte über die "neue Unterschicht"[8] kulminierte, deren "einziger Ehrgeiz oft im professionellen Missbrauch von Sozialleistungen" bestehe, so Draxler (2006) in einem Bild-Kommentar Vorurteile produzierend und reproduzierend, verwundert daher nicht. Im Gegenteil. Liest man diese Debatte als ein diskursives Element des Projektes der neoliberalen Rekonstruktion der Gesellschaft, so lässt sie sich mühelos als klassenpolitische Komplementärdebatte zur sozialpolitischen Missbrauchsdebatte begreifen, die vom seinerzeitigen Bundeskanzler Gerhard Schröder mit den Worten: "Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft!", im April 2001 angezettelt wurde und die ihren vorerst letzten traurigen Höhepunkt im Mai 2005 fand, als in einer unsäglichen, vom vormaligen Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement gewissermaßen regierungsamtlich zu verantwortenden und bis heute andauernden Missbrauchskampagne Arbeitslose in einem als "Report vom Arbeitsmarkt im Sommer 2005" bezeichneten Pamphlet pauschal der "Abzocke" (BMWA 2005: passim) bezichtigt und expressis verbis als "Parasiten" (ebd.: 10) bezeichnet wurden. Unter Berufung auf den BMWA-Report hetzte sodann im Herbst des gleichen Jahres zunächst das Boulevardblatt Bild, Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung, unter der Überschrift "Die üblen Tricks der Hartz-IV-Schmarotzer! ... und wir müssen zahlen" gegen hilfebedürftige Arbeitslose, die auf den Bezug von Arbeitslosengeld II zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen sind. Eine Woche später griff der Spiegel mit der Titelgeschichte "Hartz IV: Das Spiel mit den Armen. Wie der Sozialstaat zur Selbstbedienung einlädt" das Thema auf in dem für ihn typischen ‹seriösen Stil‹ für ‹gehobene Leserschichten‹. Seither hat die Thematik auf der Tagesordnung der Medien einen prominenten Stellenwert eingenommen, wofür neben der TV-Serie "Sozialfahnder" des kommerziellen Senders SAT.1 die im Frühjahr und Herbst des Jahres 2008 erneut von Bild inszenierte Hetze gegen Arbeitslose spricht, mit der diese nicht nur für ihr Schicksal, arbeitslos zu sein, selbst verantwortlich gemacht, sondern auch pauschal bezichtigt wurden, sich "vor der Arbeit zu drücken", sprich ‹arbeitsscheu‹ zu sein, und den "Staat zu bescheißen".

Nun weiß, zumindest ahnungsweise, ein jeder, selbst der sogenannte ‹kleine Mann‹ von der Straße, dass den Aussagen lügen- oder dummheitsträchtiger Sinnsysteme wie denen der Politik oder der Medien hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts nur bedingt Glauben zu schenken ist. Für die Wissenschaft als eines mit Nachdruck um Wahrheit bemühten Sinnsystems gilt diese Skepsis in besonderer Weise, so sie nicht zur Magd irgendwelcher Interessen verkommen ist. Das heisst, dass Wissenschaft, die man mit Elias als "Mythenjägerin" bezeichnen kann (vgl. Elias 1981: 51ff.), aufgefordert ist, die in einer Gesellschaft vorherrschenden Kollektivvorstellungen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verwerfen, wie sehr sie sich auch auf irgendwelche vermeintlichen Autoritäten zu stützen vermögen. Wenn sie dies mit Blick auf den Sozialleistungsmissbrauch und diejenigen tut, die ihn begehen, dann ist sie zunächst mit dem Sachverhalt konfrontiert, dass zwischen der Realität des Sozialleistungsmissbrauchs und seiner öffentlichen Thematisierung eine erhebliche Diskrepanz existiert, der es im folgenden nachzuspüren gilt (s. Abschnitt III). Ist die benannte Diskrepanz erst einmal als Ausdruck einer Inszenierung und Dramatisierung erkannt, wirft dies nahezu zwangsläufig die Frage nach dem Warum beziehungsweise dem Cui bono der Dramatisierung des Sozialleistungsmissbrauchs auf. Dieser wird gewöhnlich, so auch hier, auf der Ebene der ‹Oberflächenstruktur‹ nachgegangen (IV). Allerdings sollte Wissenschaft bei der Analyse des in Rede stehenden Problems sich damit nicht begnügen, sondern versuchen, zu dessen ‹Tiefenstruktur‹ vorzudringen (V). Bevor ein solcher Versuch im folgenden unternommen wird, scheint es angezeigt, den Ausführungen einige Bemerkungen zu der Vokabel ‹Schmarotzer‹ vorwegzuschicken, da sie beziehungsweise deren mit ‹sozial‹ gebildetes Kompositum sowohl in der Debatte über die "neue Unterschicht" als auch in der über den Sozialleistungsmissbrauch mit besonderer Vorliebe als Schmähwort im politischen Machtkampf benutzt wird (II).

II

Wenn Sprache Denken zu dessen Schaden verführt, so liegt dies weniger an der Sprache, sondern mehr an dem Denken, das dumm genug ist, sich verführen zu lassen. Dieser Einsicht folgend, ist man stets gut beraten, einen kritisch reflektierten Umgang mit Sprache zu pflegen, das heisst, sich der Mühe des zweiten Blicks zu unterziehen. Dies steht mit Bezug auf die Vokabel ‹Schmarotzer‹, bei der es sich bekanntlich um eine Verdeutschung von ‹Parasit‹ handelt, auch hier an, um deutlich zu machen, dass a) ‹Parasit‹ ursprünglich eine neutrale Bedeutung besaß, dass b) es kein Leben ohne Parasiten gibt und dass c) es eine Frage der Perspektive ist, wer eigentlich ein Parasit ist.

Ad a) Ursprünglich, das heisst zu Zeiten der attischen Demokratie, bezeichnete man mit ‹Parasit‹ einen von der Gemeinde gewählten hochgeachteten Beamten, der an der Seite (pará) des Priesters am Opfermahl teilnahm und mit diesem gemeinsam Speisen (sιtos) einnahm. Erst später erhielt die zunächst wertfreie Bedeutung ‹Tischgenosse‹ (parasitus) einen abwertenden Beigeschmack: Aus dem wegen seiner Verdienste um das Gemeinwesen auf Staatskosten gespeisten Mann wurde die Figur des ungebetenen Gastes, der sich als Schmeichler auf Kosten seines Wirtes eine freie Mahlzeit zu verschaffen suchte.[9] Im Sinne des ‹auf Kosten anderer leben‹ wird die Vokabel bis heute gebraucht, wobei allerdings die Formen, in denen Parasiten beziehungsweise Schmarotzer vorkommen, entsprechend der jeweiligen Kultur, Wirtschaftsweise und Herrschaftsordnung verschieden sind. Sie erstrecken sich vom ‹Energieparasitismus‹, das heisst dem Aufbrauchen fossiler Energievorräte zu Lasten künftiger Generation, über den ‹Bevölkerungsparasitismus‹, das heisst dem explosiven Wachstum der Weltbevölkerung auf Kosten anderer Lebewesen, bis hin zum ‹Sozialparasitismus‹, der uns in der Figur des "Sozialschnorrers" (Schmölders 1973) beziehungsweise des "Sozialschmarotzers" entgegentritt, der im allgemeinen als eine Person begriffen wird, die sich Einkommensvorteile verschafft durch den Bezug von wohlfahrtsstaatlichen Unterstützungsleistungen, ohne dass diesen Leistungen eine entsprechende Gegenleistung gegenübersteht.[10]

Ad b) Spätestens mit dem Einzug des Begriffs des Parasiten in die Naturwissenschaften und der Entstehung einer eigenen Disziplin, der Parasitologie, zeigte sich, dass es kein Leben ohne Parasiten gibt. Im biologischen Sinne ist ein Parasit ein Lebewesen, das sich bei seinem Wirt aufhält, mit diesem allerdings nicht wie ein Symbiont in einer Symbiose, das heisst zum gegenseitigen Nutzen lebt, ihn aber auch nicht wie ein Raubtier tötet und verzehrt, sondern sich von ihm nur auf eine Art und Weise ernährt, die sicherstellt, dass dieser zumindest nicht kurzfristig zugrunde geht. Mit anderen Worten: Ein Parasit schädigt seinen Wirt, ohne ihn im allgemeinen zu töten. Es gibt Parasiten unter den Bakterien, den Pflanzen, den Tieren - und selbstredend auch unter den Menschen. In Anspielung auf Hobbes‹ "Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen" (Hobbes 1966: 59)[11] veranlasste dies Serres zu dem Bonmot: "Der Mensch ist des Menschen Laus." (Serres 1987: 14) Bedauerlicherweise hat die Erkenntnis, dass es kein parasitenfreies Leben gibt, nicht wesentlich die Einsicht befördert, dass die Verwirklichung des Traums von absoluter Reinheit etwas Totalitäres an sich hat und letztlich den Tod allen Lebens nach sich zieht, obwohl dies jedem seit dem Aufkommen der nationalsozialistischen Idee von der Reinheit der Rasse und deren barbarischen Folgen klar sein müsste.[12]

Ad c) Wenn menschliche Parasiten als Personen betrachtet werden, die von den Früchten anderer schmarotzen, dann ist unklar, wer eigentlich von dieser Charakterisierung betroffen ist. Zwar sind im massenmedial geprägten Bild der öffentlichen Meinung es zumeist diejenigen, die ein Einkommen beziehen, ohne hierfür arbeiten zu müssen, nämlich die ‹unechten‹ Arbeitslosen: die "Arbeitsunwilligen", "Drückeberger", "Faulenzer", "Müßiggänger", die "Sozialschmarotzer" eben. Für Saint-Simon, den Frühsozialisten, und viele andere in seiner Nachfolge[13] war indes klar, dass dieses Bild eine "verkehrte Welt" darstelle, weil diejenigen, die damit betraut sind, die öffentlichen Angelegenheiten zu verwalten, die eigentlichen, wirklichen Parasiten seien. Denn sie beraubten die am "wenigsten Begüterten eines Teiles des Notwendigsten", um den Reichtum der Reichen zu vermehren, und sie seien beauftragt, die "kleinen Vergehen gegen die Gesellschaft unter Strafe zu stellen". Mit einem Wort: Die "unmoralischsten Menschen sind berufen, die Bürger zur Tugend zu erziehen, und die großen Frevler sind bestimmt, die Vergehen der kleinen Sünder zu bestrafen." (Saint-Simon 1970: 162) So gesehen dienen projektive Parasitenvorwürfe, ganz nach dem Motto "Haltet den Dieb!", auch dem Verschleiern der Frage, wer eigentlich wen ausnutzt und missbraucht.

Wenn also, soviel sollte selbst bei den wenigen Hinweisen deutlich geworden sein, Vorsicht geboten und Nachdenken angezeigt ist beim Aufscheinen der Vokabel ‹Parasit‹ im politischen Sprachgebrauch, dann gewinnt unter Umständen auch der "Sozialschmarotzer" und das Ausmaß des ihm von Politik und Medien angelasteten Sozialleistungsmissbrauchs eine etwas andere Kontur. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, sich dem Phänomen des Sozialleistungsmissbrauchs detaillierter zuzuwenden.

III

Obwohl der "Report" des BMWA über den Umfang des Sozialleistungsmissbrauchs keine Angaben enthält, wird von diesem wie auch in den Medien auf der Grundlage eines gewollt unklaren Missbrauchsbegriffs durch eine unzulässige und tendenziöse Verallgemeinerung besonders spektakulärer Fälle[14] von Sozialleistungsmissbrauch in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, eine große Anzahl, jeder fünfte, so Wolfgang Clement (zit. nach: Köhler 2005), der Arbeitslosengeld-II-Bezieher erhielte zuviel oder zu Unrecht Sozialleistungen.[15] Das heisst nun nicht, dass es Sozialleistungsmissbrauch nicht gäbe. Allerdings ist, erstens, nicht alles Missbrauch, was Missbrauch genannt wird[16], so das Ausschöpfen eines Rechtsanspruchs zum eigenen Vorteil durch die rechtlich zulässige Auslegung einer unklaren Rechtsnorm. Auch sogenannte Mitnahmen, "unter schlitzohriger Ausnutzung aller Sozialangebote" (Kaltenbrunner 1981b: 22), wie es Wohlfahrtsstaatskritiker zu formulieren pflegen, stellen keinen rechtswidrigen Leistungsbezug dar, sondern sind allenfalls unter dem Aspekt der moralischen Legitimität zu bewerten.[17] Zudem ist, zweitens, zu vermerken, dass Sozialleistungsmissbrauch im juristischen Sinne einer rechtswidrigen Inanspruchnahme von Leistungen sowohl die Folge betrügerischen[18] Handelns der Leistungsempfänger sein kann als auch Folge administrativen Fehlverhaltens seitens der Leistungsträger. Letzteres liegt beispielsweise dann vor, wenn es zu Überzahlungen kommt auf Grund vom Leistungsträger verschuldeter Fehlberechnungen oder Verzögerungen im Verwaltungsablauf. Missbrauch seitens der Leistungsträger ist jedoch nicht bloß Folge von Fahrlässigkeit, sondern kann auch auf Grund vorsätzlichen Handelns gegeben sein. Dies ist dann der Fall, wenn die Leistungsträger ihren Informations-, Beratungs- und Unterstützungspflichten nicht nachkommen und Rechtsvorschriften missachten, in der Absicht, erwerbsfähige hilfebedürftige Arbeitslose aus dem potenziellen wie aktuellen Leistungsbezug "auszufördern", wie es im Behördenjargon unverblümt heisst.

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang mit Bezug auf die Verwaltungspraxis der Grundsicherungsträger die Kritik des Bundesrechnungshofs, der moniert, dass etliche der Grundsicherungsträger gegen die gesetzlich auferlegte Pflicht, erwerbfähige Hilfebedürftige umfassend zu betreuen, verstießen, indem sie bei "Personen mit multiplen Vermittlungshemmnissen" auf ein Case-Management verzichteten, weil sie es für wirtschaftlicher hielten, "sich um integrationsnahe Arbeitslose zu kümmern" (BRH 2008: 4,12). Zugleich stellt er unmissverständlich fest: "Solange der Status der Erwerbsfähigkeit als leistungsbegründendes Merkmal für das Arbeitslosengeld II bejaht wird, verstösst ein fehlendes Fallmanagement [...] nach Auffassung des Bundesrechnungshofes gegen wesentliche Ziele der Grundsicherung." (ebd.: 14) Auch war die überwiegende Zahl der Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigungen[19], also der sogenannten Zusatz- oder Ein-Euro-Jobs, zu beanstanden[20]: So war bei zwei Drittel mindestens eine Förderungsvoraussetzung nicht erfüllt. Das heisst, in vier Fünftel der beanstandeten Maßnahmen waren die Tätigkeiten nicht zusätzlich, da sie reguläre Aufgaben eines öffentlichen Trägers betrafen und normale Arbeitskräfte einsparen oder einen haushaltsbedingten Personalmangel ausgleichen sollten. Und bei der Hälfte der beanstandeten Maßnahmen waren die Tätigkeiten auch nicht im öffentlichen Interesse, weil ihr Nutzen nur einem stark eingeschränkten Personenkreis zugänglich war. Außerdem wurden in drei Fünftel der Fälle Maßnahmekostenpauschalen von mindestens 200 Euro pro Monat und Teilnehmer gezahlt, obwohl keine nennenswerten Aufwendungen seitens der Maßnahmeträger erkennbar waren. (vgl. ebd.: 17f.)

Dass der in der Öffentlichkeit erweckte Eindruck, der Missbrauch von Sozialleistungen sei geradezu ein Massenphänomen, mit der Realität nicht im Geringsten übereinstimmt, belegen, wenn auch diesbezügliche systematische, empirische Analysen "bislang ausgesprochen rar" (Lamnek et al. 2000: 13) sind, sowohl ältere international vergleichende (vgl. Henkel/Pawelka 1981) wie auch neuere nationalstaatlich fokussierte (vgl. Martens 2005; Trube 2003: 195) empirische Untersuchungen. Die Größenordnung des Missbrauchs bewegt sich hier in einer Schwankungsbreite von einem bis, im Extrem, zehn Prozent. Im Durchschnitt geht man von drei Prozent aus. Selbst die Bundesagentur für Arbeit kommt auf der Grundlage des von ihr vierteljährlich durchgeführten automatisierten Datenabgleichs, mit dem geprüft wird, ob Arbeitslose anderweitige Transferleistungen beziehen, einer Beschäftigung nachgehen oder andere Einkünfte haben, zu dem Ergebnis, dass bei noch nicht einmal drei Prozent aller Arbeitslosengeld-II-Fälle Sozialleistungsmissbrauch vorliege und dass hiervon bei lediglich knapp 40 Prozent der Verdacht uch vorliege und dass hiervon bei lediglich knapp 40 Prozent der Verdacht auf Vorliegen einer Ordnungswidrigkeit oder Straftat bestehe. (vgl. Spiegel-Online vom 20.06.2006) Zudem gilt es zu beachten, dass Sozialhilfeempfänger, entgegen dem sozialpolitischen Stereotyp, faule "Sozialschmarotzer" zu sein, sich auch durch Annahme gering entlohnter Tätigkeiten darum bemühen, ihre materielle Situation zu verbessern und unabhängig von staatlichen Zuwendungen zu werden (vgl. Gebauer et al. 2002: passim). Vergleichbares ergab auch eine kürzlich publizierte DIW-Studie, in der resümierend festgestellt wird, "dass die meisten Arbeitslosen nicht wählerisch sind, wenn es darum geht, in einen Job zu kommen" (Brenke 2008: 684).

Mit anderen Worten: Sozialleistungsmissbrauch kommt zwar vor, aber er ist verschwindend gering und rechtfertigt in keiner Weise, hilfebedürftige Arbeitslose pauschal dem Verdacht auszusetzen, skrupellose Betrüger zu sein. Dass diese Wertung mehr als berechtigt ist, wird vor allem dann deutlich, wenn man den Sozialleistungsmissbrauch in Beziehung setzt zur "verdeckten Armut", das heisst zur Nichtinanspruchnahme von zustehenden Sozialleistungen auf Grund gesellschaftlicher und administrativer Schwellen[21], die erst überwunden werden müssen, bevor aus den Anspruchsberechtigten auch tatsächliche Leistungsbezieher werden (vgl. Leibfried 1976). So weisen Daten für die Bundesrepublik Deutschland aus, dass etwa nur 50 Prozent der Anspruchsberechtigten tatsächlich Leistungen in Anspruch nehmen. (vgl. Becker 1996: 6; Henkel/Pawelka 1981: 67; Becker/Hauser 2005: 16ff.) Noch marginaler erscheint der Sozialleistungsmissbrauch, vergleicht man den durch ihn angerichteten monetären Schaden mit dem von anderen Missbrauchstatbeständen wie zum Beispiel Subventionsbetrug oder Steuerhinterziehung: Er beträgt nur etwa sechs Prozent hiervon (vgl. Lamnek et al. 2000: 69) und ist insofern lächerlich gering. Dies verdeutlicht eindringlich auch Oschmianskys Feststellung: "Selbst wenn alle Leistungsempfänger [von Arbeitslosengeld und -hilfe; M.W.] ‹Arbeitsverweigerer‹ wären, ihre Leistungen entsprechend missbräuchlich in Anspruch genommen hätten, betrüge der ‹Schaden‹ gerade 28 Prozent des Schadens durch Schwarzarbeit." (Oschmiansky 2003: 15).

So wie die Frage des Missbrauchs von Sozialleistungen nicht losgelöst betrachtet werden kann von den gesetzlichen Leistungsversprechen, sprich Anspruchsberechtigungen, einerseits und der tatsächlichen Einlösung dieser Versprechen, sprich Anspruchsrealisierung, andererseits, so gehört zur Beantwortung der Frage des Sozialleistungsmissbrauchs nicht nur die Berücksichtigung des Legalitätsaspekts, sondern auch des Legitimitätsaspekts des Missbrauchs, bei dem es um die Gründe geht, die einen Verstoß gegen rechtlich codierte Normen zu einer subjektiv-sinnvollen und damit legitimen Verhaltensalternative machen. Sollten zum Beispiel aus einer willkürlichen Verwaltungspraxis offensichtliche oder auch bloß scheinbare Ungerechtigkeiten resultieren, so ist durchaus denkbar, dass dies bei den Betroffenen die Bereitschaft fördert, die subjektiv wahrgenommene Gerechtigkeitslücke eigenmächtig durch Sozialleistungsmissbrauch zu schließen (vgl. Lamnek et al. 2000: 22).[22] Das Problem der Gerechtigkeitslücke stellt sich selbstredend auch angesichts der Tatsache, dass Personen des öffentlichen Lebens häufig, gemessen am Umfang der von ihnen hinterzogenen Steuern, vergleichsweise gering bestraft werden oder sogar straffrei ausgehen, weil die Steuerbehörden auf eine Strafverfolgung verzichten, da sie den unter Umständen immensen Aufwand juristischer Verfahren scheuen.[23] Zudem muss gesehen werden, dass in einer Gesellschaft, in der als Folge der Universalisierung des Marktes und des Wettbewerbs geradezu eine Ellenbogenmentalität zur Durchsetzung der eigenen Interessen gefordert wird, gemeinwohlorientiertes Handeln nicht prämiiert wird. Wenn jeder angehalten wird, im alltäglichen Konkurrenzkampf, sei es in der Schule, am Arbeitsmarkt oder im Betrieb, das Beste für sich herauszuholen, dann erscheint auch der Sozialleistungsmissbrauch als eine rationale und legitime Handlungsweise zur Erweiterung des eigenen finanziellen Handlungsspielraums, zumal das Streben nach Verbesserung der eigenen ökonomischen Situation aums, zumal das Streben nach Verbesserung der eigenen ökonomischen Situation durchaus gesellschaftlich anerkannt ist, ja sogar als Motor der Wirtschaft angesehen wird. Vor diesem Hintergrund wird dann auch eher verständlich, was Arbeitslose motiviert, sich öffentlich als "Sozialschmarotzer" zu bekennen: Es ist Ausdruck einer Rationalisierungsstrategie, mittels deren die erfolglose Arbeitsuche und immer bedrohlichere Aussichtslosigkeit bewältig wird, indem man nämlich sein Handeln zur Überwindung der Zwangslage, in der man sich befindet, als "Ergebnis ökonomischer Rationalität und sogar besonderer individueller Schläue" (Zilian/Moser 1989: 50) darstellt. Insofern gibt es auch eine Parallele zu denjenigen, die mit Hilfe von bezahlten Beratern alle Spielräume, negativ formuliert: Schlupflöcher, der Steuergesetzgebung nutzen - nur mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass diesen gegenüber keineswegs der Vorwurf erhoben wird, sie würden sich Vorteile erschleichen. Im Gegenteil, in den Medien spricht man fast mit Bewunderung von der "‹Cleverness‹ solcher Leute" (Henkel/Pavelka 1985: 319)

IV

Dass der Sozialleistungsmissbrauch sowohl von den seinerzeitigen als auch den derzeitigen politisch Verantwortlichen so dramatisiert wird, obwohl diesen das tatsächliche Missbrauchsausmaß hinlänglich bekannt ist[24], hat seinen tieferen Grund und lässt auf nicht ausgewiesene Interessen schließen. Hierbei kann gewissermaßen zwischen zwei Schichten unterschieden werden: der schon irgendwie verständlichen Sinnschicht der Oberfläche und der dem unmittelbaren Zugriff verschlossenen Sinnschicht der ‹Tiefenstruktur‹, auf die sich die Erscheinungsformen der ‹Oberflächenstruktur‹ letztlich zurückführen lassen.[25] Setzt man an der ‹Oberflächenstruktur‹ an, so ist allem voran selbstverständlich zu nennen, dass den Gegnern des Wohlfahrtsstaats jegliches Mittel recht ist, diesen insgesamt als ‹zu teuer‹, ‹zu ineffizient‹, als ‹nicht wirksam und zielgenau‹, als ‹wachstumsschädigend‹, als im Grunde ‹überflüssig‹ zu diskreditieren, um dadurch die gesellschaftliche Akzeptanz für ihn zu minimieren - ein Motiv, das die immer wiederkehrenden Debatten über den Wohlfahrtsstaat seit seinen Anfängen, sei es in seiner Entstehungsphase, sei es in seiner Expansionsphase, begleitete, wie ein Blick in dessen Geschichte zu zeigen vermag.[26] Vor dem Hintergrund der durch die Massenarbeitslosigkeit mitbedingten höchst prekären Finanzlage der öffentlichen Haushalte zielt die Missbrauchskampagne mit ihrer Begründung, den Wohlfahrtsstaat nicht abschaffen, sondern durch Modernisierung sichern zu wollen[27], insbesondere darauf ab, Zustimmung zu erheischen für die Durchsetzung restriktiverer Kontrollmaßnahmen und für ein weiteres Zurückschneiden wohlfahrtsstaatlicher Leistungen.

Über die genannte ideologische Flankierung des Abbaus des Wohlfahrtsstaats hinaus vermutlich nicht minder bedeutsam einzuschätzen ist das Bemühen der politisch Verantwortlichen, sowohl von den wirklichen Ursachen und Verursachern der Arbeitsmarktkrise als auch vom eigenen Versagen, das heisst von den Misserfolgen der betriebenen Arbeitsmarktpolitik oder anderer damit in Zusammenhang stehender unzureichender Reformaktivitäten, abzulenken. Erinnert sei hier nur an das bis heute uneingelöste Versprechen der damaligen rot-grünen Bundesregierung anlässlich der Übergabe des Schlussberichts der Hartz-Kommission, die Anzahl der Arbeitslosen in drei Jahren um zwei Millionen zu verringern (vgl. Handelsblatt vom 08.08.2002). In die gleiche Richtung zielt auch der BMWA-Report, der eine sachlich-objektive und kritische Betrachtung des Arbeitsmarkts und der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik möglichst zu durchkreuzen trachtet, indem er den "Arbeitsmarkt im Sommer 2005" als nur von "Sozialschmarotzern" bevölkert beschreibt. Indem von den Arbeitslosengeld-II-Beziehern ein Bild als "Müßiggänger" gezeichnet wird, die auf Kosten der Allgemeinheit ein angenehmes Leben führen und dabei den Staatshaushalt ruinieren, wird zudem von der tatsächlich armseligen Lage der Hartz-IV-Betroffenen abgelenkt, die sich seit der mit dem SGB II vollzogenen organisatorischen Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe nicht verbessert, sondern, von Ausnahmen abgesehen, verschlechtert hat, und zwar um bis zu 18 Prozent, je nachdem, ob die Analyse der dadurch entstandenen Einkommensverteilungseffekte auf der Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe oder des Sozio-ökonomischen Panels erfolgt. (vgl. Becker/Hauser 2006)

Gleichsam spiegelbildlich zur Dethematisierung der arbeitsmarktpolitischen Misserfolge stellt die Missbrauchskampagne schließlich darauf ab, hilfebedürftige Arbeitslose als Subjekte ohne jeglichen Sinn für Verantwortung darzustellen, und zwar sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber der Gesellschaft. Einerseits werden nämlich die Opfer der Arbeitsmarktkrise in der Weise einer Blaming-the-victim-Strategie zu deren Tätern umdefiniert, indem man ihnen vorhält, sie allein trügen Schuld an ihrer Situation, weil ein jeder, der Arbeit suche, auch welche finde. Das heisst, die Ursache von Arbeitslosigkeit wird nicht in den kapitalistischen Ausbeutungs- und Aneignungsverhältnissen gesehen, sondern, der Denktradition Mandevilles[28] folgend, begriffen als Resultat einer moralischen Fehlhaltung: dem mangelnden Willen zur Arbeit[29]. Ein völlig absurdes Argument, das allein schon durch die seit drei Jahrzehnten existierende Massenarbeitslosigkeit Lügen gestraft wird. Wäre Arbeitslosigkeit wirklich, wie von den Gegner des Wohlfahrtsstaats gebetsmühlenhaft immer wieder behauptet, Ausdruck von Arbeitsunwilligkeit, müssten in der Bundesrepublik Deutschland regionale Faulheitszonen existieren und die Erwerbstätigen von konjunkturellen Faulheitszyklen befallen werden.[30] Zudem müsste, wenn die Behauptung sich als zutreffend erweisen sollte, dass Arbeitsunwillige durch zu hohe Transferleistungen verleitet würden, von Beschäftigung in Arbeitslosigkeit zu wechseln, eine positive Korrelation von Massenarbeitslosigkeit und massenhaften Kündigungen von Beschäftigungsverhältnissen bestehen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Denn in der Arbeitsmarktkrise nehmen Kündigungen ab und nicht zu.

Zu Tätern werden die Arbeitslosen aber auch andererseits, weil sie durch ihr vermeintlich verantwortungsloses Handeln sich gemeinschaftsschädlich verhielten, insofern die von ihnen beanspruchten wohlfahrtsstaatlichen Unterstützungsleistungen einen kostspieligen Wettbewerbsnachteil im Rahmen der globalisierten Standortkonkurrenz der Nationalstaaten darstellten.[31] Hier kommt der Missbrauchskampagne die Funktion zu, von den Arbeitslosen ein Feindbild[32] zu produzieren, wodurch die Bevölkerung in eine herrschende Majorität der ‹Leistungsbürger‹ und eine diskriminierte Minorität der ‹Anspruchsbürger‹ gespalten und ein gesellschaftliches Klima der "Entsachlichung und normativen Dichotomisierung von Problemen" (Prisching 2003: 231) erzeugt wird. In einem derartigen Klima, das geeignet ist, Aggressionsbarrieren zu schwächen und Tatbereitschaften aufzubauen und abzurufen[33], bedarf es keiner schriftlich fixierten Dienstanweisung mehr, um die Mitarbeiter der Arbeitsverwaltung, die längst zu einem der Orte der Realisierung der conditio inhumana mutiert ist, auf den Grundsatz zu verpflichten, die soziale Ausgrenzung der das Gemeinwohl schädigenden Arbeitslosen voranzutreiben, wie sich zum Beispiel einer jüngst erschienenen Untersuchung zu den Interaktions- und Deutungsmustern von Mitarbeitern entnehmen lässt, die mit der Beratung beziehungsweise Betreuung von arbeitslosen Leistungsempfängern befasst sind. Im Vergleich zur früheren Arbeitsverwaltung hat sich nämlich seit der Hartz-IV-Reform der Umgang mit den Arbeitslosen in der Weise geändert, dass diese nicht nur, wie bisher schon, bei Verstößen gegen rechtliche Regelungen negativ sanktioniert werden, sondern mittlerweile auch dann, wenn sie ‹falsche‹ Denk- und Verhaltensweisen an den Tag legen. "Aktivieren als soziale Kontrolle zielt heute primär direkt auf die Einstellungen und Haltungen." (Behrend 2008: 21)

V

Mit dem letztgenannten Punkt ist, wenn man so will, die Schnittstelle zwischen ‹Oberflächenstruktur‹ und ‹Tiefenstruktur‹ ins Blickfeld geraten, und zwar insofern, als die in den letzten Jahren erneut entfachte Missbrauchskampagne gegen Arbeitslose und insbesondere gegen sogenannte Hartz-IV-Empfänger eine neue Qualität signalisiert, verbirgt sich hinter ihr doch mehr als eine der üblichen, in Konjunkturen verlaufenden Debatten über Sozialleistungsmissbrauch[34]. Sie ist, so die hier vertretene These, Ausdruck eines sozialen Krieges, der von den hegemonialen Eliten gegen die zum innerstaatlichen Feind erklärten Arbeitslosen geführt wird.[35] Dies erschliesst sich einem, wenn man danach fragt, was es heisst, die Form eigne sich Inhalte und Ziele an. Mit Blick auf die Dramatisierung des Sozialleistungsmissbrauchs fällt dann hier auf, dass diese auf zwei Ebenen erfolgt: zum einen auf der Inhaltsebene, indem, wie gezeigt, das Missbrauchsausmaß maßlos übertrieben wird, und zum anderen auf der Formebene, indem die angeblichen Missbrauchstäter als "Parasiten" beziehungsweise, verdeutscht, "Schmarotzer" entmenschlicht und zu innerstaatlichen Feinden verfremdet werden.

Unverkennbar ist hier die Annäherung an die Propagandasprache des Nationalsozialismus[36], was jedoch keineswegs als situativ-zufällige Entgleisung charakterisiert oder als biologisierende Metaphorik abgetan werden kann. Wenn im "Report" des BMWA darauf hingewiesen wird, es sei "natürlich [...] völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen" (BMWA 2005: 10), dann bedient man sich des rhetorischen Kniffs der Prolepsis genau genommen nur, um mit der vermuteten Einwandvorwegnahme nicht nur als Denkgifte wirkende "winzige Arsendosen" (Klemperer 1969: 23) auszustreuen, sondern auch um den ‹parasitären‹ Arbeitslosen als noch verwerflicher darstellen zu können als den tierischen Parasiten, da jener im Gegensatz zu diesem sich nicht instinktiv verhalte, sondern auf Grund einer bewussten Willensentscheidung. Denn schließlich sei "Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert" (ebd.).

In diesem Sachverhalt der Charakterisierung von hilfebedürftigen Arbeitslosen als "Parasiten" oder "Sozialschmarotzer", denen nach Auffassung der Bundesregierung "energisch und konsequent entgegenzutreten" (Bundesregierung 2005: 35) sei, verdichten sich Vorstellungen, die weit über den Rahmen der bisherigen Missbrauchskampagnen hinausweisen, insofern sie an das politische Denken des konservativen Staatsrechtlers Carl Schmitt anknüpfen, der den Normalfall des Staates als Ausnahmezustand zu erklären sucht und hierbei der spezifisch politischen "Unterscheidung von Freund und Feind" (Schmitt 1963: 26) eine existenzielle Bedeutung zumisst. Ein Gedanke, den Agamben radikalisiert, indem ihm nicht, wie Schmitt, das Freund-Feind-Schema als Leitidee des Politischen gilt, sondern die Trennung zwischen dem "nackten Leben" (zoé) und der "politischen Existenz" (bíos) eines Menschen, zwischen dessen natürlichem Dasein und seinem rechtlichem Sein. (vgl. Agamben 2002: passim) Auf diese Weise kommt Agamben eine Entwicklung in den Blick, vor der auch Demokratien nicht gefeit sind: der Ausnahmezustand wird zum "herrschenden Paradigma des Regierens" (Agamben 2004: 9), wodurch die ursprüngliche Struktur des Politischen zunehmend in eine "Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit" (Agamben 2002: 19) gerät und an die Stelle des Rechts der soziale Krieg tritt.[37]

Schmitts "bis zur Kenntlichkeit entstellter" (Preuß 1994: 129) und durch den "äußersten Intensitätsgrad einer [...] Dissoziation" (Schmitt 1963: 27) charakterisierter Begriff des Politischen beruht auf der Überlegung, dass es Aufgabe jedes normalen Staates sei, "innerhalb des Staates und seines Territoriums eine vollständige Befriedung herbeizuführen, ‹Ruhe, Sicherheit und Ordnung‹ herzustellen", was in "kritischen Situationen" dazu führe, dass der "Staat als politische Einheit von sich aus [...] auch den ‹innern Feind‹ bestimmt. In allen Staaten gibt es deshalb in irgendeiner Form [...] schärfere oder mildere, ipso facto eintretende oder auf Grund von Sondergesetzen justizförmig wirksame, offene oder in generellen Umschreibungen versteckte Arten der Ächtung, des Bannes, der Proskription, Friedloslegung, hors-la-loi-Setzung, mit einem Wort: der innerstaatlichen Feinderklärung." (ebd.: 46f.) Da der Ausnahmezustand jener Zustand sei, in dem die prinzipiell permanent vorhandene Gefahr abgewendet werden muss, wird folgerichtig der Ausnahmezustand zum Normalfall des Staates und die innerstaatliche Feinderklärung für den Staat schlechthin konstitutiv, wobei für Schmitt der politische Feind weder "moralisch böse" noch "ästhetisch häslich" ist, sondern "der andere, der Fremde" (ebd.: 27), derjenige, "gegen den eine Fehde geführt" wird oder der einfach nur "negativ [...] als Nicht-Freund" (ebd.: 104f.) bestimmt ist. Das heisst, dass es sich bei dem Schmittschen Feind nicht um einen konkreten Feind handelt, der das eigene Überleben herausfordert, auch nicht um einen gleichsam a priori feststehenden Feind wie in Weltanschauungskonflikten, dort die ‹Bösen‹, die ‹Schurken‹, hier die ‹Guten‹, die ‹Edlen‹, sondern um einen "gewollten Feind" (Papcke 1985: 113), zu dem je nach Bedarf alle Welt werden kann, weswegen Kirchheimer denn auch zu Recht feststellt: "Jedes politische Regime hat seine Feinde oder produziert sie zu gegebener Zeit." (Kirchheimer 1985: 21)

Analysiert man mit einer derartigen kognitiven Analyse- und Deutungsfolie die jüngere deutsche Geschichte im Hinblick auf ihre "gewollten Feinde", so waren dies in der Zeit des Nationalsozialismus vornehmlich die Juden, während der sogenannten "Rekonstruktionsperiode" (vgl. Abelshauser 2005: passim) nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hauptsächlich die Kommunisten und in der Phase der keynesianischen Globalsteuerung ab 1967 vor allem die ‹Neue Linke‹. Und heute, das heisst seit dem Ende des "kurzen Traums immerwährender Prosperität" (Lutz 1984) und der seit den 1980/90er Jahren immer durchgreifender sich vollziehenden neoliberalen Restrukturierung der Gesellschaft? Nicht die Juden, sind diese doch seit dem Holocaust als Israelis Freunde geworden. Die Kommunisten auch nicht, da diese nach dem Zerfall der staatssozialistischen Gesellschaften zu veritablen Geschäftspartnern avancierten. Und die ‹Neue Linke‹ erst recht nicht, seit sie nach dem "Marsch durch die Institutionen" (Dutschke) gesellschaftsfähig geworden in den Sesseln der Macht Platz genommen hat. Also sind es, wofür etliches zu sprechen scheint, jene, die sich "sozialschädlich" oder "gemeinschaftsgefährdend" verhalten: die auf wohlfahrtsstaatliche Existenzsicherungsleistungen angewiesenen erwerbsfähigen Arbeitslosen, deren Makel nicht darin besteht, dass sie ohne Arbeit sind, sondern dass sie es sind oder unterstelltermaßen sein wollen, obwohl sie es sich nicht wie etwa aristokratische, couponschneidende oder ruhestandsversetzte Rentiers leisten können, da sie nicht wie diese über Einkünfte verfügen, die es ihnen erlauben, den Lebensunterhalt ohne Arbeit zu bestreiten. Damit schädigen sie, wie der "Report" des BMWA Glauben machen will, die Gemeinschaft der Bürger, der "Anständigen" (BMWA 2005), die, weil sie Steuern und Sozialabgaben zahlen und Existenzsicherungsleistungen nicht benötigen, "Vorrang" (ebd.) genießen und ein Anrecht darauf haben, dass der Staat sie vor "Drückebergern", "Faulenzern" und "Sozialschmarotzern" schützt.

Mit anderen Worten: Heutzutage gilt in der Bundesrepublik Deutschland derjenige als Feind, von dem angenommen wird, dass er sich dem Erwerbsleben und dem ihm korrespondierenden Arbeitsethos abwende und durch seine Verweigerung zu arbeiten, sich außerhalb der Gemeinschaft stelle. Denn er setze so an die Stelle der Werteordnung der anständigen Bürger seine eigene, ein Verhalten, das von diesen als verächtlich und nicht hinnehmbar angesehen wird, und zwar insbesondere dann, wenn man die Bürger im Rahmen einer psychologischen Kriegsführung ganz nach der Maxime "Es ist nicht wichtig, ob das, was behauptet wird, wahr ist, es ist nur wichtig, ob, was behauptet wird, wirkt." von der vorgeblichen Sozialschädlichkeit der Arbeitslosen zu überzeugen vermochte. Aus diesem Grund kann die innerstaatliche Feinderklärung auch nicht auf "propagandistische Vorbereitung und Begleitung" (Brückner/Krovoza 1976: 61) verzichten. Vor diesem Hintergrund wird denn auch begreiflich, warum es, erstens, nicht zufälligerweise im Vorfeld der "Hartz-Gesetzgebung" zu einer Missbrauchskampagne kam und warum man sich hierbei, zweitens, eines Vokabulars bedient, das sich wegen seines menschenverachtenden Charakters zwar verbietet, sich offensichtlich aber doch einer gewissen Beliebtheit erfreut, da es ein probates Mittel zu sein scheint, das Problem der "propagandistischen Präparierung der Feinderklärung" zu lösen: nämlich "die Sichtbarmachung und [...] Versinnlichung der Teilpopulation, die ausgegrenzt und ausgebürgert werden soll" (ebd.).[38]

Um zur ‹Tiefenstruktur‹ der Missbrauchskampagne vordringen zu können, mit der die Arbeitslosen pauschal als parasitäre Existenzen diffamiert und diskriminiert und gegen den Arbeitsfleiß und die Ordentlichkeit der übrigen Bevölkerung gesetzt werden, ist es unabdingbar, sich das Projekt der neoliberalen Rekonstruktion der Gesellschaft zu vergegenwärtigen, mit dem sich eine Neudefinition sowohl des Verhältnisses von Staat und Ökonomie als auch eine des Sozialen vollzieht. Das heisst einerseits, dass im Unterschied zur klassisch-liberalen Rationalität der Staat die Freiheit des Marktes nicht länger definiert und überwacht, sondern eine Entwicklung fördert und exekutiert, mit der der Markt selbst zum organisierenden und regulierenden Prinzip des Staates wird und bei der die Regierung zu einer Art Unternehmensleitung mutiert, deren Aufgabe in der Universalisierung des Wettbewerbs und der Generalisierung des Ökonomischen besteht. Mit anderen Worten: In der neoliberalen Konzeption von Gesellschaft ist das Ökonomische nicht mehr wie im Frühliberalismus ein fest umrissener und eingegrenzter gesellschaftlicher Bereich mit spezifischer Rationalität, Gesetzen und Instrumenten, sondern das Ökonomische umfasst nunmehr prinzipiell alle Formen menschlichen Handelns. (vgl. Lemke et al. 2000: 14ff.) Folgerichtig avanciert von daher auch der Bürger vom Arbeitskraftbesitzer zum Unternehmer seiner selbst beziehungsweise zum "Arbeitskraftunternehmer" (Voß/Pongratz 1998), der nicht bloß seine Arbeitskraft, sondern seine ganze Persönlichkeit als Ware auf dem Markt gewinnbringend feilbieten soll, was erfordert, sich selbst als Unternehmen zu begreifen und entsprechend zu führen, das heisst, den gesamten eigenen Lebenszusammenhang aktiv an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen auszurichten. Eng damit verbunden ist andererseits die völlige Neudefinition des Sozialen, nach der erstens als sozial nur noch das gilt, was Arbeit schafft[39], nach der zweitens jede Arbeit besser ist als keine und nach der drittens der Staat berechtigt ist, gegen all jenes vorzugehen, das es einem Arbeitskraftbesitzer erlauben würde, nicht zu arbeiten, ohne dies sich leisten zu können, da er über keine Einkünfte zur Bestreitung seines Lebensunterhalts ohne Arbeit verfügt. Im Umkehrschluss wird daher davon ausgegangen, dass gemeinwohlschädigendes, weil auf staatliche Transferleistungen angewiesenes, unsoziales Verhalten sich nur durch Verpflichtung zur Arbeit bekämpfen lasse, wobei die Verpflichtung zur Arbeit in der Marktanpassung und diese wiederum in dem bedingungslosen Akzeptieren der Kauf- und Anwendungsbedingungen von Arbeitskraft bestehe.

Da es sich bei der neoliberalen Konzeption von Staat und Gesellschaft also nicht nur um eine marktradikale handelt, sondern überdies um eine, die vorsieht, dass der Staat seine Bürger legitimerweise zu marktkonformen Verhalten zwingen könne, hat jenes Deutungsmuster hegemonialen Rang erlangt, das von der Vorstellung geleitet wird, nur durch einen Abbau von ungerechtfertigten Leistungen und ebensolchen Ansprüchen an den Wohlfahrtsstaat und durch eine Umorientierung von amoralischen Verhaltensweisen auf Eigenverantwortung und Gemeinschaftlichkeit könne die Verwirklichung des Neoliberalismus als politisches Projekt herbeigeführt werden, das zum Ziel hat, "eine soziale Realität herzustellen, die es zugleich als bereits existierend voraussetzt" (Lemke et al. 2000: 9). Dies erklärt auch die strategische Schlüsselstellung, die dem Wohlfahrtstaat beziehungsweise dessen Umbau zum Workfare State in diesem Zusammenhang zukommt, was sich an der Programmatik des "aktivierenden Sozialstaats"[40], insbesondere in Gestalt der sogenannten Hartz-Gesetze, ablesen lässt. Umgestaltet wird die Arbeits(markt)- und Sozialpolitik auf der Ebene der marktlichen Makrosteuerung nämlich so, dass sie als Standortpolitik einen Beitrag zur Steigerung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit leistet, während sie auf der Mikroebene der marktbezogenen Selbststeuerung der Individuen einen paradigmatischen Wechsel vollzieht vom gesellschaftlichen zum individuellen Risikomanagement und von der sozialen Sicherheit zur persönlichen Selbstsorge. Damit nimmt der Staat Abstand von der Idee, dass die Gesellschaft für die Gefährdung der Existenz ihrer Mitglieder verantwortlich und demgemäß auch verpflichtet ist, die Sicherung der Existenz zu gewährleisten, und erhebt fortan subjektive Unsicherheit und Verunsicherung zur Grundlage der von ihm im Einklang mit den neoliberalen "Evangelisten des Marktes" (Dixon 2000) geforderten Eigenverantwortung.

Worum es den in Politik und Verwaltung Verantwortlichen für die mit den Hartz-Gesetzen auf den Weg gebrachte Reform der Arbeits(markt)- und Sozialpolitik mithin geht, ist ordnungspolitisch die Aufrechterhaltung und Stärkung einer arbeitsethischen Gesinnung, fiskalpolitisch die Entlastung des Haushalts durch Ausgabenreduktion, arbeitspolitisch die Etablierung und Förderung des Niedriglohnsektors und sozialpolitisch die Etablierung eines Workfare-Regimes, bei dem die Gewährung staatlicher Unterstützungsleistungen abhängig gemacht wird von der Gegenleistung der Hilfeempfänger, jedwede Arbeit anzunehmen und individuelles Wohlverhalten zu zeigen. Übersehen wird bei der Problematisierung der genannten Reform aber durchweg deren staatspolitische Dimension. Diese gerät allerdings in den Wahrnehmungshorizont, wenn man mit Foucault, dem "Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist"[41] (Foucault 2001: 32), anzuerkennen bereit ist, dass "unterhalb der Formel des Gesetzes" (ebd.: 74) das Geschrei des Krieges sich wiederfinden lässt, der unsere Gesellschaft durchzieht und zweiteilt in einen Krieg der Rassen: "hier die einen und dort die anderen, die Ungerechten und Gerechten, die Herren und jene, die ihnen unterworfen sind, die Reichen und die Armen, die Machthaber und jene, die nur ihre Arme haben, [...] die Leute des gegenwärtigen Gesetzes und jene der künftigen Heimat" (ebd.: 92).[42]

Betrachtet man in diesem Licht den BMWA-Report, mit dem gewissermaßen die Lunte gelegt wurde für eine von den Print- und Rundfunkmedien geführte Hetze gegen Arbeitslose, so lässt sich dies ohne größere Schwierigkeit als das deuten, was es ist: als Bestandteil einer psychologischen Kriegsführung gegen die zu innerstaatlichen Feinden erkorenen Arbeitslosen. Feinde, die gefährlich sind für den Bestand dieser Gesellschaft, was allein schon durch die Verwendung der Vokabel ‹Parasit‹ zum Ausdruck gebracht wird. Denn Parasiten gelten als Ungeziefer, Schädlinge, die Krankheiten und Seuchen mit sich bringen und denen man nur beizukommen ist, indem man sie radikal ausmerzt. Mit der öffentlichen Darstellung der Arbeitslosengeld-II-Bezieher als "Parasiten" werden die betroffenen hilfebedürftigen Arbeitslosen und mit ihnen alle ‹normalen‹ Arbeitslosen, weil potenzielle Arbeitslosengeld-II-Bezieher, in diffamierender und diskriminierender Absicht hergerichtet zu einer Spezies, die ihre Umwelt schädigt, indem sie dieser etwas entzieht, ohne dafür etwas zu leisten, womit sie, aus Sicht der gesellschaftlichen Majorität, in der Gesellschaft ein Fremdkörper ohne irgend eine nützliche Funktion ist. Mehr noch: Ihre ‹Verderbnis‹ besteht nicht nur darin, dass sie von den durch fleißige und ehrliche Arbeit erwirtschafteten Früchten anderer schmarotzt, sondern auch darin, dass sie als schlechtes Beispiel die "anständigen" Bürger infiziert und die "wirklich Bedürftigen" in ein schlechtes Licht setzt. Weil anscheinend ohne Willen oder Fähigkeit, den von den Vertretern der herrschenden sozialen Ordnung propagierten Normalitätsvorstellungen zu entsprechen, treten mithin die Arbeitslosen als gemeinschaftsunfähig und -schädlich in Erscheinung, gegen die mit aller Härte und ‹Null-Toleranz‹ (vgl. Hansen 1999) vorzugehen, selbst wenn diese hierbei Schaden an Leib und Seele nehmen[43], nicht nur völlig legitim, sondern schlechterdings erforderlich ist, will man die wirtschaftlich existenzielle Bedrohung auf Grund der Gefährdung der Konkurrenzfähigkeit des Standorts Deutschland abwehren.

Auf Grund der sich geradezu reflexartig einstellenden assoziativen und affektiven Kopplung des Begriffs des Parasiten mit der Idee des Ausmerzens heisst dies im schlimmsten Falle, die unter Generalverdacht des Leistungsmissbrauchs gestellten Arbeitslosen zu biologisieren, womit ihnen das Lebensrecht in der menschlichen Gemeinschaft bestritten wird. Im minder schlimmen Falle werden die Arbeitslosen ‹bloß‹ kriminalisiert, was es erlaubt, sich mit ihren berechtigten Ansprüchen auf wohlfahrtsstaatliche Unterstützung nicht ernsthaft auseinandersetzen zu müssen, so dass die Hemmschwelle sinkt, sie als mit Rechten ausgestattete Personen wahrzunehmen und zu behandeln.[44] Und dies vor allem deswegen, weil die Arbeitslosen zum Feind der herrschenden Ordnung werden nicht auf Grund spezifischer äußerer Merkmale, sondern auf Grund einer markierten Position, die sie gemäß den Annahmen der Apologeten der fundamentalistischen Heilslehre des Neoliberalismus durch eigenen Entschluss beziehen. Mit anderen Worten: Das sozialpolitische Feindbild des "Sozialschmarotzers" lässt den als Feind namhaft gemachten Arbeitslosen keine Wahl zwischen Freundschaft und Feindschaft; es legt sie fest auf die Rolle des Feindes, und zwar bloß deswegen, weil man ist, was man ist: arbeitsloser Transfereinkommensbezieher. Hier zeigt sich, um Agamben zu paraphrasieren, dass die Arbeitslosen zu einem augenfälligen Symbol jenes von der "politischen Existenz" getrennten "nackten Lebens" avanciert sind, das der Kapitalismus notwendigerweise in seinem Inneren schafft und dessen Gegenwart er in keiner Weise mehr weder tolerieren will noch kann (vgl. Agamben 2006: 35), so dass deren "nacktes Leben" jederzeit in Frage steht. Die Konsequenz: An die Stelle der Unterscheidung zwischen Bourgeois und Citoyen tritt die Reduzierung des politischen auf den biologischen Körper, das heisst die Behandlung der arbeitslosen Individuen als überflüssiger Körper durch den Staat, weswegen so jemand wie Robert J. Eaton, vormaliger DaimlerChrysler-Vorsitzender, auch wieder unverblümt sagen kann, was ein Zelot des reinen Marktes denkt: "Die Schwachen müssen sich verändern oder sterben" (Eaton 1999) - Worte, die ob ihrer schlichten Klarheit keiner Interpretation mehr bedürfen, aber Handeln erfordern, soll der Fehdehandschuh aufgegriffen werden, um die Neoliberalismus genannte "‹graue Wolke‹, [...] die den Tod der Geschichte, das Verschwinden der Utopie, die Vernichtung des Traums verordnet" (Freire 1997: 9), vom Himmel zu vertreiben.


Prof. Dr. rer. pol. Michael Wolf, Sozialwissenschaftler, Hochschullehrer für Sozialpolitik und Sozialplanung am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Koblenz; Arbeitsschwerpunkte: Arbeits(markt)- und Sozialpolitik, Befreiungspädagogik (Paulo Freire), Diskrepanzphilosophie (Günther Anders), Figurationssoziologie (Norbert Elias), Transformationsforschung; Kontakt: wolf@fh-koblenz.de]


Anmerkungen

[1] Der Beitrag greift Gedanken auf und vertieft und verbreitert sie, die im Rahmen der von Business Crime Control durchgeführten Konferenz zum Thema "Arbeits-Unrecht in Deutschland. Arbeit und Arbeitslosigkeit in der Krise des Neoliberalismus" am 14. März 2009 in Köln unter dem Titel "Der gewollte Feind. Die Geburt des ‹Sozialschmarotzers‹ aus dem Geiste des Staatsrassismus" vorgetragen und in der NRhZ - Neue Rheinische Zeitung, Online-Flyer Nr. 189 vom 18. März 2009 veröffentlicht wurden. Eingeflossen sind darüber hinaus Überlegungen, die bereits im Vorgriff auf die Konferenz unter dem Titel "‹Sozialschmarotzer‹. Stichworte zur politischen Funktion eines Feindbilds" in der NRhZ - Neue Rheinische Zeitung, Online-Flyer Nr. 182 vom 28. Januar 2009 veröffentlicht worden sind.

[2] Dahinter steht die Vorstellung, wie sie etwa von Berger/Luckmann (1980) vertreten wird, dass Gesellschaft sowohl als objektive Faktizität wie auch als subjektiv gemeinter Sinn existiert.

[3] Vgl. hierzu auch Offes "Modell der Thematisierung politischer Probleme" (Offe 1975: 158ff.).

[4] Zur Rekonstruktion der öffentlichen Wahrnehmung und Thematisierung nicht mit Bezug auf Arbeitslosigkeit, sondern Armut in vier Jahrzehnten Bundesrepublik Deutschland vgl. Leisering (1993: 490ff.).

[5] Zur Geschichte der Arbeitslosigkeit vgl. das Buch von Niess (1982) mit dem gleichnamigen Titel.

[6] Mit Uske (1995: 41ff.) wäre zu ergänzen: Zu den ‹unechten‹ Arbeitslosen gehören nicht nur diejenigen, die nicht arbeiten wollen (die "Arbeitsunwilligen" und "Faulenzer"), sondern auch jene, die nicht arbeiten können (die vom Standpunkt ihrer Verwertbarkeit aus unbrauchbaren Arbeitskräfte), sowie jene, die vom Standpunkt der moralischen Berechtigung aus nicht arbeiten dürfen wie etwa die Frauen als "Zubrotverdienerinnen" oder Ausländer.

[7] Hinsichtlich der Tafeln und Suppenküchen (vgl. hierzu namentlich Selke 2008; i.E.) kommt Ernste vom wirtschaftsnahen Institut der Deutschen Wirtschaft zu der Einschätzung, deren Kernproblem bestehe darin, "dass Menschen längerfristig die Fähigkeit verlieren, für sich selber zu sorgen. Das heisst, dass sie fast wie bei einer Fütterung in der freien Wildbahn, man falsch erzogen wird, man selber nicht mehr in der Lage ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, also bildlich gesprochen jagen zu gehen und für sich selber zu sorgen, sondern immer stärker angewiesen wird auf diese Hilfe." (Ernste, D.; zit. nach: Svehla/Simon 2009)

[8] Als Stichwortgeber der Debatte gilt gemeinhin Nolte (2004); zur Kritik an dessen "‹kulturalistischen‹ Klassentheorie" vgl. vor allem die Beiträge in Kessl et al. (2007).

[9] Die Argumentation folgt hier Enzensberger (2001), der den wundersamen, zwischen Natur und Kultur hin- und herpendelnden Zickzackweg der Vokabel ‹Parasit‹ kenntnisreich nachzeichnet. Vgl. ferner die Beiträge in Kaltenbrunner (1981a) sowie Serres (1987), der die zweistellige Parasit-Wirt-Beziehung in eine dreistellige Wirt-Parasit-Störer-Beziehung überführt, wobei die Störung nicht eindeutig negativ ist, da sie sowohl schwächen, durch die Provokation von Abwehrkräften aber auch stärken kann.

[10] Im soziologischen Sinne ist die Vokabel ‹Sozialschmarotzer‹ insofern tautologisch, als menschliche Schmarotzer immer in einem sozialen Verhältnis wirken. Wenn hier aber von ‹Sozialschmarotzer‹ die Rede ist, dann bezieht sich diese Vokabel nur auf den Bereich des Missbrauchs sozialer Transferleistungen wie z. B. Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe.

[11] Hobbes hat der Sentenz in der politischen Sprache der Neuzeit zwar ihren prominenten Rang verschafft, ihren Ursprung hat sie aber in der Antike bei Plautus.

[12] Unverkennbar ist hier die Parallele zur Idee der Prävention, die in ihren Konsequenzen repressiv, totalitär und autoritär ist, sofern sie die von ihr gesetzten Ziele wirklich erreichen will, nämlich bestimmte, als negativ bewertete Zustände, seien sie verhältnis-, seien sie verhaltensbedingt, in der Zukunft nicht eintreten zu lassen.

[13] Von etwa Lenin, der jene Personen anprangert, die "vom ‹Kouponschneiden‹ leben, [...] Personen, deren Beruf der Müßiggang ist" (Lenin 1960: 281), über Veblens (1986) "Theorie der feinen Leute" bis hin zu Arnim, wobei gerade der Letztgenannte es sich gewissermaßen zur Aufgabe gemacht, das Problem des Zugriffs der herrschenden politischen Klasse auf den Staat als einer "Maschine der Ausplünderung" (Pareto, V.; zit. nach: Hirschman 1995: 63) in konkurrenzdemokratisch verfassten Gesellschaften wie der Bundesrepublik Deutschland öffentlich zu thematisieren, wovon die Titel seiner Bücher "Der Staat als Beute" (1993), "‹Der Staat sind wir!‹" (1995) beredt Auskunft geben.

[14] Aus Sicht der Bundesregierung sei die "lebensnahe, pointierte Darstellung" von Einzelfällen "sachgerecht" und "notwendig", weil sie dazu beitrage, "die öffentliche Aufmerksamkeit auch tatsächlich auf diese Problematik zu lenken" (BT-Drs. 16/48: 13).

[15] Des Missbrauchs bezichtigt werden jedoch nicht nur die Arbeitslosen, sondern auch die als "Helfershelfer" und "windige Ratgeber" (BMWA 2005: 19, 22) titulierten Berater, die, wie z. B. Roth/Thomé (2005), es sich zur Aufgabe gemacht haben, Hilfesuchenden in prekären materiellen Lebenslagen wie Arbeitslosigkeit oder Armut durch Information und Beratung zu ihrem Recht zu verhelfen.

[16] Im juristischen Sinne handelt es sich bei Missbrauch nur um die rechtswidrige Inanspruchnahme von Leistungen, d. h., es werden Leistungen bezogen, obwohl kein Anspruch bzw. kein Anspruch in der gewährten Leistungshöhe besteht. Dies kann mit Bezug auf die Existenzsicherungsleistungen gegeben sein, wenn z. B. das Bestehen von Arbeitslosigkeit, die arbeitsmarktmäßige Verfügbarkeit, das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit oder Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit nur vorgetäuscht wird, wenn unwahre Angaben über die Anzahl der Beschäftigungsverhältnisse und die Arbeitszeiten gemacht werden, wenn das Bestehen einer "eheähnlichen Gemeinschaft", das Vorhandensein von Einkommen und Vermögen, eigenes oder des Partners, der Zweck und Umfang von Schenkungen verschwiegen wird oder auch wenn Einkommen und Vermögen in der Absicht vermindert werden, Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung der Leistungen herbeizuführen.

[17] Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang etwa an den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten und früheren SPD-Vorsitzenden Kurt Beck, der das unter Umständen ethisch als gemeinwohlwidrig zu beanstandende, aber gleichwohl legale Ausschöpfen gesetzlich gegebener Möglichkeiten mit den tadelnswerten Worten "Man muss nicht alles rausholen, was geht." (Beck 2006) kritisiert.

[18] Denkbar ist selbstverständlich auch, dass Leistungen unter Umständen missbräuchlich bezogen werden, ohne dies zu bemerken, weil auf Grund der Komplexität der gesetzlichen Regelungen für die Betroffenen sich die Schwierigkeit ergibt, das eigene Handeln korrekt in bezug auf das Einhalten rechtlicher Regelungen zu bewerten.

[19] Nach § 16 III SGB II müssen Ein-Euro-Jobs "im öffentlichen Interesse" liegen und "zusätzlich" sein. Beide Kriterien sind allerdings alles andere als trennscharf, wie man auf den ersten Blick meinen könnte; vgl. hierzu kritisch Stahlmann (2005: 15ff.).

[20] In dem von der Presse aufgegriffenen Fall des missbräuchlichen Einsatzes von hilfebedürftigen Arbeitslosen durch das Recklinghauser Job-Center vermag der Anwalt des strafrechtlich zur Verantwortung herangezogenen Leiters nur zu bekennen: "Wenn es hier zu einer Verurteilung kommt, müssten die Leiter aller Jobcenter angeklagt werden." (Rüthers, K.; zit. nach: Rath 2008)

[21] Hierzu gehören etwa falscher Stolz und Scham ebenso wie die Unkenntnis über Zuständigkeiten und Rechtsansprüche oder die Furcht vor sozialer Diskriminierung wegen Arbeitsmarktversagens, der Verletzung der Privatsphäre oder dem Rückgriff auf unterhaltspflichtige Verwandte.

[22] Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang der folgende Gedanke Höffes: "Weil kein empirischer Staat die Wirklichkeit der sittlichen Idee schlechthin ist, kann man auch nicht [...] ein Widerstandsrecht gegen Staatsgewalten, oder weniger pathetisch, einen (staats-)bürgerlichen Ungehorsam a priori ausschließen. Gewiss, gegen den Staat der Gerechtigkeit ist jeder Widerstand grundsätzlich illegitim. Aber kein empirischer, ‹natürlicher‹ Staat darf sich als ‹Staat der Gerechtigkeit‹ bezeichnen." (Höffe 1989: 473) Mit anderen Worten: Was dem Staat als ‹Betrug‹ erscheint, kann aus der Perspektive der Betroffenen im Sinne der Gerechtigkeit auch als demokratischer Widerstand und bürgerlicher Ungehorsam betrachtet werden. Es ist also wie bei der Frage, wer eigentlich ein Parasit ist, auch eine Frage der Perspektive.

[23] Wie jüngst der ‹Fall Zumwinkel‹ zeigt. Die Steuerhinterziehung von knapp einer Million Euro brachte dem einstigen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Post lediglich eine Verurteilung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe von einer Million Euro ein. (vgl. Spiegel-Online vom 26.01.2009). Vor diesem Hintergrund würden manch einer es sarkastisch ‹ausgleichende Gerechtigkeit‹ nennen, dass einer ehemaligen Kassiererin von ihrem Arbeitgeber wegen angeblicher Unterschlagung von zwei Pfandbons in Höhe von insgesamt 1,30 Euro fristlos gekündigt und dies von dem damit befassten Arbeits- und Landesarbeitsgericht für Recht befunden wurde. (vgl. Haustein-Teßmer 2009a)

[24] So kommt die Bundesregierung nicht umhin, in der Beantwortung einer Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE zum Sozialleistungsmissbrauch einzugestehen: "Illegales Handeln entzieht sich seiner Natur gemäß der statistischen Erfassung und kann daher nur vermittels Plausibilitätsbetrachtungen grob abgeschätzt werden. Dies vorangestellt dürften nach Einschätzung der Bundesregierung jährlich etwa 3 Prozent bis 5 Prozent der Bezieher Leistungen zu Unrecht erhalten wegen Tatbeständen, die durch den Datenabgleich abgedeckt werden" (BT-Drs. 16/5009: 2).

[25] Mit der Unterscheidung von ‹Oberflächen- und Tiefenstruktur‹ wird hier in lockerer Weise an Chomsky angeknüpft, der darauf hinweist, dass sich aus dem Erscheinungsbild eines wirklichen Satzes nicht der eigentliche Gegenstand der Aussage ablesen lasse. Mit anderen Worten: In der Konstruktionsform des Satzes sind die zur Erfassung seiner Bedeutung notwendigen Informationen rm des Satzes sind die zur Erfassung seiner Bedeutung notwendigen Informationen nur implizit enthalten, weswegen diese in den "Tiefenstrukturen" gesucht und explizit gemacht werden müssen. (Chomsky, N.; zit. nach: Wunderlich 1974: 385ff.)

[26] Vgl. hierzu statt anderer den Überblick von Prisching (2000).

[27] Ein Paradoxon, das Offe zutreffend mit den folgenden Worten kritisiert: "Wenn wir soziale Sicherheit gewährleisten wollen, müssen wir sie parziell abschaffen. So einen Satz hätte man früher mit gutem Grund einen Widerspruch genannt. Heute nennt man ihn Agenda 2010." (Offe 2003: 810)

[28] Nach Mandeville, dem viele neoliberale Eiferer näher stehen, als sie selbst annehmen möchten, haben alle Menschen einen "außerordentlichen Hang zum Müßiggang" (Mandeville 1980: 231), weswegen es sehr unwahrscheinlich sei, dass sie arbeiten würden, wären sie nicht dazu gezwungen durch "ihre Armut, die es zwar klug ist zu mildern, töricht aber ganz zu beseitigen" (ebd.: 232).

[29] Arbeitswilligkeit heisst jedoch nicht, der Wille, einer Arbeit nachgehen zu wollen, die sinnvoll ist, den eigenen Neigungen entgegenkommt, womöglich noch Befriedigung bereitet und existenzsichernd entgolten wird, sondern das Zeigen der Bereitschaft, sich den herrschenden Bedingungen des Arbeitsmarks und den Zumutungen der Arbeitsverwaltung restlos zu unterwerfen.

[30] Eine Annahme, der sich selbst der damalige Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Heinrich Franke, nicht anzuschließen vermochte: "Wäre Arbeitsunwilligkeit tatsächlich ein Hauptgrund für die hohe Arbeitslosenzahl, dann müssten in Leer und Emden hauptsächlich Faule, in Göppingen und Nagold dagegen die Fleißigen wohnen. Dies wird wohl niemand ernsthaft behaupten wollen. Auch ist nicht einzusehen, dass innerhalb weniger Jahre aus einem ‹Volk von Fleißigen‹ - Mitte 1970 gab es weniger als 100.000 Arbeitslose - ein ‹Volk von Arbeitsunwilligen‹ geworden sein soll." (Franke, H.; zit. nach: Uske 1995: 49)

[31] Hiervon kann man zumindest ausgehen, wenn einer Studie zufolge exakt ein Drittel aller befragten Personen die Ansicht vertritt, "Menschen, die wenig nützlich sind, kann sich eine Gesellschaft nicht leisten". (vgl. Vornbäumen (2007)

[32] Zum Begriff vgl. Nicklas (1985: 102), ferner Münkler (1994: 22ff.).

[33] "Je unwerter die Minderheit, je kompakter die Majorität der ‹Guten‹, je geringer die Furcht vor Sanktionen, je stärker die nachrichtenpolitisch konstituierte Aggression, umso eher können Aufforderungen zur Gewalt die Aggression abrufen, bzw. umso leichter werden Informationen (‹sich zur Wehr setzen...‹) als Aufforderung erlebt." (Brückner 1969: 341)

[34] Vgl. hierzu Oschmiansky (2003), der zeigt, dass die Missbrauchskampagnen der letzten drei Jahrzehnte einem politischen Konjunkturzyklus unterlagen, insofern das Aufflammen der Kampagnen in der Regel einer bevorstehenden Bundestags- oder wichtigen Landtagswahl vorausging, mithin politischen Kalkülen folgend die Umwerbung der politischen Mitte, des ‹median voters‹, zum Ziel hatte, dessen Einstellung bekanntlich wahlentscheidend sein kann.

[35] Die Formulierung ‹sozialer Krieg‹ folgt hier nicht der Engelschen, die, wie bei Hobbes (vgl. 1989: 96), auf einen dem Staat vorgängigen "Krieg Aller gegen Alle" abstellt, bei dem es, Individuum gegen Individuum, darum geht, dass "der Stärkere den Schwächeren unter die Füße tritt" (Engels 1976: 257). Wenn hier von ‹sozialem Krieg‹ die Rede ist, dann eher im Foucaultschen Sinne des "inneren Krieges, des Gesellschaftskrieges" (Foucault 2001: 107), der mit Beginn des 17. Jahrhunderts als Krieg die Gesellschaft durchgängig und dauerhaft durchzieht und entlang einer Schlachtlinie binär ordnet: zunächst als Zusammenstoß zweier sozialer Rassen, als Rassenkrieg, sodann als "Staatsrassismus". Bei diesem Ordnungsprinzip des modernen Staates handelt es sich mit Foucault erst einmal nicht um einen Rassismus biologischer, sondern kriegerischer oder politischer Art, wiewohl sich beide Arten überlagern können, also eines Rassismus, den "die Gesellschaft gegen sich selber, gegen ihre eigenen Elemente, ihre eigenen Produkte" (ebd.: 81) führt und bei dem soziale Gruppen entlang sozialer Marker als Normabweichler, Gegner oder Feind mit dem Zweck konstituiert werden, diese zu bekämpfen und auszugrenzen. Dabei kann es sich ebensogut um rassische, ethnische, kulturelle, religiöse, politische oder auch soziale Minderheiten handeln.

[36] "Bei dem Juden ist hingegen diese Einstellung [zur Arbeit; M.W.] überhaupt nicht vorhanden; er [...] war immer nur Parasit im Körper anderer Völker. [...] Er ist und bleibt der ewige Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet, sowie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt. [...] Im Leben des Juden als Parasit [...] liegt eine Eigenart begründet, die Schopenhauer einst zu dem [...] Ausspruch veranlasste, der Jude sei der ‹große Meister im Lügen‹. Das Dasein treibt den Juden zur Lüge, und zwar zur immerwährenden Lüge, wie es den Nordländer zur warmen Kleidung zwingt." (Hitler 1949: 334f.) - Zum "Vokabular des Nationalsozialismus" vgl. neuerdings insbesondere Schmitz-Berning (2007). Dass es wohl kaum ein wirkungsvolleres Mittel gibt, den Menschen ohne Anwendung physischer Gewalt seiner individuellen Handlungsfähigkeit und Urteilskraft zu berauben, als ihn zur Benutzung einer entsprechend präparierten Sprache zu bringen, wird von dem kritischen Beobachter und geheimen Archivar der "Lingua Tertii Imperii", Klemperer, wie folgt beschrieben: "Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse. [...] Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da." (Klemperer 1969: 23)

[37] "Der Versuch der Staatsmacht, sich die Anomie durch den Ausnahmezustand einzuverleiben, [...] ist: eine fictio juris par excellence, die vorgibt, das Recht genau dort, wo es suspendiert ist, als Kraft aufrechtzuerhalten. An seine Stelle treten jetzt Bürgerkrieg und revolutionäre Gewalt, also menschliches Handeln, das jede Beziehung zum Recht abgelegt hat." (Agamben 2004: 71)

[38] Dass im Nationalsozialismus zur Kenntlichmachung und Versinnlichung der Juden als Feind der gelbe Stern eingeführt wurde, ist hinlänglich bekannt, weniger hingegen der im systematischen Zusammenhang der Vorurteilsbildung bedeutungsgleiche schwarze Winkel, der die damit Gekennzeichneten (Bettler, Landstreicher, Alkoholkranke etc.) als zur Gruppe der "Asozialen" zugehörig kennzeichnete, deren gemeinsames Merkmal darin bestand, dass sie auf Grund "gemeinschaftswidrigen Verhaltens" von ihren Unterdrückern als ‹arbeitsscheu‹ definiert und diffamiert wurden. Mit der Vokabel ‹asozial‹ bezeichneten die Nationalsozialisten "Menschen, die keinerlei Einordnungswillen oder -fähigkeit zeigen und die als Schlacken der menschlichen Gesellschaft als ‹Gemeinschaftsuntüchtige‹ angesprochen werden müssen. [...] Es sind arbeitsscheue Elemente, politische Untermenschen, die von der Fürsorge der übrigen Volksgenossen mit durchgeschleppt werden müssen. (zit. nach: Schmitz-Berning 2007: 264) Zu den diesbezüglichen Parallelen von Nationalsozialismus und Bundesrepublik Deutschland vgl. auch Allex (2008).

[39] Einer solchen Sichtweise lässt sich entgegenhalten, es sei in Anbetracht der nationalsozialistischen Vergangenheit "Zurückhaltung geboten bei dem Slogan: ‹Sozial ist, was Arbeit schafft.‹" (Spindler 2003: 12). Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Gleichwohl sollte das Diktum Horkheimers "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen" (Horkheimer 1988: 308f.) nicht vergessen werden, das in historisch-kritischer Absicht nicht die differentia specifica hervorhebt, sondern auf das genus proximum abstellt.

[40] Zum Konzept des "aktivierenden Staates" vgl. allgemein Lamping et al. (2002), zu dessen Bedeutung als Ansatz zur Umgestaltung des Wohlfahrtsstaats im besonderen die Beiträge in Dahme et al. (2003) sowie Mezger/West (2000).

[41] Foucault kehrt hier die bekannte Formulierung von Clausewitz um, wonach "der Krieg nur eine Fortführung der Politik mit anderen Mitteln ist" (Clausewitz, C. v.; zit. nach: Foucault 2001: 32).

[42] Vgl. hierzu klassisch schon Benjamin, der neben Schmitt und Foucault Agamben als zentrale Referenz seiner Fundamentalanalyse des Ausnahmezustands gilt: "Die Funktion der Gewalt in der Rechtsetzung ist nämlich zwiefach in dem Sinne, dass die Rechtsetzung zwar dasjenige, was als Recht eingesetzt wird, als ihren Zweck mit der Gewalt als Mittel erstrebt, im Augenblick der Einsetzung des Bezweckten als Recht die Gewalt aber nicht abdankt, sondern sie nun erst im strengen Sinne, und zwar unmittelbar, zur rechtsetzenden macht, indem sie nicht einen von Gewalt freien und unabhängigen, sondern notwendig und innig an sie gebundenen Zweck als Recht unter dem Namen der Macht einsetzt. Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt unmittelbarer Manifestation der Gewalt." (Benjamin 1978: 56f.)

[43] Dass Hartz IV, wenn auch bisher nur in Ausnahmefällen und am Rande der Gesellschaft, Tote zur Folge hat, ist bekannt. Erinnert sei hier z. B. nur an den Tod eines psychisch erkrankten Hartz-IV-Betroffenen aus Speyer, der verhungerte, weil ihm durch den zuständigen Grundsicherungsträger wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft (er hatte nicht auf die Vorladung zur Erstellung eines psychologischen Gutachtens reagiert) zuerst teilweise und dann vollständig die Zahlung der Existenzsicherungsleistungen versagt wurde. (vgl. Stumberger 2007) In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE räumt die Bundesregierung zwar ein, dass die Absenkungen und die vollständige Aufhebung der Leistung "rechtsfehlerhaft" (BT-Drs. 16/5550: 2) gewesen sei, gleichwohl hält sie das Vorgehen grundsätzlich für gerechtfertigt, da dem Betroffenen ein entsprechendes Angebot an sozialen Diensten zur Verfügung gestanden habe. Da dieser jedoch keinen Bedarf signalisiert habe, "gab es auch keine Veranlassung, diese Dienste zu aktivieren" (ebd.: 4) Was lehrt uns dies: Arbeitslose tragen nicht nur Schuld an ihrer Arbeitslosigkeit, sondern auch an ihrem möglichen Verhungern. Dass es sich hierbei nicht um zufällige, sondern um systemische Tote handelt, denn es ist die Drohung mit der Existenzvernichtung, die systemisch hinter der erzwungenen Kooperationsbereitschaft steht, zeigt auch das jüngste Beispiel aus dem Waffenarsenal der Grundsicherungsträger, die als institutioneller Kern der Hartz-IV-Reform den sozialen Krieg gegen die Arbeitslosen strategisch organisieren und umsetzen: die Kürzung der Existenzsicherungsleistung wegen Bettelns. So geschehen in Göttingen. Dort wurden einem Sozialhilfeempfänger, nachdem er beim Betteln beobachtet und die ihm gegebenen Almosen hochgerechnet worden waren, die Geldspenden als zusätzliches Einkommen auf die Leistungen der Sozialhilfe angerechnet (vgl. Haustein-Teßmer 2009b), was de facto nichts anderes bedeutet, als Bettler als beschäftigt aufzufassen. Denkt man diese Vorstellung zu Ende, so kommt man zu dem Schluss, dass diejenigen Arbeitslosen, die von der Option der Bettelei keinen Gebrauch machen wollen, freiwillig arbeitslos seien, weswegen ihnen dann auch die Gewährung von Unterstützungsleistungen zu versagen ist.

[44] Der seitens der Politik induzierte Abbau verfahrensrechtlicher Garantien wie die Abschaffung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gemäß § 39 SGB II spricht hier eine ebenso eindeutige Sprache wie die in Angriff genommene Einführung von Sozialgerichtsgebühren und der Anwaltspflicht vor den Landessozialgerichten oder die geplante Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen zur Bewilligung der Prozesskostenhilfe oder die beabsichtigte Anspruchsvoraussetzungen zur Bewilligung der Prozesskostenhilfe oder die beabsichtigte Abkehr vom Amtsermittlungsprinzip. (vgl. Jäger 2007)


Literatur

Abelshauser (2005) - Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung

Agamben (2002) - Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M.: Suhrkamp

Agamben (2004) - Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. (Homo sacer II.1), Frankfurt/M.: Suhrkamp

Agamben (2006) - Giorgio Agamben: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, 2. Aufl., Zürich/Berlin: diaphanes

Allex (2008) - Anne Allex: Kein Mensch ist "Asozial", in: express, H. 5; 6/7, online unter URL (15.11.2008)
http://www.labournet.de/diskussion/geschichte/allex1.html

Arnim (1993) - Hans Herbert von Arnim: Der Staat als Beute. Wie Politiker in eigener Sache Gesetze machen, München: Knauer

Arnim (1995) - Hans Herbert von Arnim: "Der Staat sind wir!" Politische Klasse ohne Kontrolle? Das neue Diätengesetz, München: Knauer

Baumann (2005) - Zygmunt Baumann: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung

Beck (2006) - Kurt Beck: "Man muss nicht alles rausholen". Interview mit Gisela Kirschstein und Nikolaus Blome, in: Die Welt vom 08.06.2006, online unter URL (15. 04. 2008) http://www.welt.de/print- welt/article221925/Man_muss_nicht_alles_rausholen.html

Becker (1996) - Thomas Becker: Armut in Deutschland: Das Märchen vom Sozialmissbrauch, in: Sozialcourage, H. 2, S. 4-8

Becker/Hauser (2005) - Irene Becker/Richard Hauser: Dunkelziffer der Armut. Ausmaß und Ursachen der Nicht-Inanspruchnahme zustehender Sozialhilfeleistungen, Berlin: edition sigma

Becker/Hauser (2006) - Irene Becker/Richard Hauser: Verteilungseffekte der Hartz-IV-Reform. Ergebnisse von Simulationsanalysen, Berlin: edition sigma

Behrend (2008) - Olaf Behrend: Aktivieren als Form sozialer Kontrolle, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 40/41, S. 16-21

Benjamin (1978) - Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, in: ders., Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, 3. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 29-65

Berger/Luckmann (1980) - Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M.: Fischer

BMWA (2005) - Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit: Vorrang für die Anständigen - gegen Missbrauch, "Abzocke" und Selbstbedienung im Sozialstaat. Ein Report vom Arbeitsmarkt im Sommer 2005, online unter URL (21.12.2005) http://www.harald-thome.de/media/files/Gesetzestexte %20SGB%20II%20+%20VO/Gesetzestexte%20SGB%20XII%20+%20VO/Seminare/ Clement/Sozialmissbrauch_Bericht_BMWA.pdf

Brenke (2008) - Karl Brenke: Arbeitslose Hartz IV-Empfänger: Oftmals gering qualifiziert, aber nicht weniger arbeitswillig, in: DIW-Wochenbericht, H. 3, S. 678-684, online unter URL (30.12.2008) http://diw.de/documents/publication/73/89791/08-43-1.pdf

BRH (2008) - Bundesrechnungshof: Bericht nach § 88 Abs. 2 BHO über die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch: Vermittlungstätigkeit (einschließlich Fallmanagement), Anwendung zentraler arbeitsmarktpolitischer Instrumente, Bonn, online unter URL (10.01.2009)
http://www.lag-arbeit-hessen.net/fileadmin/user_upload/DST_Auszug_aus_ BRH-Bericht_zu_SWL_und_AGH_08_05_08.pdf

Brückner (1969) - Peter Brückner: Springerpresse und Volksverhetzung, in: Kritische Justiz, H. 4, S. 339-354

Brückner/Krovoza (1976) - Peter Brückner/Alfred Krovoza: Innerstaatliche Feinderklärung in der BRD, 2. Aufl., Berlin (BRD): Wagenbach

Bundesregierung (2005) - Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland: Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, online unter URL (10. 05. 2006) http://www.cducsu.de/upload/koavertrag0509.pdf

Dahme et al. (2003) - Heinz-Jürgen Dahme/Hans-Uwe Otto/Achim Trube/Norbert Wohlfahrt (Hrsg.): Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat, Opladen: Leske + Budrich

Dixon (2000) - Keith Dixon: Die Evangelisten des Marktes. Die britischen Intellektuellen und der Thatcherismus, Konstanz: UVK

Draxler (2006) - Alfred Draxler: Ein Wort wie eine Keule!, in: Bild vom 17.10.2006, online unter URL (23.03.2009)
www.bild.de/BTO/news/standards/kommentar/2006/10/17/kommentar.html

Eaton (1999) - Robert J. Eaton: "Die Schwachen müssen sterben", in: junge Welt vom 08. 07. 999

Elias (1981) - Norbert Elias: Was ist Soziologie?, 4. Aufl., München: Juventa

Engels (1976) - Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 2, 9. Aufl., Berlin (DDR): Dietz, S. 225-506

Enzensberger (2001) - Ulrich Enzensberger: Parasiten. Ein Sachbuch, Frankfurt/M.: Eichborn

Foucault (2001) - Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt/M.: Suhrkamp

Freire (1997) - Paulo Freire: Erziehung und Hoffnung, in: Bernhard, A./Rotherml, L. (Hrsg.), Handbuch Kritische Pädagogik, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 7-10

Gebauer et al. (2002) - Ronald Gebauer/Hanna Petschauer/Georg Vobruba: Wer sitzt in der Armutsfalle? Selbstbehauptung zwischen Sozialhilfe und Arbeitsmarkt, Berlin: edition sigma

Hansen (1999) - Ralf Hansen: Eine Wiederkehr des ‹Leviathan‹? Starker Staat und neue Sicherheitsgesellschaft. ‹Zero Tolerance‹ als Paradigma ‹Innerer Sicherheit‹?, in: Kritische Justiz, H. 2, S. 231-253

Haustein-Teßmer (2009a) - Oliver Haustein-Teßmer: Jetzt spricht die gekündigte Kassiererin Emmely, in: Welt-Online vom 26.02.2009, online unter URL (15.04.2009) http://www.welt.de/wirtschaft/article3281187/ Jetzt-spricht-die-gekuendigte-Kassiererin-Emmely.html

Haustein-Teßmer (2009b) - Oliver Haustein-Teßmer: Stadt kürzt Mann Sozialhilfe, weil er gebettelt hat, in: Welt-Online vom 27.03.2009, online unter URL (14.04.2009) http://www.welt.de/wirtschaft/article3455661/Stadt-kuerzt-Mann- Sozialhilfe-weil-er-gebettelt-hat.html

Hayek (1981) - Friedrich August von Hayek: "Ungleichheit ist nötig". Interview, in: Wirtschaftswoche, H. 11, S. 36-40

Henkel/Pavelka (1981) - Heiner Henkel/Franz Pavelka: Nur 97 Prozent sind anständig - Zur Missbrauchsdebatte sozialer Leistungen, in: Soziale Sicherheit, H. 3, S. 65-70

Henkel/Pavelka (1985) - Heiner Henkel/Franz Pavelka: Sozialdemontage durch schwarze Magie, in: Neue Praxis, H. 4, S. 318-321

Hirschman (1995) - Albert O. Hirschman: Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Reaktion, Frankfurt/M.: Fischer

Hitler (1949) - Adolf Hitler: Mein Kampf, Zwei Bände in einem Band. Ungekürzte Ausgabe, München: Franz Eher

Hobbes (1966) - Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger, 2. Aufl., Hamburg: Meiner

Hobbes (1989) - Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, 3. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp

Höffe (1989) - Otfried Höffe: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt/M.: Suhrkamp

Horkheimer (1988) - Max Horkheimer: Die Juden in Europa, in: ders., Gesammelte Schriften. Band 4: Schriften 1936-1941, Frankfurt/M.: Fischer, S. 308-331

Jäger (2007) - Frank Jäger: Arme als Bürger zweiter Klasse? Werden Bezieherinnen und Bezieher von staatlichen Fürsorgeleistungen künftig ihre Rechte noch verfolgen und wirksam durchsetzen können?, online unter URL (28.02.2008)
http://www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/2007/buerger_zweiter_ klasse.aspx

Kaltenbrunner (1981a) - Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.): Schmarotzer breiten sich aus. Parasitismus als Lebensform, Freiburg et al.: Herder

Kaltenbrunner (1981b) - Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Vorwort des Herausgebers, in: ders. (Hrsg.), Schmarotzer breiten sich aus. Parasitismus als Lebensform, Freiburg et al.: Herder, S. 7-26

Kessl et al. (2007) - Fabian Kessl/Christian Reutlinger/Holger Ziegler (Hrsg.): Erziehung zur Armut? Soziale Arbeit und die ‹neue Unterschicht‹, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften

Kirchheimer (1985) - Otto Kirchheimer: Politische Justiz. Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken, Frankfurt/M.: Fischer

Klemperer (1969) - Victor Klemperer: "LTI". Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen, München: dtv

Kocka (2006) - Jürgen Kocka: Neue Unterschicht durch hohe Sozialleistungen. Interview mit Dieter Kassel, in: Deutschlandradio, Sendung vom 12.10.2006, online unter URL (02.03.2009) http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kulturinterview/552598/

Köhler (2005) - Otto Köhler: Der Parasit. Ein unstatthafter Vergleich. Wie Wolfgang Clement Sozialschmarotzern zu Leibe rückt, in: Freitag vom 28.10.2005, online unter URL (12.04.2009) http://www.freitag.de/2005/43/05430702.php

Lamnek et al. (2000) - Siegfried Lamnek/Gaby Olbrich/Wolfgang J. Schäfer: Tatort Sozialstaat: Schwarzarbeit, Leistungsmissbrauch, Steuerhinterziehung und ihrer (Hinter)Gründe, Opladen: Leske + Budrich

Lamping et al. (2002) - Wolfram Lamping/Henning Schridde/Stefan Plaß/Bernhard Blanke: Der Aktivierende Staat. Positionen, Begriffe, Strategien, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, online unter URL (22.07.2004)
http://www.fesportal.fes.de/pls/portal30/docs/FOLDER/BUERGERGESELLSCHAFT/038.pdf

Leibfried (1976) - Stephan Leibfried: Vorwort, in: Piven, F.F. / Cloward, R. A., Regulierung der Armut. Die Politik der öffentlichen Wohlfahrt, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 9-67

Leisering (1993) - Lutz Leisering: Zwischen Verdrängung und Dramatisierung. Zur Wissenssoziologie der Armut in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, in: Soziale Welt, H. 4, S. 486-511

Lemke et al. (2000) - Thomas Lemke/Susanne Krasmann/Ulrich Bröckling: Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien, in: Bröckling, U. et al. (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 7-40

Lenin (1960) - W[ladimir] I[ljitsch] Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß, in: Lenin-Werke, Bd. 22, Berlin (DDR): Dietz, S. 189-309

Lutz (1984) - Burkart Lutz: Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt/New York: Campus

Mandeville (1980) - Bernard Mandeville: Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile, Frankfurt/M.: Suhrkamp

Martens (2005) - Rudolph Martens: Vermuteter Sozialmissbrauch und gefühlte Kostenexplosion beim Arbeitslosengeld II. Ein Vergleich mit empirischen Befunden zum Missbrauch von Sozialhilfe, in: Soziale Sicherheit, H. 11, S. 358-363

Mezger/West (2000) - Erika Mezger/Klaus-W. West (Hrsg.): Aktivierender Sozialstaat und politisches Handeln, 2. Aufl., Marburg: Schüren

Münkler (1994) - Herfried Münkler: Politische Bilder, Politik der Metaphern, Frankfurt/M.: Fischer

Nicklas (1985) - Hans Nicklas: Die politische Funktion von Feindbildern, in: Guha, A.-A./Papcke, S. (Hrsg.), Der Feind, den wir brauchen oder: Muss Krieg sein?, Königstein/Ts.: Athenäum, S. 99-109

Niess (1982) - Frank Niess: Geschichte der Arbeitslosigkeit. Ökonomische Ursachen und politische Kämpfe: ein Kapitel deutscher Sozialgeschichte. Mit einem Nachtrag zur Arbeitslosigkeit der Gegenwart, 2. Aufl., Köln: Pahl-Rugenstein

Nolte (2004) - Paul Nolte: Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung

Offe (1975) - Claus Offe: Berufsbildungsreform. Eine Fallstudie über Reformpolitik, Frankfurt/M.: Suhrkamp

Offe (2003) - Claus Offe: Perspektivloses Zappeln. Oder: Politik mit der Agenda 2010, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 7, S. 807-817, online unter URL (08.06.2004) http://www.blaetter.de/kommenta/offe0307.pdf

Oschmiansky (2003) - Frank Oschmiansky: Faule Arbeitslose? Zur Debatte über Arbeitsunwilligkeit und Leistungsmissbrauch, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 6/7, S. 10-16

Papcke (1985) - Sven Papcke: Der gewollte Feind. Zum Weltbild bei Carl Schmitt, in: Guha, A.-A./Papcke, S. (Hrsg.), Der Feind, den wir brauchen oder: Muss Krieg sein?, Königstein/Ts.: Athenäum, S. 110-132

Preuß (1994) - Ulrich K. Preuß: Revolution, Fortschritt und Verfassung. Zu einem neuen Verfassungsverständnis, Frankfurt/M.: Fischer

Prisching (2000) - Manfred Prisching: Wohlfahrtsstaatliche Ideologien. Über Ideen und Argumente beim Rückbau des Sozialstaates, in: ders. (Hrsg.), Ethik im Sozialstaat, Wien: Passagen, S. 37-130

Prisching (2003) - Manfred Prisching: Moral als Lüge. Über Moralisierung in der Politik, in: Hettlage, R. (Hrsg.), Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen. Leben in der Lügengesellschaft, Konstanz: UVK, S. 231-250

Rath (2008) - Christian Rath: Not ausgenutzt. Leiter eines Jobcenters angeklagt, in: die tageszeitung vom 23.08.2008, online unter URL (28.08.2008) http://www.taz.de/politik/deutschland/artikel/1/not- ausgenutzt/?type=98

Roth/Thomé (2005) - Rainer Roth/Harald Thomé: Leitfaden Alg II/Sozialhilfe von A-Z, 23. Aufl., Frankfurt/M.: DVS

Saint-Simon (1970) - Henri de Saint-Simon: Die Parabel, in: Vester, M. (Hrsg.), Die Frühsozialisten 1789-1848, Bd. I, Reinbek: Rowohlt, S. 160-163

Schmitt (1963) - Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin: Duncker & Humblot

Schmölders (1973) - Günter Schmölders: Der schlitzohrige Staatsbürger. Steuersünder, Sozialschnorrer, Finanzpiraten, in: Herchenröder, K. H. (Hrsg.), Soziale Marktwirtschaft. Leistung und Herausforderung. Eine Handelsblatt-Studie, Stuttgart: Holtzbrinck

Schmitz-Berning (2007) - Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 2. Aufl., Berlin/New York: de Gruyter

Schröder (2001) - Gerhard Schröder: "Es gibt kein Recht auf Faulheit!", Interview, in: Bild vom 06.04.2001, online unter URL (21.04.2008)
http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2001/23/15a.htm

Selke (2008) - Stefan Selke: Fast ganz unten. Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird, Münster: Westfälisches Dampfboot

Selke (i.E.) - Stefan Selke (Hrsg.): Tafeln in Deutschland. Aspekte einer soziale Bewegung zwischen Nahrungsmittelumverteilung und Armutsintervention, Münster: Westfälisches Dampfboot

Serres (1987) - Michel Serres: Der Parasit, Frankfurt/M.: Suhrkamp

Spindler (2003) - Helga Spindler: "Überfordern und überwachen", in: sozialextra, H. 8/9, S. 11-14, online unter URL (24.11.2004)
http://www.sozialextra.de/pdf/schnupper09-2003.pdf

Stahlmann (2005) - Günther Stahlmann: 1-Euro-Jobs aus rechtlicher Sicht. Arbeitsgelegenheiten nach § 16 Abs. 3 SGB II, insbesondere Arbeiten mit Mehraufwandsentschädigung, online unter URL (13.12.2005)
http://www2.fh-fuldfa.de/fb/sw/profs/stahlmann/1Euro/1Eurojobs.pdf

Stumberger (2007) - Rudolf Stumberger: Der Hungertod heisst Hartz IV, in: Stern vom 19.04.2007, online unter URL (05.09.2008)
http://www.stern.de/politik/panorama/:Hungertod-Arbeitslosen- T%F6dliche-Gesetzes-Logik/587395.html

Svehla/Simon (2009) - Axel Svehla/Eva Simon: Fragwürdige Hilfe - Lebensmittelspenden hemmen Eigeninitiative, in: rbb Kontraste, Sendung vom 19.03.2009, 21.45 Uhr, online unter URL (20.03.2009) http://www.rbb-online.de/kontraste/archiv/kontraste_vom_19_03/beitrag_ 2.html

Trube (2003) - Achim Trube: Vom Wohlfahrtsstaat zum Workfarestaate - Sozialpolitik zwischen Neujustierung und Umstrukturierung, in: Dahme, H.-J. et al. (Hrsg.), Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat, Opladen: Leske + Budrich, S. 177-203

Uske (1995) - Hans Uske: Das Fest der Faulenzer. Die öffentliche Entsorgung der Arbeitslosigkeit, Duisburg: DISS

Veblen (1986) - Thorstein Veblen: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Frankfurt/M.: Fischer

Vornbäumen (2007) - Axel Vornbäumen: Ökonomisch leben, in: Der Tagesspiegel vom 14.12.2007, online unter URL (15.04.2009)
http://www.tagesspiegel.de/zeitung/Fragen-des-Tages-Hartz-IV- Arbeitslosigkeit-Rechtsextremismus;art693,2438910

Voß/Pongratz (1998) - G. Günther Voß/Hans J. Pongratz: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, H. 1, S. 131-158

Wunderlich (1974) - Dieter Wunderlich: Grundlagen der Linguistik, Reinbek: Rowohlt

Zilian/Moser (1989) - Hans Georg Zilian/Johannes Moser: Der rationale Schmarotzer, in: Prokla, H. 77, S. 33-54

Raute

Diedrich Diederichsen

Kreative Arbeit

Die Idee einer Kreativen Arbeit gilt gemeinhin dem Kapital und seinen Investoren als viel versprechend, weil der in ihr enthaltene Begriff der Schöpfung, der Schöpferischen mit dem Versprechen einer Produktion von Wert aus nichts, einer creatio ex nihilo zu wedeln scheint. Kreativität ist Zauberei - das Gegenteil einer Abarbeitung und Bearbeitung vorgefundenen, vorproduzierten, stets Widerstand leistenden Materials. Die Erfindung, die Geschäftsidee, der Slogan, das Kunstwerk, die Designlösung brauchen, so die Vorstellung, keine teure materielle Voraussetzung, um ihrerseits materielle Folgen zu erzielen. Die Maschinen, Fabrikhallen, Grundstücke, Fuhrparks und Zugangsrechte und all die anderen Voraussetzungen von Produktion können gen Null schrumpfen. Der autopoietische Hirnschmalz verspricht hingegen himmlische Renditen.

Dass dem nicht so ist, dass auch kreative Arbeit so etwas wie Rohstoffe, Bearbeitungstechniken, hochspezialisierte, weil oft emotions- und inspirationsgeführte Feinmechanik, Wissensformen und deren Beherrschung etc. kennt, soll hier nicht Thema sein. Nur soviel: würden die Bestandteile der kreativen Arbeit herausgelöst aus der metaphysischen Holistik einer vom Selbst gesteuerten magischen Produktivität, wäre immerhin schon eine Kleinigkeit gegen die Überforderung derer, die sie leisten, getan. Dann würde auch das kreative Wissen als eine externalisierbare Technik verstanden werden, der gegenüber man sich in einer Metapher des Verfügens verhalten kann, statt mit ihr identisch zu sein. Doch dazu später mehr.

Erst in jüngster Zeit gibt es zwar den Sonntagsreden-Allgemeinplatz, der meint, dass in Bildung und manchmal sogar in Kultur zu investieren, nicht nur kulturell, sondern auch ökonomisch sinnvoll sei. Der Hirnschmalz verliert so etwas von seiner Wunderkraft und wird als Ressource gesehen, die man pflegen muss, wie Maschinen und Wälder. Eine jüngst veröffentlichte Studie der deutschen Bundesregierung beziffert den Sektor kultureller Produktion - also die sozusagen reine kreative Arbeit - bei rund 3% der Bruttosozialprodukts und macht ihn damit sogar zur zweitgrößten Branche nach der Autoindustrie. Doch in den begleitenden Empfehlungen dieser Studie liest man nichts, was über die Vorstellung hinausgeht, dass irgendwie gut ausgebildete Menschen die Produzenten solcher Ideen sein könnten, über die sich die Bundesrepublik Deutschland seit ein paar Jahren in einer von der Deutschen Bank gesponsorten Kampagne selbst definiert, als Land der Ideen nämlich. Aus der Sicht des Kapitals ist aber, so würde ich behaupten, der phantastische Wertschöpfungsfaktor einer creatio ex nihilo gar nicht so entscheidend an der Begeisterung für kreative Arbeit. Zum einen weil der Kapitalist weiß, dass es so etwas nicht gibt. Wenn es überhaupt das mit dem Schöpferischen Assoziierte ist, das ihm an der kreativen Arbeit gefällt, dann eher im Sinne des Marx‹schen Gesetzes von der tendenziell fallenden Profitrate. Dies besagt ja, dass der Anteil menschlichen variablen Kapitals, also der Arbeit, im Verhältnis zum Anteil des konstanten Kapitals bei wirtschaftlichen Wachstum stetig sinkt und damit auch der Mehrwert, denn der entsteht nur aus der Ausbeutung von Menschen. Die kreative Arbeit, so zumindest ihr Mythos, erhöht den nichtmaschinellen Anteil der Arbeit. Der kreative Arbeiter, sofern er abhängig beschäftigt ist, erhöht also den Mehrwert.

Doch auch das ist nicht der entscheidende Faktor. Der Begriff der Kreativität und der kreativen Arbeit ist nicht nur von Haus aus nebelhaft, er ist auch speziell irreführend, wenn man von aktuellen Entwicklungen wie der so genannten Kreativwirtschaft oder den so genannten kreativen Industrien sprechen will. Denn das, um was es eigentlich geht, ist die Umstellung einer des-identifizierten oder nur mittelbar identifizierten zu einer voll identifizierten Produktion. Für diese Umstellung spielen die kreativen Industrien eine bestimmte Rolle, sie sind Vorbilder bei bestimmten Organisationsformen, sie bringen Leute hervor, die einen Job- und Branchen-identifizierten Lebensstil vertreten, aber sie machen nicht den entscheidenden Paradigmenwechsel aus. Und wenn ich sage entscheidend, so meine ich für unser Thema, Entwicklung der Städte, ebenso wie für eine Analyse aktueller kapitalistischer Produktion.

Was meine ich mit identifizierter Produktion? In der Vergangenheit der industriellen Produktion kann man mehrere Stadien und Formen von Identifikation mit der Erwerbstätigkeit unterscheiden. Der ungelernte Arbeiter der industriellen Revolution sah seine Arbeit als auferlegtes Leid in jeder Hinsicht, dies betraf die Tätigkeit als solche, wie auch die Beziehung zum Arbeitsplatz in Bergwerk oder Manufaktur. Er war hundertprozentig des-identifiziert. Der gelernte und gar spezialisierte Arbeiter späterer, differenzierter produzierender Epochen war mit seiner Tätigkeit identifiziert, aber nicht mit seinem Arbeitsverhältnis. Die berühmte Bestimmung der Entfremdung aus der Separation des Produzenten von seinem Produkt ist natürlich für denjenigen Produzenten besonders schmerzhaft, der zur Herstellung seines Produktes ein hohes Maß an spezialisiertem Wissen einsetzt. Er weiß aber auch genauer, worin sie besteht, d.h. er ist gezielter zornig und verfügt über gezielt einsetzbares, avanciertes Wissen. Er ist potenziell revolutionäres Subjekt, weil sich Identifikation und Desidentifikation je in gesteigerter Form in seiner Praxis gegenüber stehen.

In der Produktion des fordistischen Kompromisses nimmt die Desidentifikation mit dem Arbeitsplatz und den Arbeitsverhältnissen ab. Die echten oder vermeintlichen Errungenschaften der Arbeiterbewegung, ihren Parteien und Gewerkschaften, die Tendenz zur fürsorglichen, integrierenden Firma, der Wohlstand der Nachkriegszeit haben dafür gesorgt, dass in den letzten 50 Jahren unter den klassisch abhängig Beschäftigten die Identifikation mit dem Arbeitgeber und den Arbeitsverhältnissen zugenommen hat; der/die Beschäftigte empfindet den Gegensatz zwischen Produzent und Produkt als nicht mehr so gravierend. Das hat aber nicht nur mit einer Aufwertung seines Einflusses in fordistisch-sozialdemokratisch ausgehandelten Mitbestimmungsmodellen, werkseigenen Fußballclubs und anderen Integrationsmodellen zu tun, sondern sukzessive mehr und mehr auch mit einer Abwertung seines spezialisierten Wissens. Dem über ein erworbenes, in Ausbildungsprozessen erworbenes, externes und anwendbares Wissen verfügenden, einigermaßen geschützt lebenden Lohnabhängigen des Westens wird seit einiger Zeit erzählt, dass dieses Wissen nicht mehr viel zählt und dass die globale Konkurrenz seinen Arbeitsplatz eben gerade deswegen bedroht, weil sie entweder ohne ein solches, teures Wissen produziert oder dieses anderswo billiger zu haben ist.

Lohnabhängige identifizieren sich sukzessive weniger mit ihrem Können, ihrem Produzentenwissen und mehr mit dem Arbeitsplatz, der ja ein bedrohter ist. Das Verhältnis von Identifikation und Desidentifikation hat sich tendenziell also während der letzten 30 Jahre gedreht. Zur Identifikation mit dem Arbeitsplatz gehört auch die Tendenz sich mit der eigenen Nationalität eher verbunden zu fühlen als mit der Klasse, lauter Entwicklungen einer proletarischen Defensive, die man in den letzten 20, 30 Jahre beobachten konnte.

Zugleich aber begann jener Wandel, der heute Thema ist. Im Blick auf diejenigen ökonomischen Bestände und Ausbaumöglichkeiten, die weniger von globaler Konkurrenz bedroht zu sein scheinen, entstand die Formel von der Kreativwirtschaft; damit war ja keineswegs nur die unmittelbar kulturelle oder gar künstlerische Produktion gemeint, sondern der kulturell-künstlerische Anteil an Produktion aller Art. Dieser Anteil war auch einer in dem ein Wissen zum Einsatz kommen sollte, das von Haus aus wieder zu genauso einer Identifikation mit der eigenen Arbeit führen müsste, wie das früher bei denjenigen der Fall war, die über ein entwickeltes, spezialisiertes Fachwissen verfügten. Die kreativen Produzenten müssten eigentlich wieder wissen, was sie wert sind. Ihre Fähigkeiten sind noch spezieller, ihr Wissen noch stärker an ihr Verfügen über dieses Wissen gebunden. Und da andererseits ein Einspeisen solchen kreativen Könnens in Produktionsabläufe eigentlich das alte Verhältnis aus hoher Identifikation mit dem eigenen Können und des-identifikatorischer Skepsis gegen das Arbeitsverhältnis und den Arbeitgeber wieder herstellen müsste, wäre mit dem Kreativarbeiter auch wieder ein politisierbares Subjekt geboren.

Doch so verhält es sich nicht; aus zwei Gründen: Zum einen ist dieses neue kreative Wissen und Können nicht in erster Linie Ausbildungskompetenz. Es ist kein Ensemble von Handlungs- und Denkmöglichkeiten, die dem Subjekt als erworbene, externe und objektive Tools vorliegen. Eine Identifikationshandlung im Sinne einer gerichteten Bewegung von identifizierendem Subjekt zu Objekt, der Fähigkeit und dem Wissen davon ist also gar nicht möglich. Das Subjekt hat nicht die Wahl, sich über einen Anteil am objektiven Reichtum des Kompetenzwissens mit diesem zu identifizieren, sondern es ist bereits identifiziert; denn es ist mit seinem Können identisch. Das Können und Wissen der Kreativökonomie wird weniger als ein erworbenes, objektivierbares Ausbildungswissen verstanden als ein unmittelbar mit der Persönlichkeit verbundenes und in ihr lokalisierbares Lebenswissen in eigener Sache. Man kann darum nicht stolz im Sinne eines Leistungsdenkens auf dieses Können sein, sondern kann sich allenfalls narzisstisch mit diesem Können identifizieren - oder aber auch angstbesetzt, in Panik vor dessen lebensbedrohlichem Verschwinden.

Zum zweiten aber ist das Einbringen dieses Wissens in Produktionsabläufe eben nicht mehr eines, das sich starren, aber für ihre unmenschliche Starre mit Verlässlichkeit zahlenden Strukturen gegenüber sieht, in denen sich das alte Verhältnis von eigen und fremd, von mein Beitrag und die Organisation rekonstruieren ließe. Stattdessen arbeitet der/die kreative ProduzentIn ja meistens als UnternehmerIn in eigener Sache, wodurch auch die Organisation zur Selbst-Organisation wird. Das war einst ein Ziel, gemeint war aber damals eben die Organisation davon, wie man über ein Wissen als getrenntes, objektives Arsenal von Handlungsmöglichkeiten verfügen kann, nicht eine durch erzwungene Identifikation zusammenschnurrende Entdifferenzierung im Modus der naturgemäß panischen Subjektivität.

Die KreativhändlerInnen und -arbeiterInnen tragen ihre Persönlichkeit zu Markte, das haben wir gesehen. Doch noch vor kurzem nutzten sie diese in erster Linie, um Symbole und Zeichen zu verarbeiten. Sie konnten diese besser lesen und schreiben als ihre Auftraggeber, weil sie näher an den sozialen Verabredungen der Leute waren, weil sie Szene- und Nachbarschaftswissen hatten und in der Kneipe arbeiteten, wenn sie nicht an Ideen arbeiteten. Doch in der Kreativwirtschaft weicht die Symbolverarbeitung zusehends der Körperverwertung. Damit ist natürlich nicht die Verwertung der Körperleistung gemeint, die in früheren Gesellschaften ja neben der Verwertung von Pferden und anderen Tieren durchaus eine Rolle gespielt hat, sondern von seiner besonderen Präsenz, ja seiner Interface-Funktion. Es geht um die Verwertung des symbolisierten und kulturalisierten Körpers, um den Live-Auftritt derselben symbolverarbeitenden Fähigkeiten, die in der ersten Phase der Kreativwirtschaft noch an Rechner und Leuchttisch zur Geltung kamen.

Natürlich, das muss man neuerdings ja immer sagen, wenn man von Phasen spricht, ist der vorangegangene Zustand nicht erledigt oder verschwunden, auch die andere Kreativwirtschaft gibt es noch. Sie ist die besser bezahlte und auch die stabilere. Die andere, die neuere - und in ihren Regeln eigentlich viel ältere - ist unsicher und prekär. Sie betrifft den Wechsel von der Bedroom-Tüftelei zur Live-Attraktion, vom slicken Design zum sexy Gesicht, ein Wechsel, der sich von der Pop-Musik bis zur Ausgehkultur erstreckt. Der Preis besonderer Daten ist in Bodenlose gestürzt, nur im Zusammenhang mit Live-Auftritten, 3-D-Erlebnissen sind sie noch attraktiv: selbst die Spielkonsolen und ihre Benutzung hat sich verkörperlicht und dreidimensionalisiert. Nicht mehr digitale Musikproduktionsprogramme sind der Hit, sondern die digitale Simulation älterer, prä-digitaler Rock-Musik verkauft sich wie geschnitten Brot.

Die Kneipenbedienungen, ServicecentermitarbeiterInnen, MusikerInnen, Boten, Helfer, Junior-Art DirectorInnen, die in dieser Wirtschaft ihren kulturellen Körper einsetzen sind das Gegenteil des körperlosen, fetten Nerds, der noch in der ersten Generation digitaler Kultur als Klischee eines neuen Phänotyps kursierte oder auch des speedzerfressenen Dot.Com-Selbstausbeuters. Die Identifikation ist bei ihnen eben kein gezielter Akt mehr, sie sind auf ihr Selbstsein zurückgeworfen, alles, was sie tun können, ist es zusammenzuhalten. Kognitive Dissonanzen zwischen Tätigkeit und Bewusstsein lassen sich dann nicht mehr aufrechterhalten, wenn meine Attraktivität (und mit ihr mein ökonomischer Erfolg) darauf basiert, dass ich so reizend ich bin. Die materiellen und physischen Kosten, aber auch die Chancen der Verwertung von Körpern und Physis verbinden die neue Kreativwirtschaft mit einer ganz alten Entertainment-Industrie als Unmittelbarkeitsdealer, wie sie es im Rotlichtmilieu, in Jazzkellern und Kabaretts jahrzehntelang gegeben hat. Nur dass sie nicht von liebenswerten Schrägos organisiert wird, sondern ihre Hauptnutznießer sind weltumspannende Konzerne wie Ticketmaster, die sich über einen regen Unterbau von selbst organisierter Live-Kultur freuen können, die den kulturellen Symbolwert von Live-Kultur und Live-Ereignissen hochtreibt.

Doch für KreativarbeiterInnen im ersten wie im zweiten Sinne gilt vor allem eines: sie sind für sich selbst verantwortlich; sie identifizieren sich nicht souverän, wie jemand, der auch anders könnte: sie sind immer schon das, was sie sein müssen. In Althussers Ideologietheorie gab es ja dieses berühmte dreiteilige Modell, bei dem ein Subjekt in seiner Reproduktionsphase von einer staatlich organisierten Ideologisierungsmangel so zugerichtet wurde, dass es am nächsten Tag wieder in die Fabrik gehen konnte und seine Arbeitskraft so weit mobilisieren, dass sich ein Mehrwert abschöpfen ließ. Kreativarbeiter müssen alles drei zugleich sein: arbeitskräftiges Subjekt, leeres, womöglich zweifelndes, zu prägendes Subjekt und prägendes, beeinflussendes, motivierendes, in die Mangeln nehmendes Unterhaltungs- und Spiritualitätsprogramm. Wenn sie Glück haben, reicht Leere und Selbstentertainment, weil das von außen dann schon aussieht wie sexy Präsenz.

Was hülfe, würde man sich in eine Gewerkschaftsposition gegenüber der Kreativarbeit begeben, was könnte man fordern ohne gleich alles zu fordern? Nun dies: Die Wieder-Versachlichung der personalisierten Techniken, das Verfügen über Rückzugsmöglichkeiten, die Wieder-Aneignung des Selbst durch das Selbst, die De-Ökonomisierung der Seele, des Körpers, der Präsenz, der Sexyness; die Re-Politisierung, Re-Objektivierung, Re-Reifizierung (haha!) von Fähigkeiten, Skills, Wissen.


Diedrich Diederichsen, Publizist/Kulturwissenschaftler, letzte Veröffentlichungen: Eigenblutdoping - Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation, Köln 2008: Über den Mehrwert (der Kunst), Rotterdam 2008; Kritik des Auges, Hamburg 2008; lehrt an der Akademie der Bildenden Künste, Wien, lebt in Berlin und Wien.

Raute

Karl Reitter

Bemerkungen zum Buch "Der neue Geist des Kapitalismus" von Luc Boltanski und Ôve Chiapello

Erschienen ist dieses voluminöse Werk in französischer Sprache bereits 1999, eine erste Übersetzung ins Deutsche im Jahr 2003, eine Taschenbuchausgabe 2006. [Die Zahlen in runden Klammern beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe.] Die erste Welle der zumeist akademischen Rezeption ist verebbt, was rechtfertigt nun eine etwas verspätete Rezeption? Aus der zeitlichen Distanz wird deutlich, dass dieses Buch in den Kontext zweier anderer, ebenfalls umfangreicher Werke zu stellen ist: 2000 erschien "Empire" von Hardt und Negri sowie die Trilogie von Manuel Castells "The Rise of the Network Society" (1996), "The Power of Identity" (1997) sowie "End of Millennium" (1998). (Deutsch 2001, 2002, 2003). Die zeitliche Nähe war kein Zufall. Die Staatsplanwirtschaft in Osteuropa war Geschichte, die Transformation des Fordismus in den Postfordismus vollzogen, die neuen Kommunikationstechnologien, insbesondere das Internet bereits massenhaft in Verwendung. Wenn auch die Intentionen, Methoden und das politische Kalkül dieser Werke unterschiedlich war, so bezogen sich doch alle auf ähnliche Phänomene: nämlich auf die sich in netzwerkartigen Strukturen organisierende Gesellschaft, auf die Bedeutung von Wissen und Information sowie auf die offensichtliche Erosion jener Trennungen, die die Phase bis Ende der 60er Jahre gekennzeichnet hatte: Die Scheidung von Arbeit und Freizeit, von Job und Privatleben sowie von Ausbildung und Arbeit schien tendenziell aufgehoben. Kaum ein Begriff war ohne Präfix wie Neo- oder Post- zu haben. Der Kapitalismus schien sich zu erneuern, aber in welche Richtung und durch welche Dynamik? Rund zehn Jahre später ist es möglich, eine erste Bilanz zu ziehen und somit auch diese Werke erneut einzuschätzen.

Der spannendste Fragenkomplex ist jene nach dem emanzipatorischen Gehalt dieser Entwicklung: Wer oder was hatte den fordistischen Kapitalismus zu diesen Transformationen gezwungen? Führt die Entwicklung zu neuen Freiräumen, zu mehr Autonomie und Selbstbestimmen, ja eröffnete sie - sobald die Treibkräfte einmal erkannt waren - die Chance zu weiterer Transformation? Ermöglichte das Begreifen der sich vor allen Augen abspielenden Veränderungen eine neue theoretische Grundlegung einer linken, antikapitalistischen und emanzipatorischen Sprache und Theorie? In all diese Fragen klinkt sich "Der neue Geist des Kapitalismus" akribisch ein und mobilisiert ein umfassendes, methodisches und begriffliches Instrumentarium. Auf den ersten Blick, den journalistischen Blick wenn ich das so sagen darf, kann dieses Buch sogar für einen kritischen, ja linken Beitrag zur Debatte gehalten werden. Und so wurde es mitunter auch rezipiert. Im Gegensatz zum methodisch schwer zu fassendem "Empire" zeichnet sich diese Arbeit durch eine exakt auf Max Weber aufbauende Methode und Begriffsbildung aus, wie die AutorInnen auch explizit darlegen. Es ist ein in höchstem Maße universitär-akademisch geschriebenes Buch, was seiner Wirkung in der linken Szene wohl abträglich, in dem sich als kritisch verstehenden Teil der Universität hingegen eher zuträglich war. Wer sich die Mühe macht, die über 700 Seiten genauer durchzuarbeiten, dem bieten sich völlig andere Deutungen an. Ist es der Versuch herrschender Eliten, nicht den Kontakt zur Realität zu verlieren, sich zumindest gewisser realer Prozesse zu vergewissern? Ist es ein akademischer Geniestreich, um Hegemonie in der uferlosen Szene der akademischen Expertise-, Beratungs- und Expertenmilieus zu gewinnen? Ist es auch der Versuch, Widerstand und Kritik durch deutendes Verstehen zu vereinnahmen und damit erstmals zu domestizieren? Ist es auch eine Warnung an die Herrschenden, den Bogen nicht zu überspannen und daher die im Buch vorgeschlagenen Reformen zu beherzigen? (Diese recht vage skizzierten "Empfehlungen" (424) umfassen drei Bereiche: Erstens den Vorschlag, die informellen Netzwerkstrukturen ein wenig zu verrechtlichen, zweitens nicht nur die unmittelbare Arbeitszeit zu entlohnen sondern die "Tätigkeit" (430) und drittens die Mobilitätschancen für alle zu erhöhen. Alle diese Vorschläge unterstellen entwickelte prekäre, postfordistische Arbeitsverhältnisse.)


Ihre zentrale These

Die alles fundierende These lautet zusammengefasst: Der Kapitalismus ist aus sich heraus nicht fähig, die Teilnahme der Menschen an ihm zu begründen und legitimieren. "Eine Rechtfertigung des Kapitalismus setzt demnach voraus, dass man auf Konstruktionen aus einer anderen Ordnung zurückgreift." (58) Der "Geist des Kapitalismus" ist also "eine Ideologie ... die das Engagement für den Kapitalismus rechtfertigt." (43) Das klingt auf den ersten Blick durchaus kritisch. Es ist, so ihre These, also nicht selbstverständlich, dass Menschen sich im Sinne des Kapitalismus betätigen. Dazu bedarf es spezifischer Legitimationen. Diese Legitimationen wiederum sind permanent der Kritik ausgesetzt. Kritik ist also der Stachel, der die Formen des "Geistes des Kapitalismus" herausfordert und vorantreibt. Der Kapitalismus muss demnach um die aktive Teilnahme der Menschen zu ermöglichen, auf Kritik reagieren und sie inkorporieren. Das bedeutet umgekehrt: die "Verwerfungen" (575) des Kapitalismus, in wenig eleganter Sprache formuliert, die Missstände, resultieren aus falscher und unzureichender Kritik. Diese neu gedacht und auf den Begriff gebracht zu haben, reklamiert das Buch ja für sich. Was Kritik vermag und was nicht, in welche Richtung sie sich entwickeln sollte - alle diese Fragen werden, so der Anspruch, genau beantwortet.


Was ist Kapitalismus für Boltanski und Chiapello?

Um ihren Ansatz zu verstehen ist es vor allem notwendig, ihren Begriff von Kapitalismus nachzuvollziehen. Kapitalismus ist nichts anderes als das formale Prinzip der unbegrenzten Akkumulation, die ihren Sinn in sich selbst trägt. Kapitalismus ist die Form G - W - G‹ und sonst nichts! Dieses Prinzip ist a-moralisch, karg und dürr, abgespeckt bis auf die Bewegung der Akkumulation. Sinn, lebensweltliche Deutungen, Moralität, Prinzipien der Gerechtigkeit, Legitimationen und Motivationen, all das muss von außen an den Kapitalismus herangetragen werden, ohne dieses Fleisch und Blut könnte er jedoch nicht existieren. Da er permanent wesensfremde Ergänzung benötigt, benötigt er eben einen Geist, der ihn legitimiert, aber zugleich auch begrenzt und zügelt, so ihre These. Sehr schematisch positionieren sich die AutorInnen zwischen zwei ihrer Konstruktionen: "zwischen Theorien nietzscheanisch-marxistischer Prägung, die in der Gesellschaft nichts weiter sehen als Gewalt, Machtverhältnisse, Ausbeutung und Interessenskonflikt und Theorien, die sich eher auf die politischen Vertragsphilosophien beziehen und dabei die Formen der demokratischen Debatte und die Bedingungen sozialer Gerechtigkeit in den Vordergrund stellen ..." (67) Die einen, so können wir diese Konstruktion übersetzten, sehen nur die Akkumulation und ihre Auswirkungen, die anderen nur den Bereich der Legitimation und Motivation. Ich kann nicht sagen, das wäre besonders geschickt gemacht. Abgesehen davon, dass ich mit solchen Theorien noch nie konfrontiert wurde - wer kann ernsthaft behaupten, der Kapitalismus beruhe nur auf Zwang, wer kann im Gegensatz dazu seine Existenz leugnen (ich spreche jetzt von AutorInnen, die ernst genommen werden können) - liegt die Crux in ihrer aparten zwei Reiche Theorie: Auf der einen Seite steht das homöopathisch verdünnte Akkumulationsprinzip, auf der anderen die reiche Welt des Sozialen und des Sinns.

Daher könne Kritik nie systematische Kritik am Kapitalismus selbst sein. Kritik entfalte sich in zwei Schritten. Erstmals setze Kritik eine vorsprachliche "als beklagenswert empfundene Erfahrung voraus..." (79) In nobler Distanz zum Thema lassen es Boltanski und Chiapello erstmals offen, ob die leidvolle Erfahrung bloß subjektiv ist - sie könnte auch anders empfunden werden - oder ob sie einen objektiven Index trägt.

Im zweiten Schritt müssen diese leidvollen Erfahrungen sprachlich formuliert werden. Wenn leidvolle Erfahrung versprachlicht wird, und nur so wird sie zur Kritik, dann muss sie sich entweder in eine der existierenden Formen der Weltdeutungen (Polisformen) einklinken oder neue produzieren. Als artikulierte Kritik bezieht sie ihre Maßstäbe und Postulate, ihre Wertordnungen und Gerechtigkeitsvorstellungen aus sich selbst. Der Kapitalismus ist "... aufgrund seiner normativen Unbestimmtheit doch nicht dazu im Stande, den kapitalistischen Geist aus sich selbst heraus zu erzeugen." (68) Der Kapitalismus selbst ist weder gut noch schlecht, weder gerecht noch ungerecht, weder aufbauend noch zerstörend. Wäre er dies, so könnte er seine eigene, ihm entsprechende Legitimation produzieren. Dazu sei er unfähig: "Er ist auf seine Gegner angewiesen, auf diejenigen, die er gegen sich aufbringt und die sich ihm widersetzen, um die fehlende moralische Stütze zu finden und Gerechtigkeitsstrukturen in sich aufzunehmen, deren Relevanz er nicht einmal erkennen würde." (68) Legitimation wie Delegitimation vollzieht sich jenseits seines Bannkreises. Sowohl die Gründe für die aktive Teilnahme als auch die Gründe für die Kritik am Kapitalismus entstammen also aus Sphären, die dem Kapitalismus wesensfremd sind, das ist die Pointe, die es zu begreifen gilt. Da aber der dominante Geist des Kapitalismus die Verhältnisse prägt, folgt daraus: Der Kapitalismus ist das, was wir aus ihm machen. Wir müssen (und können) ihn nicht überwinden, aber gestalten.

Freilich, ganz eindeutig sind die Formulierungen auch nicht. Der Kapitalismus wird einerseits als formales Akkumulationsprinzip konzipiert, andererseits werden ihm "zerstörerische Begleiterscheinungen" (569) zugesprochen. Der gewählte Ausdruck ist symptomatisch: "Begleiterscheinungen", das zielt nicht auf seinen Kern. Politisch läuft "Der neue Geist des Kapitalismus" auf den Vorschlag hinaus, den Kapitalismus zu zügeln und zu modifizieren. Das ist wohl nicht besonders originell oder aufregend. Spezifisch ist jedoch die Behauptung, alles jenseits des Prinzips der reinen Akkumulation sei außerkapitalistisch. Eine paradigmatische Passage sei dazu angeführt: "Eine der Schwierigkeiten, auf die der Kapitalismus bei der Suche nach Akzeptanz stößt, besteht u. E. darin, dass er sich an die Menschen wendet, die ganz und gar nicht bereit sind, dem Akkumulationsprozess alles zu opfern, weil sie sich eben nicht voll und ganz mit ihm identifizieren und weil sie weiterhin mit anderen Systemen in Kontakt stehen - z.B. familiäre Bindungen, bürgerschaftliche Solidarität, Geistes- oder auch religiöses Leben." (519) Aus der dominierenden und bestimmenden sozialen Beziehung wie bei Marx finden wir uns in einer Welt der sauber getrennten sozialen Sphären mit aparter Eigenlogik wieder. Aber selbst das Prinzip der Kolonialisierung der Lebenswelt durch das System, wie bei Habermas, fehlt.

Andererseits lassen die AutorInnen (und nicht nur in dieser Passage) den Kapitalismus als handelndes Subjekt auftreten. Gut, diese Formulierungen sind Metaphorik, aber auch Metaphorik muss für reale Verhältnisse stehen. Bei Marx ist es klar: Der Kapitalismus ist vom Kapitalisten nicht zu trennen. Der Ausgleich der Profitrate schweißt die feindlichen Brüder zu einer sozial und politisch handelnden Klasse zusammen. Mit ihren Begriffen und in ihrer Sprache konkurrieren diese deutenden Eliten um die Gestaltung prokapitalistischer Politik, sei es auf der Makroebene, sei es auf der Miroebene. Bei Boltanski und Chiapello hingegen stehen die Menschen allesamt vorerst außerhalb des Kapitalismus, wie wir soeben gelesen haben. Die Identifikation erfolge stets in spezifischer Form und Brechung, bestimmt durch den je dominierenden Geist des Kapitalismus, der wiederum nicht aus dem Kapitalismus selbst resultieren kann. Durch welche Handlungsvollzüge wird also die Logik des Kapitalismus eingespeist? In jener Passage, in der die Durchsetzung von Ausschlussmechanismen dargestellt wird, stellen sich die AutorInnen diesem Problem. Ein systematisches Kalkül wollen sie nicht erkennen, stattdessen schlagen sie uns folgende Überlegung vor: "Allem Anschein nach entstehen die Exklusionsprozesse, die im Folgenden beschrieben werden sollen, aus einer Anhäufung von Miromodifikationen und Mikroverschiebungen, an denen von vielen Seiten mit gutem Willen und oft in bester Absicht mitgewirkt wurde." (282) Die Logik des Kapitalismus wirkt als fremder und äußerlicher Sachzwang auf die Dimension des sozialen Handelns, welches für sich genommen stets einer nichtkapitalistischen - wenn auch den Kapitalismus legitimierenden und affirmierenden - Eigenlogik folgt. Handeln die Menschen also aktiv, postulieren sie Werte und verfolgen sie Ziele, so müssen sie einer der Formen der Polis, die sich wohl kombinieren lassen, folgen.


Die Formen der Polis

Bevor wir uns dem meist zitierten Aspekt dieses Buches zuwenden, nämlich den Formen der Kritik, werfen wir einen Blick auf die Formen der cité, wohl etwas unglücklich als Polis übersetzt. Dieser Ausdruck, laut Übersetzer mit den AutorInnen abgesprochen, hat kaum etwas mit der antiken Polis zu tun, sondern meint so etwas wie "strukturierte Öffentlichkeit" (711), was immer dies auch bedeuten mag. Blicken wir näher auf die Beschreibungen der verschiedenen Arten von Polis, so lässt sich dieser Begriff am ehesten mit einem Bündel von Legitimations- und Deutungsvorstellungen in bestimmten Praxisfeldern identifizieren. Bis zur gegenwärtigen Epoche hätte es sechs solcher Muster gegeben. Die erleuchtete Polis, die familiäre Polis, die Reputationspolis, die bürgerweltliche Polis, die marktwirtschaftliche Polis und die industrielle Polis. Eine kapitalistische Polis kann es aus der Schichtweise der AutorInnen klarerweise nicht geben, das bloße Akkumulationsprinzip schafft keine Deutungsmuster und Bewertungsmaßstäbe. Alle angeführten Polisarten sind keine Variation eines übergeordneten fiktiven kapitalistischen Polis, sondern besitzen eine außerkapitalistische Eigenlogik, das ist der Punkt. Die industrielle Polis "gründet die Wertigkeit (...) auf der Effizienz und bestimmt eine Skala professioneller Kompetenz". (63) Diese Polis ist dem industriellen, wissenschaftlichen Fortschritt verschrieben, als Protagonist könnte wohl der Ingenieur gelten. In der marktwirtschaftlichen Polis - der Markt ist für die AutorInnen kein genuin kapitalistisches Prinzip - wäre es der erfolgreiche Kaufmann. Die erleuchtete Polis findet in Authentizität und Aura ihren Maßstab, die familiäre in der sozialen Positionierung in der Familiengenealogie. Die Reputationspolis und die bürgerweltliche Polis beziehen sich auf Bewertungs- und Wertschätzungsprozesse in der Öffentlichkeit. Uns interessieren nun weniger die zahlreichen offensichtlichen Anknüpfungspunkte an soziologische Klassifikationen - die Parallelen mit der protestantischen Ethik als nichtkapitalistischer Antrieb für den Erfolg durch kapitalistisches Handeln bei Max Weber liegt auf der Hand -, sondern die eigentümlich beschränkte Reichweite dieser idealtypischen Konstruktionen. Einerseits beziehen sie sich auf das Wirtschaftsleben im engeren Sinne, andererseits beinhalten sie darüber hinausweisende Momente. Trotzdem lassen sie viele Aspekte, die allen Legitimationsvorstellungen inhärent sein müssen, völlig unberührt. Diese Polisarten liefern bestenfalls bestimmte Elemente, jedoch kein umfassendes Weltbild, das Fragen nach der sozialen und politischen Ordnung, nach Krieg und Frieden, der internationalen Ordnung, der Legitimation der Herrschaftsformen, der Geschlechterverhältnisse und Vorstellungen von Moral und Sittlichkeit usw. beinhalten muss. Selbst wenn Boltanski und Chiapello die familienweltliche und die marktwirtschaftliche Polis zum ersten Geist des Kapitalismus (etwa bis 1930) und die industrie- sowie bürgerweltliche Polis zum zweiten Geist des Kapitalismus (in etwa 1930 bis 1960; Seite 55) kombinieren, so bleiben auch diese Kombinationen weit hinter den tatsächlich notwendig existierenden Gerechtigkeits- und Legitimationsvorstellungen, um in ihrer Sprache zu bleiben, zurück. Zu viele Dimensionen bleiben unbesetzt.


Die Formen der Kritik

Virulent wird diese Reduktion des Ideologischen bei der Bestimmung der Kritikformen, deren Inkorporation schließlich eine siebente Form der Polis und einen dritten Geist des Kapitalismus hervorgebracht haben sollen. Dieser Teil ihrer Arbeit wurde wohl am meisten rezipiert. Boltanski und Chiapello unterscheiden vier Formen von Kritik, die sie in zwei Perspektiven gliedern. Die Künstlerkritik umfasst die Elemente der beklagten Entzauberung, der fehlenden Authentizität und der Unterdrückung von Freiheit und Autonomie; die Sozialkritik die Kritik an der Armut sowie den durch den Kapitalismus provozierten Opportunismus und Egoismus. (80) Obwohl diese beiden Kritikformen durchaus in Kombination auftreten können, besitzen sie, so die AutorInnen, doch eine eigenständige Logik, die sogar zum Konflikt führen kann. Die vorgebrachten Einwände, diese Kritikdimensionen würden sich keineswegs notwendig widersprechen finde ich nicht wirklich überzeugend. Mit Alex Demirovic etwa kann man gegen diese Konstruktion einwenden: "Wenn, wie Boltanski und Chiapello es vorschlagen, die Artikulation der Kritiken allein in zwei Signifikantenketten und die Bildung von zwei leeren Signifikanten, das Soziale und das Ästhetische, in den Blick genommen wird, dann wird die Vielfalt der Kritiken reduziert. Ebenso problematisch ist, dass Boltanski und Chiapello ein Verständnis von Kritik vertreten, wonach die Empörungs- und Unzufriedenheitsmotive a priori die beiden Formen von Sozial- und KünstlerInnenkritik annehmen müssen und legen damit selbst eine gleichsam objektiv bestehende Distanz zwischen beiden nahe. Es wird damit die kulturelle Bedeutung der Sozialkritik ebenso ignoriert wie die soziale Dimension der KünstlerInnenkritik. Zudem bleibt außer Betracht, dass es unterschiedliche soziale Kräfte gibt, die mit diesen Kritiken verbunden sind." (Demirovic, 2008; 35) Vom Standpunkt der AutorInnen könnte dagegen eingewendet werden, dass es sich ja um idealtypische reine Formen handle, deren konkrete Vermischung nicht bestritten wird, im Gegenteil. Auch die Einwände von Lazzarato treffen meines Erachtens nicht den Kern. Lazzarato verweist zu Recht auf die Tatsache, dass es grade KünstlerInnen waren, die massive Sozialkritik aus ihrer ureigensten Perspektive äußerten. Zu behaupten, Sozialkritik wäre KünstlerInnen fremd und äußerlich, verkenne fundamental ihre tatsächliche Existenz und ihre Bedürfnisse. Ein solches Bild vom Künstler und seiner Kritik würde den "im Kulturministerium tagenden Liberalen" entsprechen, nicht der Realität. "... Ungleichheiten durchziehen die so genannten Kreativberufe, welche nach Boltanski/Chiapello die ‹Künstlerkritik‹ tragen, in ihrem Inneren. Keiner der Berufe, die sie als Träger der Künstlerkritik anführen, bildet eine homogene Entität; vielmehr haben wir es mit einem Ensemble von Situationen zu tun, die in ihrem Inneren einer starken Ausdifferenzierung unterliegen, ..." Letztlich, so Lazzarato "... präsentieren uns [Boltanski und Chiapello K.R.] hier eine Neuauflage der Opposition von Freiheit und Gleichheit, Autonomie und Sicherheit ..." (Lazzarato 2007)


Die zwei Etappen der Inkorporation der Kritik. 1968 bis 1975 Sozialkritik, ab 1975 Künstlerkritik

Dass Künstler- und Sozialkritik nicht jenen substanziellen Widerspruch beinhalten, der in manchen Passagen (in anderen keineswegs) bei Boltanski und Chiapello anklingt, ist wohl ein richtiger Einwand. Weit entscheidender ist aber ihre Entsubstanzialisierung der Inhalte dieser Kritiken. (Wer allerdings diese Entsubstanzialisierung mitträgt, kann sie wiederum schwerlich einklagen.) Diese Entleerung und Verharmlosung trägt die eigentliche These: Nach 1968 hätte der Kapitalismus in zwei Etappen auf die geäußerte Kritik der 68er Bewegung reagiert, bis 1975 wäre die Sozialkritik, nach 1975 die Künstlerkritik inkorporiert worden. Diese These funktioniert nur, weil die tatsächliche Kritik der 68er Bewegung verflacht und eingeebnet wird, so weit, dass sie sogar mit der Managementliteratur der 90er Jahre und den konkreten Praktiken des Kapitals kompatibel wird. In der Verzerrung und Verniedlichung der wohl bedeutendsten Rebellion seit 1917 besteht der eigentliche Skandal dieses Buches. Der strategische Einsatz der Begriffe Künstlerkritik und Sozialkritik bei Boltanski und Chiapello erschließt sich aus ihrer Nutzanwendung auf die geschichtliche Entwicklung des Kapitalismus und seiner Transformationen. Mit dem Geist und der Praxis der 68er Bewegung innerhalb und außerhalb Frankreichs hat das Konstrukt dieser zwei Kritiken nichts zu tun. Wollen wir den Geist der 68er Bewegung erfassen, so sollten wir die These der Neuen Linken, wie sie etwa von Gilcher-Holtey in mehreren Studien entfaltet wurde, studieren. Wir könnten auch im Dokumentenband "Das Leben ändern, die Welt verändern", herausgegeben von Lutz Schulenburg blättern, wir hätten all jene zahlreichen Dokumente und Berichte zu lesen, aus denen klar hervorgeht, dass die 68er Bewegung eine radikale Kritik an Institutionen und Formen des Kapitalismus entfaltet: Ob Familie, Kapitalismus und Geld, Staat und Herrschaft an sich, ob die Universität als Institution, letztlich stand das Establishment insgesamt zur Disposition. Ob wir uns heute über diese fundamentale Institutions- und Formenkritik erhaben oder uns noch immer mit ihr verbunden fühlen ist für die These einerlei, dass die Darstellung bei Boltanski und Chiapello diese Aspekte nicht einmal im Keim erfassen will. Form- und Institutionskritik ist nicht vorgesehen. Ungeniert wird etwa das Bedürfnis nach Selbstbestimmung, welches 68 selbstverständlich bedeutete alle kapitalistischen und gesellschaftlichen Formen des bürgerlichen Lebens als Hindernis dafür zu kritisieren, so systemkonform hingebogen, bis es unter anderem mit der Kritik an starren Befehlsstrukturen im Management der 90er Jahre kompatibel wird. Dass sich die Menschen ein Jenseits des Kapitalismus vorstellen konnten und dieses auch anstrebten, ist in ihrer Konzeption der Künstler- und Sozialkritik völlig verschwunden.


1968 bis 1975 Sozialkritik

Sehen wir uns ihre Darstellung näher an. Von 1968 bis Mitte der 70er Jahre, so die AutorInnen, hätte die Reaktion auf die Sozialkritik dominiert. Das heißt, die Unternehmungen wären mehr oder minder auf soziale, ökonomische Forderungen eingegangen. Nun, es ist richtig, dass der Mai 68 und auch das nahe Beispiel der ArbeiterInnenkämpfe in Norditalien zu gewissen ökonomischen Zugeständnissen genötigt hat. Aber ging es den ArbeiterInnen nur oder gar vorrangig um Lohn und Urlaubszeiten? Tatsächlich dominierte die Erkenntnis, dass "die Mauern des Kapitalismus ein Loch hatten" (Rauch, Schirmbeck 1998; 149), dass ein anders Leben möglich schien. Dass die Macht von Kapital und Management in den Betrieben gebrochen werden konnte. Das magische Konzept der "autogestion", der "Selbstverwaltung", implizierte klarerweise einen Bruch mit kapitalistischen Verhältnissen. Selbst wenn Kapitalismus auf das Prinzip der formalen Akkumulation eingeschränkt wird, steht "autogestion" dazu im krassen Widerspruch. Die Explosion der Befreiungsbestrebungen im Mai 68 und in den folgenden ArbeiterInnenkämpfen (so erfolgte die Besetzung der französischen Uhrenfabrik LIP erst 1974) wird auf eine Kritik an autoritären Führungsstilen heruntergebrochen, also ob es um ein erweitertes Konzept der Mitbestimmung gegangen wäre.

So domestiziert können Boltanski und Chiapello den Überschuss über bloße Lohnforderungen durchaus erwähnen. Exemplarisch für Stil und Typus der Darstellung erscheint mir folgende Passage: "Ausgangspunkt [für Konflikte K.R.] waren bisweilen individuelle Streitigkeiten wie z.B. der Protest gegenüber einem Vorarbeiter, er nütze seine Machtstellung aus. Die parallel dazu erfolgten Transformations- und Übersetzungsleistungen der Gewerkschaften mündeten jedoch in ein ‹ökonomisches‹ Forderungspaket, das für die Gewerkschaften interessant war, weil dadurch die vertragliche bzw. kategoriale Basis weiter ausgedehnt werden konnte, und das auch die Arbeitgeber als verhandelbar ansahen." (229) Das Bestreben nach "autogestion", die Überwindung der kapitalistischen Strukturen, wird zum Zoff mit dem Vorarbeiter. Allerdings, und das ist einer der positiven Aspekte des Buches, zeigen die AutorInnen durchaus reale und tatsächliche Faktoren auf. Sie betonen, dass die Inflation es dem Kapital leichter machte "... auch in Lohnfragen spendabler" (232) zu sein. Sie zeigen vor allem die Befürchtung des Kapitals auf, die Gewerkschaften könnten die Kontrolle über ihre Basis verlieren (231), gerade und weil die Gewerkschaften jeden Konflikt in einen ökonomischen "übersetzten". Wer nun nicht die Entleerung und Manipulation beim Begriff der Selbstbestimmung erkennt, hält diese Passagen leicht für eine adäquate und höchst kritische Darstellung der Verhältnisse.


Ab 1975 Künstlerkritik

Die frühen 70er Jahre, so Boltanski und Chiapello, hatten also für das Kapital nicht das gewünschte Ergebnis gebracht. Die ökonomischen Zugeständnisse erwiesen sich als nicht unbeträchtlich und schmälerten den Profit - "Die Rezession der Jahre 1974/75, die die Umsatzzahlen und Gewinnmargen schrumpfen ließ, öffnete den Verantwortlichen die Augen und offenbarte die Kosten der seit 1968 betriebenen Politik" - daher griff die Avantgarde des Kapitals zu neuen Methoden. Dass die Initiative "... von der Avantgarde unter den Arbeitgebern" (235f) ausging, wird explizit bekräftigt. An diesem Punkt findet auch ihre Analyse der Managementliteratur ihren Platz. Diese Literatur, so die AutorInnen, würde das theoretisch formulieren und fordern, was nach 1975 nach und nach Praxis wurde: Produktion und Gesellschaft werden in ein Netzwerk umstrukturiert. Völlig ungeniert wird dabei behauptet, jene Methoden, die starre Hierarchien und bürokratische Lenkungsmechanismen ablösen sollten, seien der 68er Bewegung entsprungen: "Wie uns scheint, reagiert demnach das Neomanagement allem Anschein nach auf die beiden Bedürfnisse nach Authentizität und Freiheit, die historisch gemeinsam von der sogenannten ‹Künstlerkritik‹ getragen wurden, und vernachlässigt demgegenüber die traditionell in der ‹Sozialkritik‹ verbundenen Problemfelder des Egoismus und der Ungleichheiten. (...) Darin lässt sich unschwer ein Echo der antiautoritären Kritik und der Autonomiewünsche erkennen, denen Ende der 60er und in den 70er Jahren mit Nachdruck Ausdruck verleiht wurde." (143)

Boltanski und Chiapello erkennen keinerlei Problem darin, dass, wie sie selbst beschreiben, die Initiative vom Kapital ausging. Ohne Federlesens wird die Kritik an "den herrschenden Arbeitsbedingungen und insbesondere gegen den Taylorismus" (236) mit dem Entstehen der projektorientierten Polis verknüpft und als Realisation der Freiheitssehnsüchte des Mai 68 interpretiert. Der Preis: "In gewisser Hinsicht wurde durch einen Politikwechsel Sicherheit gegen Autonomie eingetauscht. Der Kampf gegen die Gewerkschaften und die Zuerkennung größerer Eigenständigkeit und individueller Vergünstigungen werden mit denselben Mittel, d.h. durch veränderte Arbeitsorganisation und Produktionsprozesse verfolgt." (243) Die AutorInnen sind freilich so realistisch, dass sie die tatsächlichen Verhältnisse nicht unerwähnt lassen können. Dass alle diese Maßnahmen dem "wichtigsten Ziel der Arbeitgeber, nämlich die Herrschaft in den Unternehmen wieder an sich zu reißen" untergeordnet waren, wird ebenso anerkannt, wie die Tatsache, dass "Kontrolle durch Selbstkontrolle abgelöst wurde" (244). Was den Text jedoch durch die inzwischen zahllosen Darstellungen postfordistischer Verhältnisse unterscheidet, ist das Insistieren der AutorInnen auf der These, all diese Entwicklungen hätten die Künstlerkritik des Jahres 68 verwirklicht. Um noch eins draufzusetzen übertiteln Boltanski und Chiapello den Abschnitt über die sozialdemokratische Regierung in Frankreich ab 1981 mit "Die 68er Generation an der Macht." (250) Wenn schon der Begriff der Autonomie jede Entstellung erleiden musste, warum die 68er Bewegung davon ausnehmen? Mit Erstaunen ("paradoxerweise") registrieren Boltanski und Chiapello das Faktum, dass sich die französische Sozialdemokratie als Vorkämpferin der postfordistischen Umgestaltung entpuppt.

Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie in den diversen akademischen Seminaren diese Thesen von völlig ahnungslosen und uninformierten Studierenden bierernst in diverse Seminararbeiten gegossen werden. Ja so sei das halt mit der Kritik; schon verflixt integrativ und dynamisch dieser Kapitalismus... Und ein wenig Ressentiment gegen die Revoluzzer von damals ist auch noch unterzubringen. Tatsächlich findet sich auch die Mär, die 68er wären im Grunde eine Karrieregeneration gewesen. "Oftmals entstammen sie [die neuen Manager] der linken Szene und vor allem der Arbeiterselbstverwaltung." (143) Wenn es nicht so tragisch wäre, wäre es auch amüsant.


Netzwerk und Projekt

Boltanski und Chiapello vermeiden es jedoch geschickt, die neuen Steuerungsmedien der postfordistischen Phase, in der vorgeblich die Künstlerkritik zu realen Verhältnissen geführt hätte, zu analysieren. Die These, Sicherheit wäre gegen Autonomie eingetauscht worden, wäre damit nicht zu halten gewesen. Statt dessen fokussieren sie auf die formalen Strukturen und auf die damit verbundenen neuen Wertmaßstäbe und Gerechtigkeitsvorstellungen. Dass das Netz zur dominanten Struktur wurde, diese These teilen sie mit vielen AutorInnen. Warum sprechen sie nun nicht von einer Netzpolis, analog zur Netzwerkgesellschaft von Castells? Dieses Argument trägt: weil das an sich unbegrenzte Netz keine Strukturen ermöglicht; es ist zu uferlos, zu entgrenzt, um irgendwelche Verbindlichkeiten und soziale Positionierungen zu ermöglichen. Es strukturiert nicht. Im Gegensatz dazu stellt das Projekt einen temporären Knoten im Netz der. Zwar kommt das Projekt aus dem Netz und löst sich darin wieder auf, aber im realen Handlungsvollzug findet sich das Individuum - wir werden noch sehen, welches - in einer Kette von Projekten. An die Stelle der linearen Karriere auf vorgefertigten Leitern, tritt das Vermögen, sich möglichst prominent in Projekte einzubringen, und nach Möglichkeit die Bewährung in einem Projekt als Sprungbrett für weitere zu benützen.

Die Handlungs- und Bewertungsdimensionen ergeben sich also aus der Projektarbeit vor dem Hintergrund des Netzwerkes. Bei der Darstellung der Bewertungskriterien, die die AkteurInnen aus dem Handlungsvollzug im Wechselspiel von Projekt/Netz entwickeln, finden wir Max Webers Methodologie voll entfaltet. "Um sich auf die jeweilige Situation einzustellen, gleichzeitig man selbst zu bleiben und interessant wirken, bedient sich der Netzwerkmensch seiner kommunikativen Kompetenz, seines umgänglichen Charakters, seines offenen und neugierigen Geistes." (160) Der Netzwerkmensch ist "Impulsgeber, ein Lebens- Sinn- und Autonomiestifter" (161) Ich kürze die Aufzählung dieser Qualitäten ab, sie finden sich in jedem Anforderungsprospekt an die Arbeitskraft. Die soziale Situation des Projekts, eingebettet ins Netz, würde eine spezielle Skala an Werten und Gerechtigkeitsvorstellungen generieren, die die AkteurInnen subjektiv für die Beurteilung der eigenen und der fremden Handlungen benutzen würden. So würde z.B. das Zurückhalten von Information und das Monopolisieren von Kontakten als unredlich, das Gegenteil als positiv wahrgenommen. Sehr ausführlich beschrieben nun die AutorInnen die neue Ethik der projektbasierten Polis. Freilich - die unterstellte Autonomie existierte niemals. Zwar wird behauptet: "Die Forderung nach Autonomie wurde in die neuen Unternehmensstrukturen integriert. So konnten die Arbeitnehmer wieder in den Produktivprozess eingebunden und die Kontrollkosten über den Umweg einer Selbstkontrolle verringert werden, in der Eigenständigkeit und Verantwortungsbewusstsein gegenüber Kundenanliegen oder kurzen Produktionsfristen miteinander gepaart wurden. Die Forderung nach Kreativität wurde vor allem von den Angestellten mit hohem Ausbildungsabschluss - Ingenieure, Führungskräfte - erhoben und stieß vor dreißig Jahren auf ein unverhofft positives Echo, ..." (375)

Gegen diese Darstellung wäre einzuwenden: Von Autonomie konnte in keiner Phase die Rede sein, stets waren Vorgaben zu erfüllen. An die Stelle der bürokratisch, administrativen Lenkung traten einerseits die Gewinnvorgaben, andererseits die Evaluation. Zudem stellte diese Art der Pseudoautonomie keine qualitative Neuentwicklung dar, schon das frühkapitalistische Verlagswesen funktionierte nach diesem Prinzip. Verwirklicht wurde jene Art von Autonomie, die es etwa dem Taxilenker frei lässt, wo und wann er seine Kundschaft herumfährt, im Gegensatz zum Lenker eines Linienbusses. Neu hingegen war die quantitative Ausweitung. Es ist schon bezeichnend, dass die AutorInnen in ihrem voluminösen Werk kein Wort über den Übergang zu Markt- und Profitmechanismen als jene Steuerungsmedien verlieren, die, verglichen mit den bürokratischen Abläufen, eine bestimmte Scheinautonomie ermöglichen. Kein Wort zur wuchernden Evaluationswelle, die in bestimmten Bereichen (z.B. Universität) einen wahren Seuchencharakter angenommen hat und dazu zwingt, jeden Schritt und jedes Verhalten durch mehrfache Beurteilungsverfahren zu legitimieren. Entscheidend ist, dass sowohl die Markt- und Profitsteuerung als auch die Evaluationswelle stets integrale Bestandteile der Projekte sind. Diese Kalküle sind dem Projekt keineswegs fremd, sondern bestimmen und durchdringen es permanent. Boltanski und Chiapello hingegen unterstellen durchgehend ein ungetrübtes Ausmaß an Autarkie, so, als ob es sich das Projekt selbst ins Leben rufen (bzw. von einem genialen Netzwerker erdacht wäre) und nur nach eigenen, internen Maßstäben funktionieren könnte.


Krise und Enttäuschung: die Grenzen der projektorientierten Polis

Allerdings können die AutorInnen bereits Ende der 90er Jahre die offensichtlichen Grenzen des "zweiten Geistes des Kapitalismus" erkennen. Auch wenn sie das Phänomen der Projekte kühn mit tatsächlicher Autonomie gleichsetzen, so verlassen sie doch niemals radikal die empirische Basis. Im zweiten Abschnitt des Buches zeigen sie durchaus nüchtern die zweite, wahre Seite der Netzwerkgesellschaft. Es wird klar, dass die Teilhabe am Netz vermittelt über die Perlenkette der Projekte nur die Elite betraf. Die alten fordistischen Arbeitsformen blieben bestehen. "Die verfügbaren Zahlen bieten in der Tat ein kostrastreiches Bild. Zugunsten derer, die an der Taylorisierung festhalten wollen, lässt sich anführen, dass die Fließbandarbeit nicht rückläufig ist und bei den 40- bis 45-Jährigen, die bisher kaum davon betroffen waren, sogar zunimmt. (...) Außerdem hat die Taylorisierung auch im Dienstleitungssektor zugenommen." (263) Leiharbeit wie temporäre Arbeitsverhältnisse würden zunehmen, auch die vorerst behauptete Autonomie wird Schritt für Schritt relativiert. "Die Beschäftigten sind in ihren Arbeitszeiten freier und die Teilzeitarbeit kam vielen Wünschen entgegen. Nichts davon ist falsch. Andererseits sieht die Bilanz der kapitalistischen Transformationen in den letzten Jahrzehnten nicht besonders rosig aus." (308) Hundertfünfzig Seiten später ist der Enthusiasmus nochmals geschrumpft: "Andererseits kann man aber auch nicht die Augen davor verschließen, wie die gegenwärtigen Formen des Kapitalismus die Autonomie begrenzen und in Ansätzen rückgängig machen. Dabei wird das autonome Handeln nicht nur als eine Möglichkeit oder als ein Recht repräsentiert. Man verlangt es gewissermaßen von den Menschen. Deren Wertigkeit immer häufiger an ihrem Selbstverwirklichungspotential gemessen wird." (462) Diese Vieldeutigkeit der Aussagen haben klarerweise einen immunisierenden Effekt. Kritische Einwände können durch Zitate relativiert werden, freilich auf Kosten einer bestimmten Unschärfe der Aussagen. (Ein Beispiel wäre die bereits erwähnte Frage der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit von Künstler- und Sozialkritik.)

Werden die Aussagen und Analysen ein wenig kritisch gelesen, so ergibt sich letztlich folgendes Bild: Der neue Geist des Kapitalismus, also die Werte der Netzwerkgesellschaft und der Projekte betrafen und betreffen eine Elite. Der Abbau der Hierarchien forcierte nicht nur die Selbststeuerung sondern eröffnete auch die Möglichkeit, das teure und selbst nicht arbeitende "Führungspersonal" ein für alle mal loszuwerden. ("Das ‹schlanke‹, ‹verjüngte, ‹abgespeckte‹ Unternehmen [Toyota K.R.] hat die meisten seiner Hierarchiestufen - mit Ausnahme von drei bis fünf - aufgegeben, wobei ganze Hierarchieebenen in die Arbeitslosigkeit entlassen werden." (112)) An die Stelle der bloß überwachenden Abteilungsleiter tritt nun der selbst werkende Projektleiter oder das zentrale Team. Immer wieder wird unverhüllt auch Klartext gesprochen: "Denjenigen, die übernommen werden und ‹dazugehören‹, müssen weiterhin Berufsperspektiven geboten werden und andererseits darf man den anderen, die nur sporadisch benötigt werden und ‹nicht dazu gehören‹ keine falschen Hoffnungen machen." (281)


Ausbeutung

Trotz zunehmend nüchternen und relativierenden Formulierungen, was die tatsächliche Verwirklichung von Autonomie in Projekt und Netz betrifft, halten die AutorInnen an der Bedeutung der Netzwerkstruktur fest. Gerade weil nicht alle in Netz und Projekt eingebunden und diese Strukturen mehr oder minder Eliten vorbehalten sind, gerade deswegen lassen sich spezifische Züge des gegenwärtigen Kapitalismus erkennen: allen voran der neue Typus von Ausbeutung. Ihre These zeigt viele Überschneidungen sowohl mit "Empire" als auch mit Castells Trilogie. Ohne auf die Marxsche Analyse von Mehrwert und seinen Erscheinungsformen einzugehen wird versucht Begriffe wie Ausbeutung, Profit, Produktivität usw. unmittelbar an die neuen Strukturen zu knüpfen. Atmosphärisch wird ohne weitere Begründung ein Zusammenhang zwischen neuen Aspekten der sozialen Ordnung und der Quelle des Profits behauptet. Während Castells die Informationstechnologie als Springpunkt der Produktivität zu entdecken meint, Hardt und Negri das ganze Leben als produktiv erklären ohne nur im geringsten die Unterscheidung zwischen Tauschwert und Gebrauchswert zu berücksichtigen, vermeinen Boltanski und Chiapello schlicht in der Netzstruktur selbst die Ursache des Profits zu erkennen. "Wir werden im Fortgang der Analyse den Gedanken entwickeln, dass der Ausbeutungsbegriff vor allem für eine Welt der Ausbeutung in einer konnexionistischen Welt sinnvoll ist, d.h. einer Welt, in der die Profite über eine Vernetzung der Unternehmenstätigkeit erzielt werden." (391)

Allen diesen Theorieelementen ist eigen, dass sie plausibel sind, weil ja tatsächlich Profit und Ausbeutung irgendwie mit den genanten Faktoren zu tun haben. Über das Irgendwie kommen diese Ansätze jedoch nicht hinaus, aber offenbar fehlt auch der argumentative Druck einer informierten Marxistischen Theorie im akademischen Bereich, um weitere Präzisionen einzufordern. Ausbeutung gründe letztlich auf dem "Mobilitätsdifferenzial" (411) Die Mobilen schöpfen den Mehrwert durch ihre fließenden Bewegungen im Netz, aber ihre Beweglichkeit, ihre Fähigkeit heute hier und morgen dort Kontakte zu knüpfen und Projekte zu produzieren beruhe auf der Immobilität der Anderen. Gäbe es nur noch Netzwerkmenschen würde die feste Basis für ihre Mobilität fehlen. Mobilität der einen setze also die Immobilität der anderen voraus. "Die Ausbeutung bleibt so lange im Unklaren, wie man nicht begreift, dass die Immobilität der einen Voraussetzung für die Mobilität der anderen ist." (400) Einmal entwickelt, wird diese Theorie auf alle Phänomene appliziert. Alles und alle die mobil sind (die Elite, aber auch das fiktive Finanzkapital) schöpfe den Gewinn durch die Ausbeutung der Nichtmobilen (der Nicht-Elite ebenso wie des fixen Kapitals). "Wenn es richtig ist, dass die Immobilität der einen die Voraussetzung für die Profite ist, die andere aus ihrer Beweglichkeit erzielen, und dass die Mobilität Profite bietet, die sich überhaupt nicht vergleichen lassen mit dem, was die Ortsgebundenen auch nur erhoffen können, dann lässt sich behaupten, dass die immobilen von den mobilen Akteuren ausgebeutet werden." (401) Dieser Dualismus von mobil und immobil könne zwar nicht zurückgenommen, wohl aber politisch bearbeitet und modifiziert werden. Auf dieser Basis könnte sich auch die Sozialkritik erneuern, etwa durch den Vorschlag, die Mobilitätschancen aller zu erhöhen. Als positive Maßnahme in diese Richtung wird das RMI (Revenue minimum d‹ insertion) zitiert. Diese Wiedereingliederungsmaßnahme der französischen Regierung ist de facto nichts anders als eine geringe Sozialhilfe, die nur dann gewährt wird, wenn die Klienten einen formalen Vertrag unterschreiben, in dem sie sich verpflichten eigenverantwortlich Aktivitäten zu setzen, um wieder in die Gesellschaft eingegliedert zu werden. Dem RMI liegt also ein Vertrag zwischen der "Gesellschaft", repräsentiert durch die Bürokratie und den so genannten Ausgegliederten zugrunde. Tatsächlich ist dieser Vertrag nur eine Schikane, ein Hartz IV auf Französisch. "Der ‹gegenseitig‹ verpflichtende Vertrag wird zur Farce, es handelt sich - in der Durchführung - um ein typisches einseitig verpflichtendes, öffentlich-rechtliches Unterordnungsverhältnis." (Knecht 2002; 117) Es existiert nebenbei gesagt keine einzige Studie, die die negativen Folgen der Behandlung von Menschen durch die Sozialstaatsbürokratien untersucht, keine einzige! So materialisiert sich eben die Doktrin, dass es sich dabei nur um unterstützende Hilfe handeln kann. Unseren französischen Star-SoziologInnen scheint eine solche Untersuchung auch nicht gefehlt zu haben.


Die Umdeutung der Künstlerkritik

In den letzten Abschnitten ihres Buches wird das Konzept, die Entwicklung des Kapitalismus als Inkorporation der Kritik zu interpretieren, nochmals extrem gedehnt. Alles, und sei es noch so gegensätzlich, wird diesem Schema unterworfen. So wird die behauptete Abwendung von der Massenproduktion mit der Kritik "an der Inauthentizität als einer Vermassung und Uniformierung des Menschen" durch "Mitglieder der Frankfurter Schule, wie T. Adorno, M. Horkheimer und H. Marcuse" (475) unmittelbar in Verbindung gebracht. Wie wurde z.B. die Philosophie Adornos unmittelbar praktisch? So: "Die Massenfertigung wurde so verändert, dass eine differenzierte Warenpalette mit kürzerem Produktionszyklus und schnellerer Veränderbarkeit (...) angeboten werden konnte, die sich von den standardisierte Produktreihen des Fordismus unterschied." (477) Abgesehen von der Bezweifelbarkeit des empirischen Gehaltes dieser Aussage - das Massenprodukt ist nach wie vor zentral - zeigt sich die Methode: suggestiv wird Kritik auf einige Schlagworte verkürzt (Authentizität, Autonomie), deren Einlösung dann kurzum behauptet wird. Nichts soll fehlen. Selbstredend sind die AutorInnen mit der Kritik an der Authentizität, dem Subjekt usw. durch populäre Autoren wie Deleuze und Derrida (beide werden explizit erwähnt) konfrontiert. Wobei, und diese Pointe lassen sich Boltanski und Chiapello nicht entgehen, die Parallelen zwischen dem Rhizom-Begriff und dem Differenzbegriff sowie der Netzwerkstruktur nicht zu übersehen sind. Entscheidend ist aber, dass Kritik von Deleuze, Foucault usw. an Authentizität schlicht als weitere Entwicklungsstufe beziehungsweise Variante der Künstlerkritik rubriziert wird. "Parallel zu ihrer Vereinnahmung durch den Kapitalismus führt die Diskreditierung der Forderung nach Authentizität dazu, dass die neuen Authentiztätsansprüche anders formuliert wurden. Im Anschluss an den Dekonstruktionsprozess konnten diese neuen Ansprüche sich nicht länger ‹nativ‹ geben wie zuvor, als gäbe es tatsächlich noch eine geschützte Ursprünglichkeit. Daher muss die neue Authentizitätsforderung unablässig in ironischer Distanz zu sich selbst formuliert werden." (489) Hier gerät die Chronologie freilich mächtig in Unordnung. Im Mai 68 hatten die später so populären Philosophen wie Foucault, Derrida oder Deleuze absolut keinerlei Einfluss und Bedeutung. Man vergleiche nur das Vorwort des Buches von Daniel und Gabriel Cohn-Bendit, Linksradikalismus (Reinbek 1968), das Journal de la Commune èdudiante von Pierre Vidal-Naquet und Alain Schnapp (Paris 1969) und die diversen Anthologien mit Wandparolen (zum Beispiel Julien Besançon Les Murs ont la parole, Paris, Juni 1968)" (Castoriadis 2009; 62) Erst nach dem Scheitern der 68er Revolte traten diese Theorien in den Vordergrund. Nach Boltanski und Chiapello lag also die Künstlerkritik bis Mitte der 70er Jahre eingefroren auf Eis, wurde dann zuerst in der ursprünglichen Mai 68er Variante inkorporiert um dann, durch die Resultate der Verwirklichung, in der Form ihres Gegenteiles wieder aufzuerstehen.


Resümee

Thema und Anspruch des Buches erfordern eine energische linke, marxistische Gegenkritik. Gesellschaftskritisches Denken, dass ihre Thesen unwidersprochen lässt, gibt sich selbst auf. Gerade weil ich ihre Grundthese prinzipiell richtig finde - der Kapitalismus kann sich niemals zur alles umfassenden Totalität entfalten und ist immer auf Nichtkapitalistisches angewiesen - ermöglicht die Auseinandersetzung mit dem "neuen Geist des Kapitalismus" eine präzise Fragestellung nach dem Wie und Womit.


Karl Reitter ist Redakteur dieser Zeitschrift
E-Mail: k.reitter@gmx.net


Literatur:

Boltanski, Luc; Chiapello, Ôve (2006) "Der neue Geist des Kapitalismus", Konstanz
Castoriadis, Cornelius, (2009) "Mai 68, Die vorweggenommene Revolution", Moers
Demirovi‹c, Alex, (2008) "Kritik und Wahrheit" In. Grundrisse Nr. 26, 31-40, Wien 2008
Knecht, Alban (2002), Bürgergeld: Armut bekämpfen ohne Sozialhilfe", Bern, Stuttgart, Wien
Maurizio Lazzarato, (2007) Die Missgeschicke der "Künstlerkritik" und der kulturellen Beschäftigung, Übersetzt von Stefan Nowotny, http://eipcp.net/transversal/0207/lazzarato/de/print

Raute

A.M. [agora]

Die neoliberale Repression Namens Multikulturalismus

Zizek's Versuch zur Wahrheit der Herrschaft

Die Frage der Multikulturalität - in seiner gesteigerten Form des Politischen: die Frage des Multikulturalismus - hat in einer Zeit, in der sich das Herrschaftliche nun schon seit längerem unter dem Begriff der »Globalisierung« sammelt, neben anderen »identitären Fragen«, einen besonderen Stellenwert eingenommen. Die Frage der Identitäten stellt sich ein Text von Slavoj Zizek unter dem Titel »die repressive Toleranz des Multikulturalismus«, aus seinem ebenso merkwürdig betitelten Buch: »Ein Plädoyer für die Intoleranz«[1].

Die folgende Untersuchung will Zizeks Versuch auf den Grund gehen, die Oberflächlichkeiten im Diskurs über Multikulturalismus zu durchleuchten, ihn noch mal zu Wort kommen lassen, ihn verstehend wiedergeben; mit ihm soll jenen Gedankengängen gefolgt werden, die oftmals als psychoanalytischer Marxismus verstanden wurden, der einerseits mit Hegel und Marx - der Dialektik der politischen Ökonomie - anderseits mit Freud und Lacan - dem unbewussten Sehnen nach dem verlorenen Objekt, der Leere nachgeht.

Bei all dem ist Zizek noch beflügelt von jenem Geist, dessen Tod mit den Worten: »Das ist das Ende der Geschichte« an der Berliner Mauer inszeniert wurde. Die Geschichte endete nicht und tot Geglaubte leben länger. Zizek, der selbst eifrig am Untergang des »Realsozialismus« mitgearbeitet hat[2], reißt noch einmal ganz andere Mauern ein. Mauern, an die mensch sich zwar ständig und unmittelbar anstößt, die jedoch auf den ersten Blick nicht sichtbar sind, weil sie sich wie ein Schleier vor das Tatsächliche stellen. Zizek will Philosoph sein, zur Wahrheit kommen, das Verborgene entbergen. Ob ihm das gelingt, wird abschließend radikal und kritisch in Frage gestellt.


Das Politische.

Es geht Zizek um das Ganze - soweit das Politische das Ganze der Philosophie sein kann, wo nicht, ist Zizek verlassen. Doch es eilen ihm jene zur Hilfe, die das Wort (philosophía) geprägt haben und somit die universale Autorität in jeder Frage des Denkens darstellen: das alte Griechenland[3]. Zizek entlehnt, über den Umweg Jaques Ranciere, den Begriff des demos, d.h. »diejenigen ohne bestimmten Platz im hierarchischen gesellschaftlichen Gefüge«, die »nicht nur forderten, daß ihre Stimme von denjenigen vernommen werde, die an der Macht waren, von denjenigen, die die gesellschaftliche Kontrolle ausübten, das heißt sie protestierten nicht allein gegen das Unrechte (le tort), das sie zu erleiden hatten und wollten, dass ihre Stimme Gehör findet, als Zugehörige zur öffentlichen Sphäre anerkannt werden sollte, auf gleicher Ebene mit der regierenden Oligarchie und Aristokratie stehend; mehr noch: sie, die Ausgeschlossenen, die über keine festgelegten Plätze im gesellschaftlichen Gefüge verfügen, präsentierten sich selbst als die Repräsentanten, die Platzhalter des Ganzen der Gesellschaft, der wahren Universalität« (29 f.).

So sieht für Zizek das Politische in seinem Idealzustand aus und es wird seine Denkbewegung im gesamten Buch bestimmen, ohne dass er es wagen wollte, die Bestimmung des Politischen selbst noch einmal zu befragen. Nicht die herrschende Ordnung solle das Universale anordnen, sondern der partikulare Widerstand, der zunächst ignorierte Teilbereich des Ganzen, das Ausgeschlossene aus dem gesellschaftlichen Ganzen, der »Teil ohne Anteil«, solle in seinem Auflehnen das Universale, das heißt wiederum das Ganze, konstituieren. Das Ausgeschlossene ist somit Platzhalter des Universalen (wobei auch hier nicht besprochen wird, was das Universale sein soll. Vermutlich jene Leere der Psychoanalyse). Der Herrschaft bzw. der Reaktion kommt dabei die Rolle zu, das Auflehnen des Partikularen wieder an seinen (oder anderen) Platz in der Ordnung zu verweisen, ohne dabei die Ordnung selbst in Gefahr zu bringen. Letzteres nennt Zizek gemeinsam mit Ranciere die »Polizei«, die »diese plötzlichen Einbrüche des eigentlich Politischen unterminieren« (31).

Weil es für die Frage des Multikulturalismus von entscheidender Bedeutung sein wird, wird noch einmal rekapituliert, was Zizek genau meint. Er unterscheidet im Wesentlichen das Politische und die Polizei. Das Politische ist dadurch bestimmt, dass es als Ausgeschlossenes von der Gesellschaft in seiner Partikularität darum kämpft, dass sein Kampf, das heißt seine Stimme, als gleichberechtigter Partner in der Diskussion auftritt. Dadurch füllt das Ausgeschlossene, mit seiner Forderung die Leere des Universalen, konstituiert die Gesellschaft. Die Herrschaft zeigt sich als Polizei, wobei hier Polizei in einem sehr weitem Sinn verstanden werden muss, wie es etwa Foucault macht, als Apparat, der das Überwachen und Strafen vollzieht indem er identifiziert, registriert, speichert, gruppiert, die Daten anderen Teilen des Apparats zugänglich macht, diese Daten wiederum normiert, kategorisiert, klassifiziert und der Kontrolle und dem Vollzug, der überall stattfinden kann, übergibt[4]. Der Zweck der Polizei zeichnet sich dadurch aus, dass er die Ordnung bewahren will, jene Ordnung, die den Ausschluss und die Unmöglichkeit der Teilhabe beinhaltet. Sie muss daher für die bestehende Ordnung sorgen, alles und jedes mit seinem berechneten Platz belegen.

Bis hierher scheint es noch recht trivial, auf was Zizek hinaus will. Doch die Herausforderung beginnt dort, wo die Trennlinie zwischen dem Politischen und der Polizei beginnt, die für das ungeschulte Auge unsichtbar zu sein scheint, sich dem Offensichtlichen entzieht: Nur so kann Herrschaft bestehen. Zizek scheint es dabei um die Überwindung von Herrschaft zu gehen.


Das Postpolitische

unterscheidet sich vom Politischen, aber auch von der klassischen Apparatur der Polizei. Es erscheint zwar in den Merkmalen des Politischen, hat aber im Wesen die Funktion der Polizei, es hält die Ordnung aufrecht. Das Politische zeichnete sich genau dadurch aus, dass es das Auflehnen "des Teils ohne Anteil" war, dass es den Rahmen und seine Bedingungen ändern wollte und nicht nur das, was innerhalb des Rahmens ist. Das Postpolitische ist dagegen nur noch scheinbar progressiv. Das Bestreben des Ausgeschlossenen nach dem Gesamtgesellschaftlichen wird bereits im Vorfeld verunmöglicht, indem das Postpolitische dem Begehren zuvor kommt und das Ausgeschlossene selbst bestimmt. Das Postpolitische ist Entpolitisierung. Was das heißt, gilt es im Folgenden zu verstehen.


Postpolitik als Identitätspolitik.

Die Identitätspolitik der Postmodernen sei genau deswegen Unpolitik, weil sie unter der Behauptung und Bestimmung einer partikularen Identität das Subjekt bereits an seinen rechten Platz in der gesellschaftlichen Struktur einordne. »Die postmoderne Identitätspolitik der partikularen (ethnischen, sexuellen und anderer) Life-Styles passt perfekt zu einer entpolitisierten Idee der Gesellschaft, in der jede partikulare Gruppe "etwas gilt", ihren spezifischen Status (eines Opfers) hat, die durch Hilfsaktionen oder andere Maßnahmen, die dazu bestimmt sind, die soziale Gerechtigkeit zu garantieren, anerkannt wird. Die Tatsache, dass diese Art von Gerechtigkeit, die man den zu Opfern gemachten Minderheiten angedeihen lässt, einen komplizierten Polizeiapparat benötigt (um die in Frage stehenden Gruppen identifizieren zu können, um die Übeltäter zur Verantwortung zu ziehen [...] um eine bevorzugte Behandlung zu erwirken, die die Ungerechtigkeit austarieren soll, an der diese Gruppe leidet) - ist äußerst bezeichnend: was gewöhnlich als "postmoderne Politik" gefeiert wird« (58 f.).

Gefeiert wird die Identifizierung des Partikularen, der Identität, bei gleichzeitigem Verweis an seinen gehörigen Ort. Das täuscht doppelt und erreicht somit wieder den Ausgangspunkt: alles bleibt beim gleichem. Zum Ersten täuscht es, indem es jede und jeden unter "seine" Identität stellt, welches in Wirklichkeit dafür erzeugte Kategorien sind; zweitens täuscht es vor, den Identitäten (d.h. den Täuschungen) nun Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, doch in Wirklichkeit jede und jeden genau am selben Ort innerhalb der globalen Ordnung belässt, wo es bereits am Anfang der Prozedur gestanden ist. Somit ist »das postpolitisch liberal-demokratische, globale, kapitalistische Regime das Regime des Nicht-Ereignisses« (59), weil sich in Wirklichkeit, nach all der Prozedur der Pseudopolitik, an den tatsächlichen Verhältnissen nichts geändert hat, sich nichts ereignet hat[5]. Stattdessen gibt es »die postmoderne "Identitätspolitik", die auf die tolerante Koexistenz von ewig sich wandelnden "hybriden" Life-Style-Gruppen setzt, die in endlose Untergruppen aufgespaltet werden (hispanische Frauen in den USA, schwarze Schwule, weiße männliche AIDS-Patienten, lesbische Mütter....) diese immer weiter wachsenden Blüten von Gruppen und Untergruppen in ihren hybriden und flüssigen, wechselnden Identitäten, eine jede auf ihrem Recht beharrend, ihr spezifisches Leben führen zu dürfen und/oder ihre spezifische Kultur auszuleben - eine solche unablässige Diversifikation ist nur möglich und denkbar vor dem Hintergrund der kapitalistischen Globalisierung« (61). Die einzige Verbindlichkeit zwischen diesen konstruierten multiplen Gruppen, so Zizek, »ist die Verbindlichkeit des Kapitals selbst« (ebd.).


Globaler Kapitalismus qua Multikulturalismus.

Die Frage, die in Folge dieser Gedankenbewegung aufgeworfen wird, ist das Verhältnis zwischen dem globalen Kapitalismus - das heißt jenem Kapitalismus, der als Resultat des Übergangs vom Real-Sozialismus zum Real-Kapitalismus weltweit als nunmehr alternativlos da steht - und dem Multikulturalismus als Erscheinung der Postpolitik. Wie dieses Verhältnis von Zizek nun betitelt wird, ist nicht mehr überraschend: "Die Ideologie des globalen Kapitalismus ist der Multikulturalismus." Eine Ideologie, welche die Sphäre des Ganzen als einen berechenbaren Markt beibehält, diesen umschließt und unter die Kontrolle des Kapitals bringt.

Zizek schreibt: »Natürlich ist die ideale Form von Ideologie für einen solchen Kapitalismus der Multikulturalismus, die Einstellung, die von einer Art leerem globalen Platz aus jede Lokalkultur so behandelt, wie der Kolonist die kolonisierten Menschen behandelt - als "Eingeborene", deren Sitten genau studiert werden müssen und die zu "respektieren" sind. Das heißt, dass das Verhältnis zwischen traditionellem imperialistischen Kolonialismus und globaler kapitalistischer Selbstkolonisierung exakt dasselbe Verhältnis darstellt wie das zwischen westlichem Kulturimperialismus und Multikulturalismus« (72).

Wie ist das zuletzt Zitierte zu verstehen? Die Aussage Zizeks beruht auf der Unterscheidung und dem Vergleich von zwei angeblichen Paradigmen des Kapitalismus, des klassischen Kolonialismus und Kulturimperialismus auf der einen Seite, des globalen Kapitalismus und Multikulturalismus auf der anderen, wobei das Erste vom Zweiten abgelöst worden sei. Während wir im klassischen Kolonialismus den Nationalstaat hatten, der kolonialisiert, die Kolonialisierten ausbeutete, die Beute dem Nationalstaat zu Gute führte, geht Zizek davon aus, dass wir mit dem globalen Kapitalismus nun eine Situation haben, wo sich die kapitalistische Firma zum »Herkunftsland« genau so verhält, wie der Kolonialismus zum »fremden Land«. Es gäbe für den globalen Kapitalismus keinen Unterschied mehr zwischen den Nationalstaaten. Alle, inklusive dem »eigenen Land« sind nunmehr gleichberechtigte Objekte des Marktes, deren lokale - d.h. »kulturelle« - Besonderheiten[6] zum Zwecke der Profitmaximierung genutzt werden.

Der Schluss, den Zizek nun zieht, besteht darin, dass der Multikulturalismus aus der selben Position entspringt wie das neue kapitalistische Paradigma: der Multikulturalist behauptet, so wie der globale Kapitalismus, dass er sich zu jeder Kultur gleich verhält, sie als gleichberechtigte Identitäten ansieht - solange sie in der Ordnung bleiben, sich durch das Spiel des Kapitals verbinden lassen. So wie der globale Kapitalismus die Hierarchien zwischen den Nationalstaaten, genauer zwischen den Menschen der jeweiligen Staats- und Klassenrealitäten, der Verteilung von Produktion und Produktionsgütern auf Geographien und Menschenschichten, aufrecht hält, ist der Multikulturalismus ebenso eine »verleugnete, verkehrte, selbstreferentielle Form des Rassismus, ein "Rassismus, der Abstand hält" - er "respektiert" die Identität des Anderen, nimmt das Andere als eine in sich geschlossene "authentische" Gemeinschaft wahr, zu der er, der Multikulturalist, einen Abstand einhält, was sein privilegierte universelle Position belegt« (73).

Das neue am Multikulturalismus gegenüber dem Kulturimperialismus, also das Neue des globalen Kapitalismus gegenüber dem Kolonialismus, bestehe in einer raffinierten Neu-Inszenierung der selben Machtverhältnisse; die Macht habe sich von jeglichem positiven Inhalt freigemacht; angeblich weder zu einer Kultur gehörig noch zu einem Nationalstaat, nimmt sie einen leeren Platz ein. Die Raffinesse wird schließlich damit abgerundet, dass der nun eingenommen Platz exakt jener leere Platz ist, der im eigentlich Politischen dem ausgeschlossen Partikularen zugekommen war, von dem aus das Universale bestimmt wird. Mit der Einnahme des »leeren Platzes der Universalität« hat der Multikulturalismus nun einen strategischen Ort besetzt, der es ermöglicht, von oben herab, das Partikulare (d.h. die Identitäten) zu bestimmen und somit das Politische auf umgekehrtem Wege zu entpolitisieren - ohne dabei die eigene privilegierte Position, d.h. die Ordnung selbst, in Gefahr zu bringen. So ist es begreiflich, was Zizek meint, wenn er sagt: »der multikulturalistische Respekt vor der Besonderheit des Anderen ist eigentlich die Behauptung der eigenen Überlegenheit« (73).

Für das ausgeschlossene Subjekt bedeutet dies, dass es sich in einer Identität wieder findet, in die Lage gerückt ist sich in einer "Kultur" verwurzelt zu fühlen. Es ist von seinem eigentlichen Ort, dem Entwurzelt-Sein, entpolitisiert, aus der "Leere der Universalität" vertrieben worden und dennoch bleibt es in der Wirklichkeit das Ausgeschlossene.

In der Besetzung des leeren Platzes durch die Ordnung selbst beschreibt Zizek in Folge einen schauerlichen Effekt: »Der wahre Schrecken liegt nicht im partikularen Inhalt, der hinter der Universalität des globalen Kapitals verborgen ist, sondern weit mehr in der Tatsache, dass das Kapital tatsächlich eine anonyme globale Maschine ist, die blind ihre Arbeit verrichtet, und dass es auch keinerlei partikularen geheimen Agenten gibt, der sie am Laufen hält. Der Schrecken ist nicht der (partikular lebendige) Geist in der (toten universalen) Maschine, sondern die (tote universale) Maschine ist selbst das Herz eines jeden (partikular lebenden) Geistes« (76). Das heißt, der Schrecken ist nicht, dass hinter dem Kapitalismus tatsächliche profitierende Subjekte (ex)kolonialistischer Nationalstaaten, einer bürgerlichen Klasse, Firmenchefs stecken würden und diese profitierende Subjekte an den herrschenden Vorstellungen von (Hetero-)Sexismus, (weißen) Rassismus arbeiteten, sondern der Schrecken sei vielmehr, dass es der Kapitalismus ist, der als ökonomische Logik und Ordnung jedes Subjekt durchwaltet.

Daraus folgert Zizek, dass »das Problem des Multikulturalismus (der hybriden Koexistenz von diversen kulturellen Lebenswelten), das sich uns heute auferlegt, die Form des Erscheinens des Gegenteils ist, nämlich der massiven Präsenz des Kapitalismus als eines globalen Weltsystems: er bezeugt die beispiellose Homogenisierung der heutigen Welt« (76 f).


Doppelt getäuscht.

Wie im Beispiel von Darin Leaders[7], so Zizek, besteht die Problematik in der doppelten Täuschung, die ihren Zweck und ihre Wirkung darin hat, dass sich kritische Energie in der vorgetäuschten Frage von identitären Differenzen aufhält. Die lenkt wiederum vom Faktum der politischen Ökonomie, dem tatsächlichen Interesse des Kapitals, ab.

Jene kritische Energie, die das Politische sein könnte, ist im Teufelskreis des liberalen Multikulturalismus festgefahren - unfähig zur Kritik. Auf der einen Seite werden Verbrechen toleriert, weil es sich um eine »andere« Kultur handle, die man verstehen müsse, auf der anderen Seite, zwingt es der »anderen« Kultur moralische Werte auf, die das Aufwerten der eigenen Kultur beabsichtigt[8]. Die einst kritische Energie - nun unfähige Kritik - die mit dem liberalen Multikulturalismus zu tun hat, egal ob es das Andere im Namen des Liberalismus toleriert oder es für intolerant hält, landet in der Aporie, die beides nicht zu vollbringen vermag; denn es ist dieser verschlossen zu sehen, dass die Kultur woanders genauso ihre Opfer fordert, dass das Subjekt der »anderen Kultur« im selben Widerstreit mit der Kultur steckt, wie es selbst. Zizek schreibt dazu: »Was der liberale Multikulturalist nämlich nicht begreift ist, dass jede der beiden Kulturen die an dieser "Kommunikation" beteiligt ist, in ihrem eigenen Antagonismus, der diese Kulturen daran hindert, vollständig "sie selbst" geworden zu sein, gefangen ist - und die einzige authentische Gemeinschaft ist die der "Solidarität eines gemeinsamen Kampfes", wenn ich entdecke, dass die Sackgasse, die mich behindert, auch die Sackgasse ist, die den Anderen behindert« (80). Die Sackgasse, die Zizek meint, in die jedes Subjekt überall tretet, ist das Ausgeschlossen-Sein, genauer das Ausgeschlossen-Sein aus - bei gleichzeitigem Betroffen-Sein von - der Maschinerie der politischen Ökonomie.

Statt der Befreiung vom Ausgeschlossen-Sein, feiert der liberale Multikulturalist die Hybridität, die verbindenden, wechselnden Identitäten einer globalen Welt. Das mag vielleicht für den Akademiker mit ökonomischen Möglichkeiten und richtigem Pass ein Erlebnis darstellen, aber nicht für diejenigen, die flüchten mussten und sich in einer neuen Umgebung wieder finden, die ihnen keine erhoffte Freiheit bietet, sondern Schubhaft. Die in eine erneute Bedrohung geraten an jenen Ort abgeschoben zu werden, von dem sie geflüchtet waren. Für diese bedeutet das, da sie nun neben den Gründen der Flucht zusätzliche Misslichkeiten erwarten, die Kontinuität eines Albtraums, was der Multikulturalist als hybride Identität feiert. Die Feier für die, welche Mittel zur Verfügung haben, ist für die, die keinen Zugang zum Kapital besitzen, das Stigma der Ausgrenzung.


Noch einmal: Das Politische und die Politisierung der Ökonomie.

»Der "tolerante" multikulturelle Ansatz vermeidet somit die entscheidende Frage: wie können wir den politischen Raum wieder in die heutigen Bedingungen der Globalisierung einführen?« (83) Die Antwort verläuft entlang dessen, was Zizek bereits am Anfang seiner Überlegungen als das Politische erfasst hat. Es ist die »Infragestellung der konkret existierenden universalen Ordnung aufgrund ihrer Symptome, derjenigen Teile in ihr also, die, obgleich sie der existierenden universalen Ordnung inhärent sind, keinen "eigentlichen Platz" in ihr finden (so etwa illegale Einwanderer oder die Obdachlosen in unserer Gesellschaft)« (87). Es geht also darum, die bestehende Ordnung (Zizek meint dabei stets den Kapitalismus) an Hand seiner Symptome zu dechiffrieren, bei gleichzeitiger Übernahme des Partikularen, des inhärenten Ausschlusses, dem Teil, dem nicht einmal ein Platz in der Hierarchie eingestanden wird, als Zugang zur gesamtgesellschaftlichen Veränderung. Konkret bedeutet das, statt mehr »Rechte für Fremdarbeiter_innen« zu fordern, zu sagen: »Wir sind alle Fremdarbeiter_innen«.

Zizek spricht von Repolitisierung. Es gehe darum, die Hybridität des multikulturalistischen Diskurses, welches das Problem der Ordnung als Problem der Lebensformen sieht, wieder zu politisieren, »die Hybridität als einen Ort des Universalen zu behaupten« (90). Das würde z.B. bedeuten: »Insoweit normative Heterosexualität für die globale Ordnung steht, innerhalb derer ein jedes Geschlecht den ihm abgestammten Platz zugewiesen bekommt, sind queere Forderungen nicht bloß Forderungen, die danach verlangen, daß man ihre sexuellen Praktiken und ihren sexuellen Life-Style in ihren spezifischen Ausprägungen neben andern Praktiken anerkennen solle, sondern etwas, das genau die globale Ordnung und ihre ausschließende hierarchische Logik erschüttert« (ebd.). So wie Judith Butler kraftvoll argumentiert, ginge es darum den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Ökonomie und somit zum Ganzen herzustellen.

Auch wenn Zizek für die Frage der »hybriden« Identitäten den Weg zur Politisierung offen halten will, geht es ihm um etwas anderes. Seine Pointe ist unschwer dem Titel des letzten Kapitels zu entnehmen: »Es ist die politische Ökonomie, Dummkopf!« Hiermit verschließt er wieder, was er noch für das Que(e)re von Judith Butler offen halten wollte: »die heutige Post-Politik [kann] die eigentliche politische Dimension der Universalität nicht erreichen: weil sie nämlich stillschweigend die Sphäre der Ökonomie von der Politisierung ausnimmt« (94). Nicht von ungefähr kommt der Schluss, dass »die entpolitisierte Ökonomie die verleugnete "fundamentale Phantasie" der postmodernen Politik ist« (97). Daher »würde ein eigentlicher politischer Akt notwendigerweise die Repolitisierung der Ökonomie beinhalten« (ebd.). Denn eines will Zizek erkannt haben, dass alle gesellschaftlichen Beziehungen und Formen durchzogen sind von der »unerbittlichen Logik des Kapitals« (95). Spätestens mit dem Schlusssatz von Zizeks Buch beginnt das Fragwürdige: »Kurz: wir plädieren für eine "Rückkehr zum Primat der Ökonomie"« (98).


Die letzte Weisheit.

Die Lektüre wirft einige Probleme auf. Allein die Pointe, das Ökonomische solle wieder das Primäre des Gesellschaftlichen darstellen, steht in schrägem Licht - wenn es darum gehen soll, wie anfangs vermutet, gesellschaftliche Herrschaft zu überwinden. Herrschaft zeigt sich unterschiedlich, hat viele Gesichter. Das ökonomische Verhältnis ist unter diesen ein wesentliches Attribut und dennoch, wie andere Herrschaftsverhältnisse (Rassismus, Sexismus, Ökologie usw.), »nur« eine Erscheinung, ein Sich-Zeigen von Herrschaft, des Willens zur Macht. Dem Willen zur Macht als Herrschaft, d.h. die Unterdrückung und Ausbeutung des Anderen zu sichern, um darin den Genuss der eigenen Existenz zu spüren, seinen Fortbestand zu gewährleisten, steht jedes Mal der Wille zur Freiheit entgegen als Überwindung von Herrschaftsverhältnissen, d.h. Selbstvertrauen im Anderen, Solidarität. Letzteres beflügelt das, was Zizek als »Teil ohne Anteil« stark macht.

Wenn Zizek nun behauptet, die Postpolitik des Neoliberalismus berge die Gefahr der Entpolitisierung der Ökonomie in sich, entsteht das Trugbild andere Herrschaftsverhältnisse hätten sich bereits politisieren oder gar von der Ordnung emanzipieren können. Und es sagt aus, dass es möglich wäre, dass die Politisierung in einem Bereich der Gesellschaft voran geht, während sich ein anderer entpolitisiert. Doch gerade damit ist Zizek bereits in der Entpolitisierung selbst, denn wäre es tatsächlich so, dass ein gesellschaftlicher Aspekt (z.B. die Flüchtlingsbewegung) sich politisiert hat, dann müsste dessen Politisierung zur Überwindung des Gesamtgesellschaftlichen forciert werden, wie Zizek es selbst vorschlägt (»Wir sind alle Fremdarbeiter_innen«). Doch indem er behauptet, dass die Politisierung des Einen eine Entpolitisierung eines Anderen (in dem Fall des Ökonomischen) zu Folge hat, sagt er, dass der politische Kampf der einen per se partikular ist, weil es ihm nicht möglich ist alle gesellschaftlichen Fragen (das Gesamtgesellschaftliche) zu beeinflussen, zu überwinden, während ökonomische Forderungen das angeblich per se könnten. Wäre es tatsächlich so, würde uns Zizek zu einem Missverständnis einladen: wenn sich antirassistische, antisexistische usw. Kämpfe politisiert haben und das Ökonomische entpolitisiert ist, dann stellt sich doch die Frage, was denn überhaupt noch »politisieren« bedeutet? Wenn Politisieren hier eben jener Wille zur Freiheit und zu gleichen Möglichkeiten meint - wobei hier zurecht gefragt werden kann, ob es je in diesem Sinne eine Politisierung gab, ob wir hier nicht von einem Noch-zu-kommenden sprechen - dann bedroht das Politisieren immer die gesamtgesellschaftliche Herrschaft. Wenn es möglich sein sollte, dass sich ein Aspekt politisieren kann, während ein anderer davon unberührt bleibt, dann ist damit der Begriff der Politisierung entleert, weil eben nicht mehr das Gesamtgesellschaftliche gemeint ist, sondern allein ein Attribut davon.

Der Trick, den Zizek hier gekonnt vorführt, ist, dass er einfach die ökonomische Frage zur gesellschaftlichen schlechthin macht, und alles andere zur Täuschung des Gesellschaftlichen erniedrigt. Doch Ökonomie und Gesellschaft sind keine äquivalenten Begriffe, weil die Vollendung der Gesellschaft als deren inhaltliche Bestimmung nicht in der Reproduktion besteht, sondern der Reproduktion geht immer ein Inhalt voraus, um dessen willen re-produziert wird. Die Frage der Arbeits- und Produktions(um)verteilung als materielle Sicherung der Existenz ist tatsächlich eine wesentliche, doch die Existenz des Menschen ist bei weitem mehr als das, wird von unterschiedlichsten Faktoren ermöglicht oder auch vernichtet. Die Frage der Politik ist daher mehr als die der politischen Ökonomie, sie ist die Frage des Mitseins als solches, die Frage, wie das Mitsein zu gestalten ist, wie wir miteinander sein können und vor allem wollen.

Das herrschaftliche Verhältnis im Politischen, das Dasein des Menschen als gewalttätig zur Knechtschaft unterworfen, in all seinen Erscheinungen, das sich überall gleichermaßen zeigt, wo gesellschaftliche Verhältnisse auftreten, ist eine Antwort auf die Frage des Mitseins. Was wäre eine andere?

Wenn in dem Raum, den Zizek in Abgrenzung zum üblichen Diskurs über Multikulturalismus und Identitätspolitik aufgemacht hat, weiter gedacht werden soll, drängt sich immer mehr auf über die Voraussetzungen nachzudenken, die Bestimmungen der Begriffe, die Zizek stillschweigend verwendet - und zwar nicht als formale Syllogismen, sondern in ihrer Bestimmung wie sie im Leben erscheinen. Gerade allgemeine Begriffe wie »Ökonomie«, »Politik«, »Gesellschaft«, »Identität«, »Ordnung« oder gar »Universales« (bzw. »Partikulares«) bedürfen einer solchen inhaltlichen Bestimmung.

Was meint Zizek, wenn er über das Universale spricht? Aus dem Wenigen, das ich lesen konnte, ist es schwer ersichtlich. Wohl meint das Wort das Absolute schlechthin, das Sein an sich als Ganzes. Doch Zizek verwendet das Wort eher im Sinne von Gesellschaft, höchstens als Weltgesellschaft und ist selbst damit noch im Bereich des Partikularen. Wenn er vom Universalen als vom Sein des Menschen spricht, dann meint er nicht das Universale als Ganzes - so müsste er z.B. auch Tiere, Pflanzen, Natur usw. mitbedenken, die gesamte Substanz - sondern einen Teil des Ganzen, ein Partikulares. Wenn Zizek sich gegen die Partikularität als Endprodukt einer Politik wehrt und stattdessen fordert, das Politische müsse als zunächst Partikulares das Ganze (Universale) anstreben, meint er in Wirklichkeit: das Partikulare (ein Bereich der menschlichen Gesellschaft) müsse zwar ein Größeres (die menschliche Gesellschaft als solches), aber immer noch Partikulares (weil nicht das Sein als Ganzes) besprechen. Wie radikal auch Zizek denken mag, er wird in den Grenzen dessen bleiben, was er fälschlicherweise als Universales behauptet, doch das in Wirklichkeit partikular ist. So etwas wie Ökologie, Speziesismus oder metaphysische Fragen zum Ganzen sind mit Zizek nicht zu denken, sind ausgeschlossen. Doch das Ausgeschlossene in Zizeks Denken ist nicht nebensächlich, sondern betrifft das Politische, das Mitsein, weil der Mensch nicht nur mit dem 'zoon logikon' allein unterwegs ist, sondern von allem Seiendem beansprucht ist, mit allem Seienden existiert, weil der Mensch tatsächlich teil hat am Universalen, an der Substanz.


Die Herrschaft der Frage.

Der Raum Zizeks ist mehrfach eingegrenzt, er meint das Politische in den Grenzen des Menschen zum Menschen, das er wiederum auf das ökonomische Verhalten eingrenzt, das Zizek als globalen Kapitalismus betitelt. Innerhalb dieser Begrenzung ist das Kapital die globale Gemeinsamkeit, weil es ein gemeinsames Problem aller Menschen anspricht: das Ökonomische. Schließlich muss jeder Mensch essen, sich vor Witterungen schützen, schließlich hat jeder Mensch Bedürfnisse und Ziele, die unmittelbar mit ökonomischen (Un-)Möglichkeiten zusammenhängen. Deswegen kann Zizek behaupten, dass, egal welche Identität zugesprochen wird, das Subjekt zunächst und zumeist in der Ökonomie verhaftet bleibt. Wenn wir das so annehmen wollten und dem ökonomischen Verhalten das Primat gegenüber Fragen, die als »identitäre« abgetan werden, zugestehen wollten, würde sich eine weitere Frage stellen: Gibt es für den Menschen nicht doch viel schwerwiegendere Probleme als seine Position im Arbeits-, Produktions- und Konsumzusammenhang? Ist nicht für das Subjekt die Frage des Todes, also dass der Mensch die Gewissheit seines eigenen Todes hat und im Bewusstsein, dass sie/er sterben wird und zusehen muss, wie Andere, seine Liebsten sterben (werden) - und keine ökonomische Möglichkeit hat, den eigenen sowie den Tode des Anderen zu verhindern, ist dies nicht ein existenzielleres Problem als das ökonomische? Wie soll mit diesem fundamentalen Problem umgegangen werden? Oder die Frage danach, woher der Mensch kommt und wohin sein ganzes Tun strebt, was das alles soll, dass überhaupt etwas existieren kann, dass es Sein gibt und die damit verbundene Frage nach Sinn, um dessentwillen Menschen massenweise Religionen stiften, diesen massenweise nachrennen und bereit sind, ihr ganzes Kapital hinzugeben, nur um das Gefühl zu haben, dass es einen Sinn für (ihr) Dasein gibt - sollte das nicht ein existenzielleres, universaleres Problem sein? Die Frage nach dem Sinn, ohne dessen Klärung eine Reproduktion der Existenz sinnlos wäre, bedarf keiner Ökonomie.

Diese zwei Beispiele von »Tod« und »Sinn« mögen zeigen, dass es Fragen gibt, die für den Menschen grundsätzlicher und bewegender sein können als das Ökonomische. Zizek soll Recht haben, wenn er behauptet, dass die ökonomische Frage im Hinblick auf »identitäre Fragen«, die er als »Akzeptanz von Life-Styles« denunziert, einen Vorrang hat, weil es ein fundamentales Problem des Menschen rund um den Globus gibt. So wie der Marxismus in dem Recht haben soll, dass die ökonomischen Verhältnisse die Machtverhältnisse in einer Gesellschaft aufzeigen bzw. beide ident sind; doch gibt es noch ganz andere Ohnmächtigkeiten für den Menschen, die zugleich grundsätzlich sein müssten. Die zweifelhafte Logik Zizeks nach Hierarchisierung von Fragen müsste in diesem Sinne gesteigert und dem der Vorrang geben werden, was den Menschen in seinem Dasein am meisten zur Verzweiflung bringt. Im Hinblick auf Themen wie »Tod« und »Sinn« wäre dem Ökonomischen schlussendlich »der Primat« streitig zu machen. Genauso wenig wie die Hierarchisierung von Fragen nach dem vermeintlichen »Oben« ein Ende kennt, hat sie eines nach »Unten«. Das Unten, das Zizek »Identitätspolitik« nennt.

Was die neoliberale Verwässerung von Begriffen und auch Zizek selbst entgeht, ist, dass die Identitäten nicht zufällige, beliebige sind, sondern tatsächliche Körper, die tatsächliche Probleme haben, weil sie wegen ihrer Körper und/oder der Herkunft ihrer Körper systematisierte Gewalt erdulden müssen. Gerade Zizek müsste am Jugoslawien-Krieg, in dem er von Anfang an involviert war, erkannt haben, dass Nationalismen und Rassismen ein unendliches Grauen erzeugen können, das bei weiten nicht mit rein ökonomischen Interessen begründet werden kann, sondern ein unterschiedener Faktor der Gesellschaft ist, eine Eigendynamik und Automatismus im wörtlichen Sinne hat, aus einer Sichtweise auf das Mitsein resultiert, d.h. politisch ist. Apartheid/Rassismus, Patriarchat/(Hetero-)Sexismus kann für das Subjekt derartige Schwierigkeiten bedeuten, die in der empfundenen Verzweiflung weit vor ökonomischen Fragestellungen stehen, d.h. die politisch relevanter sind. Die Problematik des Menschen, des Mitseins, in hegemoniale Zusammenhänge zu stellen, sie zu hierarchisieren, unter einen »Primat«, verkennt nicht nur das Dasein des Menschen, sondern birgt in sich das eigentliche Kernproblem selbst: die Herrschaft.


Zizek der Kapitalist.

Es ist eklatant, wie Zizek sich alle Mühe gibt, die Frage des Multikulturalismus radikal zu denken - doch ist er dabei zu sehr in einem Programm verhaftet, als dass er den Schritt zu jener Wahrheit wagen könnte, um die es ihm offensichtlich geht. Als wolle er gut machen, was er selbst mitzerstört hat, kommt er immer wieder zu den Chorgesängen aus der leninistischen Interpretation des kommunistischen Manifests zurück, zu Dogmen, die seinem Denken die nötige Radikalität rauben, dieses oberflächlich macht.

Zizeks Politik ist, wie alle Politik nach Aristoteles, spätestens die nach der französischen Revolution, in einer Links-Mitte-Rechts Logik verhaftet. Passend zu diesem Schema ist für Zizek die Mitte, der bürgerliche Kapitalismus, der versucht zu erhalten was funktioniert, die Linke, das, was an Hand derer, die Ausgeschlossen sind, das Universale zu Gunsten aller ändern möchte (Fortschritt), während die Rechten (Reaktion) sich am Partikularen festhalten, um zu sichern, was scheinbar abhanden kommt. Das Gemeinsame an Links und Rechts - auch wenn es nicht ausgesprochen wird - soll der Streit zwischen Partikularität und Universalismus sein. Doch es gibt noch eine wesentliche Geistesverwandtschaft, die »Links«, »Rechts« und »Mitte« gemeinsam haben: das Herrschen-Wollen. Hat Zizek gar das gemeint?

Gerade das Beispiel der »reformierten Kommunisten«, die zu Kapitalisten wurden (95), zeigt doch genau das Problem, dass es stets um das Herrschen-Wollen gegangen ist und geht: der Wille zur Macht kennt kein Parteiprogramm: egal wo, egal wann und wie.

Die damalige Dissidenz, die er als das Wahre im Realsozialismus sieht (96) ist Zizek selbst, der eben jener Dissident war. In dem Zizek genau jene Dissidenz stark macht, die er selbst war und somit sich als das Wahre darstellt, den Störer der »fundamentalen Phantasie«, zeigt sich bei Zizek jetzt der Wille zur Macht. Er will uns ein zweites Mal erklären, was Dissidenz bedeutet, wie der Kapitalist wieder zum Parteichef der KP werden kann und sich alle, die sich gestört fühlen, an den psychoanalytischen Marxisten Zizek zu wenden haben. Ihm ist es zuwider, sich selbst als den Willen zur Macht, den gestörten Störer, zu begreifen, der lediglich Anspruch auf Gefolgschaft erwartet, der herrschen will. Dass Zizek Herrschaft und Knechtschaft an sich nicht zu kritisieren, geschweige den zu überwinden vermag, liegt an seinem eigenen Willen zur Macht. Zizek ist selbst der Neurotiker von Seite 94.

Das was »die Leere des Universalen« genannt wurde, ist die Leere der Macht, die im Laufe einer Geschichte so oder so besetzt wurde. Zizek, der als Verkünder und Anführer des Politischen auftritt, ist im Begriff, diesen leeren Platz selbst zu besetzen. Die Einnahme dieses Ortes ist zwangsweise mit einer Ordnung, d.h. mit Herrschaft verbunden. Emanzipation würde dagegen bedeuten, sich selbst und andere von diesem Ort fern zu halten und dies auszuhalten.


Fazit.

Wenn es nun darum gehen sollte, das geringste Übel zu wählen, dann ist Zizeks Versuch »die neoliberale Repression namens Multikulturalismus« als Beibehaltung der bestehenden Ordnung zu entlarven, wohl das Beste, was es zum Diskurs über Multikulturalismus gibt. Wollte mensch jedoch weitergehen und es gar wagen das Bühnen-ZuschauerInnen-Verhältnis an sich zu stürmen, dann würde Zizek selbst von einer Radikalität überrannt bzw. übersprungen, welche tatsächlich jegliche Herrschaft überwinden wollte, damit der Mensch den Raum erhielte, um sich mit aller Kraft noch mal den Fragen des Daseins als Ganzes zu stellen.


Noch einige zusätzliche Gedanken.

An dem Punkt[9], wo Zizek die Ordnung über die handelnden Subjekte stellt, ja sogar über jene Subjekte, die von der Ordnung profitieren, beschwört er eine Art übermenschliche Akteure bzw. Aktivismus. Hier gäbe es viel zum Denken: Wie kann es sein, dass eine tote Maschine die Herzen übernommen hat? Wenn sie doch eine Maschine und tot ist? Um was geht es der unmenschlichen Maschinerie Kapitalismus überhaupt? Was will dieser vom Menschen? Außerdem (und zugleich): Wenn Zizek den Kapitalismus zum Ganzen erhebt, macht er den Kapitalismus zum Ganzen. Doch ist der Kapitalismus das wirklich?

Zizek meint: "Wir sind alle Fremdarbeiter_innen", man(n) könnte auch sagen: "Wir sind alle Frauen". Sind wir das?


Zum Nichtereignis:

In diesem neuen Auftritt des Selben, ganz im Sinne der Dialektik bei Hegel, entsteht nun eine Situation, die sich im Spiel der doppelten Negation - nicht wie in der üblichen Logik vermutet in der selben Wirklichkeit der Ausgangssituation -, sondern im Aufgehobenen wiederfindet. Doch Hegel würde genau darin einsetzen, dass er die Dialektik als Nichtereignis zum schlechten Fortschrittsgedanken des »Und-so-weiter« degradiert; dem gegenüber steht wirkliche Dialektik, die den Widerspruch stets für das Positive aufhebt -> Fortschritt. Problem des Fortschrittsgedankens.

Zur Frage steht, ob das Verborgene im Diskurs, das Zizek entbergen will, nicht tatkräftig verborgen gehalten wird und das Getue der Mulikulturalität in den Vordergrund geschoben wird und doch verborgen bleibt oder ob das Verborgene, der Grund, gar zwangsläufig im Verborgenen liegen muss und wir entweder dem nicht ins Auge sehen können - weil es unerträglich wäre - oder ob wir versuchen mit Scheindiskussionen - formalem Denken wie eben Multikulturalität - dem nachzuspüren, was sich zwangsläufig entzieht.


Literatur:

Slavoj Zizek, Ein Plädoyer für die Intoleranz, Passagen Verlag: Wien, 1998.

[1] Alle Zahlenangabe im Folgenden sind Seitennummern aus: Slavoj Zizek, Ein Plädoyer für die Intoleranz, Passagen Verlag: Wien, 1998.

[2] S.56

[3] Damit beginnt Zizek mit dem Üblichen, mit der herrschaftlichen Annahme, dass alles Denken vom angeblichen Zentrum des Weltgeistes, dem abendländischen Denken, d.h. eben vom alten Griechenland aus, zu beginnen hätte. Eine interkulturelle Auseinandersetzung im Denken, mit der Sache des Denkens (obwohl es gerade um Multikulturalismus geht) wird das ganze Buch hindurch nicht bemerkbar sein. Zizek wird sich eurozentristisch mit der Frage des Multikulturalismus auseinandersetzen.

[4] siehe: Foucault, Michel: Überwachen und Strafen - Die Geburt des Gefängnisses | Suhrkamp: Frankfurt | 1976.

[5] In dieser Nicht-Substanziellen Erfahrung des Nicht-Ereignisses kehrt der Mensch in identitäre Fundamentalismen (Nationalismus) zurück, die sich ihre eigene Bestimmung im radikalen Ausschluss des »Anderen« erhalten. Wenn im Postpolitischen die Rede vom Ende der Ideologien ist, meint das, so Zizek, das Ende der Politik. Von der Leugnung tatsächlich partikulärer Beweggründe bei gleichzeitiger Entpolitisierung profitiert die neu erstarkte Rechte und kommt mit altbekannten Reaktionen, welche die absolute Partikularität im Ausschluss der »Anderen« fordert. Die Propaganda des Postpolitischen, es gehe in einer globalen Welt nicht mehr darum von welcher Ideologie eine Idee hervorgebracht würde, sondern darum, ob sie in der »New World Order« funktioniere, soll die Diskrepanz zwischen dem, was sich als »Rechte« und »Linke« gegenüber stehen, verwischen. Die Ideologie des Gegebenen tarnt sich als Nichtideologie, vermischt die beiden Antworten auf die Globalisierung, die in Wirklichkeit völlig inkompatiblen Logiken folgen, womit die Emanzipation in die Irre geführt wird. Zizek schreibt: »die Rechte beharrt auf einer partikularen gemeinschaftlichen Identität (ethnos oder habitat), die vom Angriff der Globalisierung bedroht wird, wohingegen für die Linken die bedrohte Dimension die der Politisierung ist, der Artikulation "unmöglicher" universaler Forderungen« (40). Das Unmögliche in der »unmöglichen universalen Forderung« meint hier, dass das Partikulare jenes fordert, was für die bestehende Ordnung notwendig als unmöglich erscheinen muss, weil es weder eine Abschottung des Partikulären, noch ein Aushandeln von Interessen, sondern das Ganze als solches zu ändern anstrebt - während eine "mögliche" Forderung immer bedeuten würde, sich noch innerhalb des Rahmens zu befinden. [Wobei hier noch zusätzlich erwähnt werden sollte, dass Zizek das Problem nicht darin sieht, das Menschen Sehnsucht nach Gemeinschaft haben, was die Rechte ausgenutzt hat, sondern in der Abschottung der durch konstruierte Merkmale angesprochenen Gemeinschaft. Es gäbe noch mehr über das Phänomen »Rechte« zu schreiben, was Zizek in seinem Buch auch macht, doch in dieser Arbeit zu kurz kommen wird.]

[6] Dass die lokale Situation der »Anderen« eben stets eine »andere« ist, entlarvt den globalen Kapitalismus als postmodernen Kolonialismus.

[7] In jenem Beispiel gehen eine Frau und ein Mann, die sich kaum kennen, zum Essen aus. Im Restaurant ordert der Mann statt »einen Tisch für zwei«, ein »Bett für zwei«. Die Frau folgert daraus eine Art freudschen Versprecher und denkt sich »der Typ will mit mir gleich ins Bett, das Essen ist nur Täuschung« und geht in Abwehrhaltung. Doch damit täuscht sie sich doppelt, denn der Typ will in Wirklichkeit in Ruhe essen, macht den vermeintlichen Ausrutscher mit dem Bett nur, um beim Essen nicht angemacht zu werden. So ist ihm das (nur) Essen mit ihr im Restaurant gewiss, das für ihn nicht bloße Nahrungszufuhr ist, sondern die eigentliche Befriedigung.

[8] z.B. enden die »Kopftuchdebatten« oftmals in Pointen à la »Bauchfrei statt Kopftuch«. Die Kleidungsvorstellung, die sich auf (oftmals unausgesprochen sexuellen) Vorstellungen des Mannes stützen, sollen im Namen einer pseudoemanzipatorischen Kritik ausgetauscht werden: die Phantasien des »arabischen« Mannes über die Frauen sollen durch die des »europäischen« ersetzt werden, während die patriarchale Herrschaftsverhältnisse selbst unangefochten bleiben. Nuancen des Gleichen.

[9] Im Falle des Kapitalismus entsteht etwas ungewöhnliches, denn »der wahre Schrecken liegt nicht im partikularen Inhalt, der hinter der Universalität des globalen Kapitals verborgen ist, sondern weit mehr in der Tatsache, daß das Kapital tatsächlich eine anonyme globale Maschine ist, die blind ihre Arbeit verrichtet, und daß es auch keinerlei partikularen geheimen Agenten gibt, der sie am Laufen hält. Der Schrecken ist nicht der (partikular lebendige) Geist in der (toten universalen) Maschine, sondern die (tote universale) Maschine ist selbst das Herz eines jeden (partikular lebenden) Geistes« (76).

Raute

Alfred Müller, Günter Buchholz

Ein Vergleich von Neoklassik, Keynesianismus und Marxismus

I. Vorbemerkung

Alle Mitglieder der Gesellschaft sind von wirtschaftlichen Einflüssen und von der staatlichen Wirtschaftspolitik direkt betroffen. Es ist daher für alle Wirtschaftsinteressierte wichtig und interessant zu verstehen, worin die Gemeinsamkeiten und worin die Unterschiede der wirtschaftstheoretischen Modelle bestehen. Erst durch die Kenntnis dieser Denkschulen lassen sich die abweichenden Erklärungen und daraus abgeleitet die kontroversen Handlungsanweisungen für die Wirtschaftspolitik, von denen Laien häufig verwirrt werden, verstehen, einordnen und bewerten. Die hier vorgelegte kommentierte tabellarische Übersicht soll dafür eine Orientierung bieten und das Verständnis für wirtschaftliche Theorieansätze fördern.


II. Einleitung

Sowohl der Marxismus wie der Keynesianismus wurden seit den 70-er Jahren in der Lehre und Forschung weitgehend durch die Neoklassik in Gestalt des Neoliberalismus verdrängt[1]. An den Hochschulen dominieren heute neoklassische bzw. neoliberale Vorstellungen. Ursachen dieser Verdrängung waren aufgrund der Kapitalverwertungsprobleme und der gesellschaftlichen Konflikte mit der Arbeiterbewegung die Übernahme neoliberaler Konzepte durch die herrschenden Eliten, erst in Großbritannien und in den USA und dann in fast allen anderen Ländern. Für die Studierenden, Lehrenden und Forschenden folgt daraus eine einseitige Ausrichtung ihrer Ausbildung und Tätigkeiten und damit die wissenschaftlich unvertretbare Einengung ihrer Analyse- und Urteilskompetenzen. Mit diesem Beitrag hoffen wir, ein bisschen Licht in die Dunkelheit zu bringen und Anregungen für weitere Diskussionen zu liefern. In der Volkswirtschaftslehre lassen sich heute drei geistige Traditionen ausmachen:

- den Marxismus,
- die Neoklassik und
- den Keynesianismus.

Innerhalb dieser wirtschaftstheoretischen Denkschulen gibt es wiederum unterschiedliche Strömungen. Auf diese wird im Folgenden nicht eingegangen. Der Marxismus stützt sich auf die Theorien von Karl Marx[2] und versteht sich als Kritik der klassischen Politischen Ökonomie (Adam Smith[3], David Ricardo[4]) und der bürgerlichen Wirtschaftslehre. Die Neoklassik basiert auf den Gedanken von Jean Baptiste Say[5], von Hermann-Heinrich Gossen[6], von Leon Walras[7] und von Alfred Marshall[8]; der Keynesianismus auf den Werken von John Maynard Keynes[9]. John Maynard Keynes entwickelte seine makroökonomische Kritik an der Neoklassik und ihren Vorläufern - besonders an Jean Baptiste Say - auf der Grundlage der Erfahrungen mit der 1929-er Weltwirtschaftskrise, in der die vorherrschende neoklassische Wirtschaftstheorie die Krise verharmloste und die neoklassisch betriebene Wirtschaftspolitik die Krise verstärkte. Die folgende Übersicht zeigt stichwortartig die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei wirtschaftstheoretischen Konzeptionen. Im Anschluss daran folgen kurze Erläuterungen zu den jeweiligen Zusammenhängen.


III. Tabellarische Übersicht der Wirtschaftstheorien
Nr.
Themen
Marx
Neoklassik
Keynes
1


Wirtschaftsgegen-
stand

Produktion, Verteilung
und Konsumtion
(Reproduktion)
Reduzierung der
Knappheit

Wirtschafts-
kreislauf

2
Wirtschaftszweck
Kapitalverwertung
Wohlstandsmehrung
Wohlstandsmehrung
3
Wirtschaftsproblem
Entwicklungsproblem
Allokationsproblem
Beschäftigungsproblem
4

Philosophische
Charakterisierung
Materialismus

Idealismus

Idealismus

5

Untersuchungsziel

Erklärung der Realität

Aufbau eines
Idealmodells
Erklärung makroökono-
mischer Zusammenhänge
6

Untersuchungsrahmen

Analyse der objektiven
Bewegungsgesetze
Analyse der ideellen
Gleichgewichte
Analyse der
Kreislaufaggregate
7
Untersuchungsansatz
gesamtwirtschaftlich
einzelwirtschaftlich
gesamtwirtschaftlich
8

Wirtschaftssystem

Kapitalismus

Marktwirtschaft
(mikroökonomisch)
Marktwirtschaft
(makroökonomisch)
9

Kapitalbegriff

Kapital = sich selbst
verwertender Wert
Kapital = Wert der
Produktionsmittel
Kapital = Geld für
Investitionsgüter
10

Gewinnherkunft

Aneignung privater
unbezahlter Arbeit
Marktprozess

Marktprozess

11

Rang Produktion -
Markt
primär: Produktion
sekundär: Markt
primär: Markt
sekundär: Produktion
primär: Markt
sekundär: Produktion
12

Marktkoordination

dezentral durch An-
bieter und Nachfrager
zentral durch
Auktionator
zentral durch staatliche
Wirtschaftspolitik
13

Geldfunktionen

Vier - Funktionslehre
des Geldes
Zwei - Funktions-
lehre des Geldes
Drei - Funktionslehre
des Geldes
14


Geldeinfluss auf
die Wirtschaft

Geld beeinflusst realen
Wirtschaftsprozess

Geld hat keinen Ein-
fluss auf den realen
Wirtschaftsprozess
Geld beeinflusst realen
Wirtschaftsprozess

15

Interessenslage der
Wirtschaftssubjekte
Interessensgegensatz

Interessensharmonie

Interessensharmonie
durch Staatslenkung
16

Rolle des Staates

ideeller
Gesamtkapitalist
allgemeiner
Interessensverwalter
allgemeiner
Interessensverwalter
17

Systemstabilität

instabil

stabil, gleichge-
wichtsorientiert
instabil ohne Staat
stabil mit Staat
18

Ursache
Arbeitslosigkeit
systemintern

systemexogen

systemintern

19

Ursache
Wirtschaftskrisen
systeminterne Über-
akkumulationsdynamik
systemexogene Schocks
& Eingriffe
systemexogene
psychologische Motive
20
Ursache Inflation
reale Ursache
monetäre Ursache
reale Ursache
21

Systemerhaltung

weder wünschenswert,
noch möglich
erforderlich

wünschenswert

22
Systemalternative
Sozialismus
besteht nicht
Systemmodifikation
23
Systemüberwindung
durch Klassenkampf
schädlich
nicht erforderlich

IV. Erläuterungen

1. Wirtschaftsgegenstand

Über das, was Wirtschaften bedeutet, bestehen unterschiedliche Auffassungen. Einig sind sich die Neoklassiker und die Keynesianer: Für sie bedeutet Wirtschaften die Reduzierung von Knappheiten. Da Güter nur begrenzt zur Verfügung stehen und nicht ausreichen, um die Bedürfnisse zu befriedigen, ist es die Aufgabe der Wirtschaft, die begrenzt verfügbaren Güter den Bedürfnissen anzupassen. Wirtschaften ist für sie eine Wahlentscheidung, die auf alle Lebensbereiche übertragbar ist. Der Mensch wirtschaftet, wenn er seine knappen Mittel mit seinen Bedürfnissen in Einklang bringt, egal ob dies im künstlerischen, privaten, kulturellen oder betrieblichen Bereich erfolgt. Der Mensch ist ein rational handelndes Wirtschaftssubjekt (ein homo oeconomicus), der seine Wahlentscheidungen nach ökonomischen Prinzipien (mit gegebenem Mitteln einen möglichst großen Erfolg [Maximierungsprinzip] oder einen bestimmten Erfolg mit möglichst geringem Mitteleinsatz [Minimierungsprinzip] erzielen) ausrichtet. Dieses Interesse, so die These der Neoklassiker und Keynesianer, naturgegeben, ewig vorhanden und besteht unabhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen Herrschaftslage.

Keynes geht in seiner Ökonomieauffassung weiter als die Neoklassiker. Das Knappheitsprinzip erkennt er mikro- aber nicht makroökonomisch an. Makroökonomisch bezieht sich das Wirtschaften zusätzlich auf die Berücksichtigung von Kreislaufzusammenhängen. Für Marx bedeutet Wirtschaften die Güterherstellung und -verteilung und der Güterverbrauch. Entscheidend sind für Marx die sozialen Abhängigkeitsverhältnisse im Güterherstellungs-, Güterverteilungs- und Güterverbrauchsprozess. Danach bestimmen sich die Interessen der beteiligten Personen, die wiederum die Produktions- und Verteilungsrichtung festlegen.


2. Wirtschaftszweck

Auch hier trennen sich die Vorstellungen. Nach Marx ergeben sich die jeweiligen Wirtschaftsziele aus den entsprechenden Wirtschaftssystemen. Daher sind sie zeitgebunden und nicht von Dauer. Da gegenwärtig das kapitalistische System dominiert, besteht das Wirtschaftsziel in der Kapitalverwertung. Anders sehen dies die Neoklassiker und Keynesianer. Für sie ist das gesamtwirtschaftliche Wirtschaftsziel, abgeleitet aus der Knappheitsminderung, die Wohlstandsmehrung und daher unabhängig von Zeit und Raum auf Ewigkeit vorgegeben. Auf Mikroebene streben, den Neoklassikern und den Keynesianern zufolge, die Unternehmen die Gewinn- und die Haushalte die Nutzenmaximierung an. Da jedoch nach Smith[10] das unternehmerische Gewinnstreben zum allgemeinen Wohlstand führt, besteht zwischen dem Gewinn- und dem Wohlstandsstreben kein Unterschied.


3. Wirtschaftsproblem

Im Mittelpunkt der Neoklassik steht das statische Allokationsproblem: Nach welchen Gesetzen werden gegebene knappe Ressourcen auf alternative Verwendungsmöglichkeiten verteilt? Keynes wandte sich vom Allokationsproblem ab und der Frage zu, wie die Arbeitslosigkeit erklärt und behoben werden kann. Marx ging noch einen Schritt weiter. Er interessierte sich für das volkswirtschaftliche Geschehen im Zeitablauf, für die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Wirtschaft und damit insgesamt für deren Entwicklungsprobleme. Damit verlagerten sich die Schwerpunkte im Zeitabschnitt von Marx bis zur Neoklassik von der Entwicklungs- zur Preistheorie.[11]


4. Philosophische Charakterisierung

Materialismus heißt, primär das Sein der Gesellschaft zu analysieren und nur sekundär ihr Bewusstsein. Idealismus heißt umgekehrt, primär am Bewusstsein, an der Idee als objektiv Wirklichem anzusetzen und sekundär an der realen Gesellschaft. Daher hat der Materialismus einen objektiven und der Idealismus einen subjektiven Charakter. Marx analysiert die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft im Sinne einer objektiven, dialektisch strukturierten Totalität. Diese hat systemischen und dynamischen Charakter; das Handeln der Subjekte in ihr vollzieht sich in diesem Rahmen systemisch-rational. Subjekt des Systems ist der "Wert" im Sinne einer Realabstraktion[12]. Idealismus hat das menschliche Bewusstsein zum Ausgangspunkt; daraus ergibt sich dann die Gesellschaft als Konstrukt. Dies charakterisiert die liberale ökonomische Theorie in zweierlei Varianten: erstens Neoklassik, zweitens Keynesianismus. In der Neoklassik wird der Ausgangspunkt als strikt rational und individualistisch verstanden. Die homines oeconomici fällen subjektive und rationale Entscheidungen, aus denen sich - jedoch nur im mathematischen Modell - ein allgemeines Marktgleichgewicht ergibt. Diese individualistische Vorgehensweise wird von Schumpeter als "methodologischer Individualismus"[13] bezeichnet. Danach lassen sich alle ökonomischen und sozialen Phänomene auf individuelle Handlungen zurückführen. Aus dieser Grundidee leiten die Neoklassiker Forderungen nach Eigenverantwortung und Zurückdrängung gemeinsamer Formen ab. Bei Keynes wird das Axiom des homo oeconomicus durch psychologisch-statistische Annahmen im Hinblick auf das kollektive Verhalten von Gruppen ersetzt, nämlich der Konsumenten, der Investoren, der Rentiers (d. h. der Großvermögensbesitzer) und des Staats. Die Akteure (mit Ausnahme des Staates) treffen irrationale oder beschränkt rationale Entscheidungen und die Aggregate dieser beschränkt rationalen Entscheidungen werden im Konstrukt der makroökonomischen Modellierung mathematisch im Zusammenhang dargestellt und untersucht.


5. Untersuchungsziel

Ziel von Karl Marx ist die Erklärung des Wirtschaftsprozesses. Ihm geht es darum, die Bewegungsdynamik der kapitalistischen Produktionsweise zu analysieren, Kausalgesetze zu finden und daraus Problemlösungsansätze zu entwickeln. Die Neoklassiker haben als Hauptuntersuchungsziel den Aufbau eines Idealmodells, das mit oder ohne Absicht die wirtschaftlichen Herrschaftsverhältnisse verschleiert und die bestehende Wirtschaftsweise rechtfertigt. Die Keynesianer akzeptieren die neoklassische Mikroerklärung bei Vollbeschäftigung und erweitern sie um eine gesamtwirtschaftliche Analyse der Geldwirtschaft, mit deren Hilfe sie die Instabiliäten erklären.


6. Untersuchungsrahmen

Die Marx'sche Untersuchungsmethodik ist dynamisch und dialektisch angelegt. Das Ziel von Marx ist nicht die Erklärung statischer Bedingungen, sondern die Untersuchung der Bewegungsdynamik der kapitalistischen Wirtschaft und die Analyse der widersprüchlichen Entfaltung politökonomischer Größen. Im Zentrum der neoklassischen Untersuchungsmethodik steht dagegen die mathematische Gleichgewichtsanalyse. Da Märkte den Neoklassikern zufolge zum Gleichgewicht tendieren, geht es darum, deren Gleichgewichtsmerkmale und -voraussetzungen zu bestimmen. Die Keynesianer siedeln sich zwischen der marxistischen und neoklassischen Untersuchungsmethodik an. Einerseits dominieren bei ihnen aufgrund der Übernahme der neoklassischen Mikrotheorie die Gleichgewichtsbetrachtungen. Andererseits erweitern sie die Untersuchungsmethodik um Unsicherheiten, gesamtwirtschaftliche Nachfragedefizite und psychologische Verhaltensannahmen, die die Instabilitäten in der Gesamtwirtschaft logisch erzeugen.


7. Untersuchungsansatz

Bei den Neoklassikern leitet sich das gesamtwirtschaftliche Geschehen widerspruchsfrei aus dem einzelwirtschaftlichen Verhalten der Unternehmen und der privaten Haushalte ab. Keynes akzeptiert dieses Ergebnis nur für die vollbeschäftigte Wirtschaft. Er bestreitet in der Geldwirtschaft die Gültigkeit des Say'schen Theorems, wonach das Angebot sich seine Nachfrage schafft, und stellt über die Analyse der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage folgende Gegenthese auf: Die Nachfrage schafft sich das Angebot. Der analytische Ansatz von Marx ist von vornherein makroökonomisch geprägt, weil seines Erachtens erst auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene die Kausalzusammenhänge der kapitalistischen Wirtschaft erfasst werden können. Das Say'sche Theorem wird von ihm verworfen.


8. Wirtschaftssystem

Für die Neoklassiker reduziert sich die gegenwärtige Wirtschaft auf die Marktwirtschaft. Der Staat hat nur Nachtwächterfunktionen. Seine Aufgaben beschränken sich auf Sicherung der Systemstabilität, Außenschutz und Rechtsordnung. Die Keynesianer erweitern die Marktwirtschaft um die Geldwirtschaft und übertragen dem Staat die Rolle der wohlstandssichernden Wirtschaftslenkung. Auch für Marx ist wie bei den Keynesianern die geldliche Marktwirtschaft ein wichtiges Element des gegenwärtigen Wirtschaftssystems. Aus der geldlichen Marktwirtschaft und dem damit verbundenen Konkurrenzdruck ergibt sich der Zwang zur Profitmaximierung. Weitere wichtige Wesenselemente sind nach Marx die Herrschaftsverhältnisse im Produktionsbereich: das heißt, der Minderheitenbesitz an Produktionsmitteln und der Arbeitskraftverkauf der besitzlosen Erwerbstätigen gegen Geldlohn (die Lohnarbeit). Er bezeichnet diese Wirtschaft als kapitalistische Wirtschaft, weil auf der Grundlage der aufgezeigten Systemmerkmale die Kapitalvermehrung durch Geldeinsatz zwecks Gewinnvermehrung, also die Akkumulation, die zentrale Antriebskraft des Wirtschaftens und deren Dynamik darstellt.


9. Der Kapitalbegriff

Marx sieht in der Wertvermehrung und damit im Profit die entscheidende Antriebskraft der gegenwärtigen Wirtschaftsweise. Wird viel Profit erwirtschaftet, geht es der Wirtschaft gut. Wird wenig Profit erwirtschaftet, geht es der Wirtschaft schlecht. Marx bezeichnet den sich selbst verwertenden Wert als Kapital und das dazugehörige Wirtschaftssystem als kapitalistische Produktionsweise. Durch die Wertvermehrung erhält das System bei Marx eine Verselbständigung und Eigendynamik, die die Bewegungsrichtung der Wirtschaft weitgehend festlegt. Die handelnden Wirtschaftsubjekte sind dabei genötigt, der objektiven Logik des Systems bzw. seinen "Spielregeln" zu folgen. Kapital ist prozessierender Wert und nimmt im Kreislauf seiner Selbstverwertung wechselnde Formen an: Geldkapital, Produktivkapital, Handelskapital. Neoklassiker und Keynesianer reduzieren den Kapitalbegriff auf technische und finanzielle Einheiten. Unter "Kapital" verstehen die Neoklassiker Investitionsgüter und die Keynesianer Geldmittel für Investitionszwecke. Damit entfernen sie das Herrschaftsverhältnis und die Dynamik aus dem Kapitalbegriff und machen das kapitalistische Wirtschaftssystem zu einer (relativ) geschichtsunabhängigen Dauereinrichtung.


10. Gewinnherkunft

Neoklassiker und Keynesianer leiten den Gewinn nicht aus der Produktion, sondern in unklarer, nicht näher spezifizierter Weise aus dem Markt ab. Marx betont demgegenüber, dass der normale Tauschprozess auf den Märkten durch das Prinzip der Äquivalenz beherrscht wird. Tausch von äquivalenten Werten schließt aber einen Gewinn über den Markt logisch aus. Also muss nach Marx die Quelle des Gewinns, der vom Markt zu stammen scheint, außerhalb der Marktsphäre liegen: in der Produktion. Gelegentlich wird von den Neoklassikern auch auf die sogenannte Drei-Faktoren-Theorie und die Faktorknappheit zurückgegriffen. Der Gewinn soll irgendwie durch die Kombination von Arbeit, Produktionsmitteln und Boden oder durch Faktorknappheit entstehen. Die Erklärung bleibt aber völlig unklar. Tatsächlich sind diese "Gewinnbestimmungen" völlig unhaltbar und schon Marx hat sie in seiner Gewinnanalyse kritisiert[14]. Nach Marx besteht die kapitalistische Wirtschaftsweise aus einer marktgesteuerten Wirtschaft, in der eine Minderheit der Bevölkerung die Produktionsmittel besitzt und die Mehrheit der Erwerbstätigen aufgrund ihrer Besitzlosigkeit ihre Arbeitskraft an die Produktionsmittelbesitzer gegen Entgelt verkaufen muss. Der Gewinn ergibt sich in dieser Wirtschaftsform daraus, dass der Tauschwert der Arbeitskraft entgolten wird, und die Mehrleistung aus der Nutzung der Arbeitskraft im Arbeitsprozess, der Mehrwert, dem Produktionsmittelbesitzer gehört. In diesem Sinne entsteht der Gewinn trotz Äquivalententausch der Ware Arbeitskraft aus der privaten Aneignung der unbezahlten Arbeit der Besitzlosen durch die Besitzenden, die Kapitalisten. Er resultiert aus dem unmittelbaren Produktionsprozess und wird durch Lohnsenkungen, Arbeitsintensivierungen, Arbeitszeitverlängerungen und durch Produktivitätserhöhungen gesteigert.


11. Rang Produktion - Markt

Die Produktion besitzt bei den Neoklassiken und den Keynesianern eine untergeordnete Rolle. Der Markt bestimmt das Geschehen und die Produktion passt sich dieser Entwicklung an. Bei Marx verhält sich die Rangordnung umgekehrt. Die Gewinnproduktion ist für ihn das entscheidende Element. Sie bestimmt die Wirtschaftsdynamik und das Marktgeschehen. Der Markt als Ort des Tausches passt sich der Gewinnproduktion an und kann allenfalls Entwicklungen verstärken oder abschwächen, aber nicht die Richtung bestimmen.


12. Marktkoordination

Für die Neoklassiker gewährt die "unsichtbare Hand", hinter der sich ein zentraler, aber fiktiver Auktionator verbirgt, die gleichgewichts- und wohlfahrtsoptimierende Marktkoordination. Die Keynesianer ersetzen diesen unsichtbaren Auktionator durch den Staat, der für Marktstabilität, Vollbeschäftigung, Krisenfreiheit, Gerechtigkeit und Wohlbefinden zu sorgen hat. Marx und auch die an Keynes anschließenden Theoretiker sehen dagegen den Markt als einen anarchischen Ort, bei dem die dezentralen Anbieter und Nachfrager aufgrund ihrer unvollkommenen Informationen keinen Überblick über das Gesamtgeschehen haben und aufgrund ihrer Unsicherheit keine Zukunftsinformationen besitzen, sodass die Erwartungen instabil bleiben. Gleichzeitig sorgt nach Marx die Geldware dafür, dass jederzeit Geldhortungen und damit Störungen des Austauschprozesses auftreten können. Bei Keynes gibt es sehr ähnliche Überlegungen. Dabei unterscheidet Marx zwischen der Krisenmöglichkeit und der Krisennotwendigkeit. Die Krisenmöglichkeit ergibt sich aus dem monetären Tausch und die Krisennotwendigkeit aus dem profitgesteuerten Akkumulationsprozess.


13. Geldfunktionen

Das, was Geld ist, bestimmt sich durch seine Funktionen. Die einzelnen Schulen sehen die Geldeigenschaften sehr unterschiedlich. Geld hat bei den Neoklassikern nur zwei Funktionen: Zahlungsmittel und Recheneinheit. Mit diesen Eigenschaften sichern die Neoklassiker über den Geldverkehr den störungsfreien Marktablauf und die Aggregation unterschiedlicher Größen. Für die Keynesianer und die Marxisten ist diese gleichgewichtsorientierte Zwei-Funktionslehre des Geldes völlig unzureichend. Geld ist aus ihrer Sicht nicht nur Zahlungsmittel und Recheneinheit, sondern auch Wertaufbewahrungsmittel. Wenn das Geld nicht ausgegeben wird, dann fällt es als Nachfrage aus und stört den Wirtschaftskreislauf, sodass Krisen oder Instabilitäten ausgelöst werden. Außerdem kann Geld an Börsen und auf internationalen Finanzmärkten zu spekulativen Zwecken eingesetzt werden und dort Finanzkrisen in Gang setzen. Die Drei-Funktionslehre des Geldes erweitert Marx um eine vierte Geldfunktion: die Kapitalfunktion des Geldes. Im Kapitalismus ist nach Marx Geld zugleich Kapital. Als Geldkapital zirkuliert das Geld, um sich zu verwerten. Über das Kapitalverhältnis wird das Geld zu Kapital, zielt als Investition auf zukünftigen Profit, ist sich selbst verwertender Wert und bestimmt damit die Akkumulationsrichtung und den Akkumulationsumfang. Stockt aufgrund zu geringer Gewinne die Kapitalfunktion des Geldes, verliert das Geld seine Zahlungsmittelfunktion und wird zum Wertaufbewahrungsmittel.


14. Geldeinfluss auf die Wirtschaft

Mit den unterschiedlichen Geldfunktionsangaben ergeben sich unterschiedliche Einflüsse des Geldes auf die Wirtschaft. Für die Neoklassiker spielt Geld keine aktive Rolle. Es bildet nur einen passiven Geldschleier, d.h., es beeinflusst das langfristige reale Wirtschaftsgeschehen nicht. Realer und monetärer Bereich bestehen unabhängig voneinander und können sich höchstens kurzfristig wechselseitig beeinflussen. Die Wirtschaftssubjekte orientieren sich langfristig nur an realen Größen und handeln frei von Geldillusion. Über die Tausch- und Rechenmittelfunktion erleichtert das Geld die wirtschaftlichen Transaktionen und dient als Schmiermittel der Marktwirtschaft. Nach Marx und Keynes wirkt sich das Geld in vielfältiger Weise auf den realen Wirtschaftsprozess und damit auf die realen Austauschverhältnisse, auf die Beschäftigung und auf die Produktion aus. Durch die Wertaufbewahrungs- und Kapitalfunktion des Geldes sind die monetären und realen Sphären miteinander verbunden und bedingen sich wechselseitig.


15. Interessenslage der Wirtschaftssubjekte

Die Neoklassiker teilen die Wirtschaftssubjekte in Unternehmen und Haushalte ein. Beide Gruppen verhalten sich harmonisch zueinander, da auf dem Markt jeder mit gleichen Rechten und Pflichten ausgestattet ist und sich abweichende Interessenslagen konfliktfrei lösen lassen. Bei den Keynesianern ergeben sich Interessenskonflikte aufgrund einer marktbedingten ungerechten Einkommensverteilung. Diese lassen sich jedoch durch staatliche Verteilungseingriffe beheben; so lässt sich denn auch das Wirtschaftsleben harmonisch gestalten. Marx begründet einen entgegengesetzten Standpunkt. Aufgrund ungleicher Herrschaftsverhältnisse im Produktionsbereich stehen sich im Kapitalismus die beiden sozialen Klassen, Kapitalisten und die lohnabhängigen Arbeitskräfte, mit zwar kompromisshaft überbrückbaren, letztlich aber unvereinbaren Interessen gegenüber. Diese führen immer wieder zu sozialen Konflikten und politischen Auseinandersetzungen, die den Alltag der kapitalistischen Produktionsweise wesentlich mitprägen und zu ihrer Überwindung beitragen.


16. Rolle des Staates

Beide, die Neoklassiker und die Keynesianer, sehen im Staat einen allgemeinen Interessensverwalter, der die Sicherung und Mehrung des Wohlstandes der Gesamtbevölkerung anstrebt. Die Neoklassiker fordern - abgesehen von einer Wettbewerbs- und Ordnungspolitik - einen wirtschaftspolitisch schwachen Staat. Da sich aus Sicht der Neoklassiker die Marktwirtschaft stabil verläuft und selbst reguliert, führt der wirtschaftspolitische Staatseingriff nur zu Störungen im Wirtschaftsablauf. Der Staat hat - insbesondere aus neoliberaler Sicht - die Wirtschaftsordnung zu schützen, z. B. indem er den Minderheitsbesitz über die Produktionsmittel sichert und die Marktvermachtung verhindert; er hat sich darüber hinaus aber aus dem Wirtschaftsgeschehen herauszuhalten. Die Keynesianer fordern dagegen den wirtschaftspolitisch starken Staat, der durch seine makroökonomische Wirtschaftlenkung für eine Beseitigung der Marktstörungen, für eine Aufhebung des Marktversagens und für ein Gleichgewicht der Wirtschaftskreisläufe sorgt. Die Machteinflüsse des Marktes sollen zurückgedrängt, der soziale Ausgleich und eine gerechte Einkommensverteilung gewährt werden. Zusätzlich soll für Vollbeschäftigung und für eine relative Krisenfreiheit gesorgt werden. Bei Marx vertritt der Staat aufgrund seiner Aufgabe, die Kapitalherrschaft abzusichern, primär die Interessen der Kapitalistenklasse. Gewinn-, Konkurrenzsicherung und -verbesserung stehen im Vordergrund der staatlichen Regulierung und dominieren gegenüber sozial-, arbeits- und einkommenspolitischen Maßnahmen für die besitzlose Bevölkerung. Bei ihm ändern die wirtschaftspolitischen Staatseingriffe nicht die wesentlichen Funktionsabläufe und Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung. Sie können diese durch die Gesetzgebung aber formen, wie der Kampf um die Begrenzung des Arbeitstages im 19. und 20. Jahrhundert gezeigt hat. Systembedingte Instabilitäten - wie zum Beispiel die Massenarbeitslosigkeit, die zyklischen Wirtschaftskrisen oder die Finanzkrisen - lassen sich nach Marx nicht oder nicht dauerhaft durch einen Staatseingriff beheben.


17. Systemstabilität

Nach Ansicht der Keynesianer und der Marxisten ist das marktwirtschaftliche System instabil. Die inneren Antriebskräfte führen zu Arbeitslosigkeit, Wirtschafts- und Finanzkrisen und Stagnation. Bei den Neoklassikern reguliert, wie bei Adam Smith, eine "unsichtbare Hand" den Preismechanismus. Diese führt die Märkte zum Gleichgewicht; Störungen können nur bei Preisstarrheiten oder durch systemexogene Faktoren, wie Ausland, Staat oder Gewerkschaften auftreten.


18. Ursache Arbeitslosigkeit

Eine systemendogene, unfreiwillige Arbeitslosigkeit kann es nach den Neoklassikern nicht geben, da der flexible Preismechanismus für Vollbeschäftigung sorgt. Wenn Arbeitslosigkeit entsteht, erfolgt sie freiwillig oder durch systemexogene Faktoren. Arbeitslosigkeit ist bei den Keynesianern die Folge einer ungenügenden Gesamtnachfrage. Nur der Staat ist dann in der Lage, die fehlende Nachfrage zu erzeugen und damit die Vollbeschäftigung herbeizuführen. Aus der Sicht der Marxisten resultiert die im Trend steigende Arbeitslosigkeit aus einer im Vergleich zum Wirtschaftswachstum übermäßigen Zunahme der Arbeitsproduktivität. Eine Verkürzung der gesellschaftlichen Arbeitszeit könnte dies zwar ausgleichen, aber da beide Makrogrößen über den Verwertungsprozess der kapitalistischen Produktionsweise gesteuert werden, bleiben arbeitsmarktpolitische Maßnahmen letztlich wirkungslos. Die Arbeitslosigkeit bleibt aufgrund des Wachstumsdefizits eine strukturelle Dauerfolge der kapitalistischen Marktwirtschaft.


19. Ursache Wirtschaftskrisen

Marx war der erste Forscher, der die zyklischen Wirtschaftskrisen von 7 bis 11-jähriger Dauer entdeckte und sie durch die Akkumulationsdynamik erklärte. Entsprechend sollten diese Konjunkturschwankungen eigentlich nicht Juglar-, sondern Marx-Zyklen heißen. Verursacht werden diese Krisen durch die periodische Überakkumulation von Kapital, was im Abschwung wieder bereinigt wird. Die Keynesianer leiten Wirtschaftskrisen im Zusammenhang mit Ungewissheit und instabilen Erwartungen auf den Märkten aus psychologisch begründeten Verhaltensweisen der Investoren ab. Wirtschaftskrisen resultieren bei den Keynesianern aus Stimmungsumschwüngen bei den Investoren. Für die Neoklassiker sind Wirtschaftskrisen, wie vorher die Arbeitslosigkeit, systemfremde Erscheinungen, die von außen auf das Wirtschaftssystem einwirken. Konjunkturzyklen können im Kapitalismus nicht auftreten und sind, wie im Fall der Arbeitslosigkeit, Folgen exogener Faktoren, wie etwa unsachgemäße Staatseingriffe, steigende Ölpreise oder übermäßige Lohnforderungen. Sollten exogene Schocks den Kapitalismus ins Wanken bringen, so klingen wie beim Schaukelstuhl die Schwankungen allmählich wieder aus.


20. Ursache Inflation

Preisniveausteigerungen sind bei den Neoklassikern monetärer Natur und werden durch übermäßige Ausdehnungen der Geldmenge und damit durch eine falsche Geldpolitik ausgelöst. Dagegen sind die Ursachen der Inflation (abgesehen von Auslandseinflüssen) bei Keynesianern und Marxisten auf die Preispolitik der Unternehmen zurückzuführen, die mehr oder weniger erfolgreich versuchen, über steigende Preise ihre Gewinne zu steigern und/oder ihre erhöhten Kosten auszugleichen.


21. Systemerhaltung

Für die Neoklassiker und für die Keynesianer gibt es keine bessere Alternative zum kapitalistischen System. Die kapitalistische Wirtschaft sichert den Wohlstand, ob ohne Staat bei den Neoklassikern oder mit Staat bei den Keynesianern. Die Keynesianer streben die Bändigung und Weiterentwicklung des Kapitalismus an, weil aus ihrer Sicht kein effizienteres System erkennbar ist. Nach Marx dagegen existiert kein Wirtschaftssystem ewig, auch das kapitalistische nicht. Die inneren Widersprüche führen im Zusammenhang mit sozialen Auseinandersetzungen langfristig zur Auflösung und zur Ausbildung einer neuen Wirtschaftsform. Diese Position übernahm später ebenfalls Schumpeter[15]. Er fragt: "Kann der Kapitalismus weiterleben?" und antwortet: Ich habe zu zeigen "versucht, dass eine sozialistische Gesellschaft unvermeidlich aus einer ebenso unvermeidlichen Auflösung der kapitalistischen Gesellschaft entstehen wird."


22. Systemalternative

Da die Neoklassiker und Keynesianer von der Überlegenheit der kapitalistischen Marktwirtschaft überzeugt sind, lehnen sie jegliche Systemalternative ab. Nachfolger des Kapitalismus ist nach Marx der Sozialismus, dem wiederum der Kommunismus folgt. Der Sozialismus ist charakterisiert durch eine Vergesellschaftung des Produktiveigentums, durch eine Demokratisierung der Wirtschaft, durch einen Abbau der Marktkoordination und als Ersatz durch einen Ausbau von dezentralen planmäßigen Koordinationen der Wirtschaftsabstimmungen. Auf dem Weg zum Kommunismus werden - so die Erwartung - die Arbeitszeit und das Geld zurückgedrängt und die Freizeit, die freien Güter und die Bedürfnisorientierung weiter ausgedehnt, die ehrenamtliche Tätigkeiten ausgebaut und damit die Klassengesellschaft allmählich aufgelöst.


23. Systemüberwindung

Die Systemerhaltung übernimmt bei den Neoklassikern und Keynesianern der Staat. Er hat die Aufgabe, mit seiner Staatsgewalt das Privateigentum an Produktionsmitteln zu schützen und den Marktmechanismus zu sichern. Aus der Sicht der Marxisten führen die zunehmenden Systemschwächen und Systemneuerungen einerseits und die Missstände, Mängel und Widersprüche andererseits dazu, dass eine breite soziale Bewegung für ein nachkapitalistisches Wirtschaftssystem entsteht und über Reformen und Demokratisierungen eine Umwandlung der kapitalistischen Marktwirtschaft herbeiführt.


Dr. Alfred Müller, Hildesheim, ist Wirtschaftswissenschaftler;
Dr. Günter Buchholz, lehrt an der FH Hannover, Fakultät IV: Wirtschat und Informatik.


Anmerkungen

[1] Vgl. Nordmann, Jürgen, Der lange Marsch zum Neoliberalismus, VSA-Verlag, Hamburg 2005.

[2] Marx, Karl, Das Kapital 1. - 3. Bd., in: MEW 23, 24, 25 Dietz Verlag, Berlin 1969.

[3] Smith, Adam, Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen, 3 Bde., Akademie-Verlag, Berlin 1984.

[4] Ricardo, David, Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung, Akademie-Verlag, Berlin 1979.

[5] Say, Jean-Baptiste, Collection des principaux économistes, Zeller Verlag 1966.

[6] Gossen, Hermann-Heinrich, Die Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, Vieweg Verlag, Braunschweig 1889.

[7] Walras, Leon, Mathematische Theorie der Preisbestimmung der wirtschaftlichen Güter, Verlag Detlef Auvermann, Glashütten/Taunus 1972; unveränd. Neudruck der Ausgabe Stuttgart 1881.

[8] Marshall, Alfred, Principles of Economics, eighth edition, The Maximillian Press, London 1979.

[9] Keynes, John Maynard, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Duncker & Humboldt Verlag, Berlin, 10. Auflage 2006.

[10] Smith, Adam, Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen, 3 Bde., Akademie-Verlag, Berlin 1984.

[11] Vgl. Hofmann, Werner, Sozialökonomische Studientexte, 3 Bde., Berlin 1979.

[12] Vgl. Reichelt, Helmut, Neue Marx-Lektüre, VSA-Verlag, Hamburg 2008.

[13] Vgl. Ebd., S. 62 (mit Bezug auf Schumpeter).

[14] Vgl. Marx, Karl, Das Kapital, Bd. 3, 48. Kap.: "Die trinitarische Formel".

[15] Schumpeter, Joseph A., Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Francke Verlag München, 5. Auflage, 1980, S. 12.

Raute

BUCHBESPRECHUNGEN


The Invisible Committee: The Coming Insurrection.

Los Angeles: Semiotext(e) 2009, 136 Seiten, ca. 9 Euro

Buchbesprechung von Fuzi

Das Buch wurde im Anschluss an die Krawalle in den Vorstädten vieler französischer Städte 2005 geschrieben und erschien auf Französisch im März 2007. Größere Aufmerksamkeit erlangte es durch die Festnahme der "Tarnac 9", einer Gruppe von Menschen, die aus der Stadt aufs Land gezogen waren. Im November 2008 wurden sie beschuldigt, einen TGV-Zug mit Hakenkrallen lahm gelegt zu haben (eine Technik, die in Deutschland als Widerstandsaktion gegen Atommülltransporte sehr beliebt war), außerdem wurde Julien Coupat beschuldigt "L‹insurrection qui vient" geschrieben zu haben - was dieser abstritt, jedoch zugab, dass er den Text bewundere. Schon vor dem Erscheinen der englischen Ausgabe im August 2009 erregte der Text Aufsehen durch eine unautorisierte Lesung in einer New Yorker Buchhandlung einschließlich eines Polizeieinsatzes und auch weil der konservative Talkmaster Glenn Beck im Fernsehen eine Bedrohung durch eine extreme Linke an die Wand malte, die zu den Waffen rufe. Es handelt sich um einen Text, in einem autonomen Vokabular geschrieben, beeinflusst durch den Situationismus, der die herrschende Gesellschaft darstellt und dazu aufruft, sich dagegen zu organisieren und sich auf den kommenden Aufstand vorzubereiten.

Die politische Repräsentation ist an ein Ende gekommen. Die Linke wählt nur noch aus Protest, während parallel dazu Bewegungen auftauchen, die nach keiner Repräsentation mehr suchen wie beispielsweise die Aufstände in Argentinien 2001 / 2002 ("Que Se Vayan Todos", also "Alle sollen abhauen") oder die Unruhen in den Banlieues 2005. Aufstände, die ihren Hass auf die herrschende Gesellschaft ausdrücken und worauf die Antwort der Herrschenden Repression und die Produktion von Angst sind.

In sieben Abschnitten geht es um die Beschreibung der herrschenden Gesellschaft in ihren Widersprüchen. 1) Ziel des aktuellen Kapitalismus ist die Selbstverwirklichung. Ein großer Teil der Bevölkerung scheitert daran und das Leiden wird medikamentös bekämpft. Das Krank-Werden ist aber auch ein Ausdruck des Widerstands (We are not depressed; we are on strike). 2) Traditionelle Gemeinschaften wie Communitys und Familien zerfallen. Der Rassismus gegen die Unterprivilegierten, etwa in den Vorstädten, ist eigentlich der Neid, dass dort noch so etwas wie Gemeinschaft existiert. Das sollte als Chance gesehen werden, weil es die Möglichkeiten schafft, mit neuen Formen des Zusammenlebens zu experimentieren. 3) Gerade jetzt, wo die (geregelte) Arbeit am Verschwinden ist, wird die Arbeit am meisten ideologisiert. Von den technologischen Möglichkeiten her genügte relativ wenig "Arbeit". So werden jetzt Produzent_innen und Konsument_innen erzeugt (immer mehr persönliche Dienstleistungen) und nicht mehr Produkte. Darum der Hass auf jene, die sich gegen die Arbeit organisieren. 4) Es gibt keine Städte mehr, sondern nur noch Metropolen, und diese werden immer mehr zu direkten Kriegszonen. Ein Krieg, der manchmal nicht offen geführt wird, aber sichtbar wird etwa in der Behandlung der Banlieus vor und nach den Aufständen. Diese Metropolen sind immer mehr abhängig von Kommunikation und Verkehr. Diese "Flüsse" sind jedoch viel verletzbarer durch Angriffe und Unterbrechungen. 5) Nicht die Wirtschaft ist in der Krise, sondern die Wirtschaft ist die Krise. Organisationen wie ATTAC glauben die Wirtschaft vor den Krisen zu retten, dabei retten sie die Ursachen der Krisen, nämlich den Kapitalismus. Ähnliches gilt für jene, die an einen ökologischen Kapitalismus glauben, der genauso auf Arbeit und Ausbeutung basiert. 6) Es gibt keine Umweltkatastrophe, sondern die kapitalistische Umwelt ist die Katastrophe. So sollte mensch die Krisen nützen und nicht auf einen Umweltdiskurs einsteigen, der z.B. dazu führen kann, dass Atomkraftwerke wieder salonfähig werden. Die Katastrophen ereignen sich ja, weil der Kapitalismus funktioniert. Wir sollten uns auf die Möglichkeiten der Selbstorganisation nach den Katastrophen einstellen.

Nichts erscheint so unwahrscheinlich wie ein Aufstand, aber nichts ist so notwendig wie dieser. Bis jetzt haben alle Versuche der radikalen Linken in ihrer Organisationsstruktur den Staat im Miniformat kopiert (selbst wenn sie sich nicht an Wahlen beteiligten, sondern Community-Arbeit machten). Der Anfang aber muss ein anderer sein: 1940 ging der erste Resistance-Kämpfer in den Maquis, ein "madman", 1944 waren es bereits 20.000 "Verrückte" in der Umgebung von Limoges. Die Arbeiter_innen wiederum fanden sich in den Kämpfen in der Fabrik zusammen, heute aber ist es der gesamte soziale Raum, in dem der gemeinsame Kampf gesucht werden kann und muss. Hierbei sind "Freundschaften" entscheidend, um die unbefriedigenden bestehenden Organisationsformen zu meiden. Diese laufen nämlich schlussendlich immer darauf hinaus, sich als Organisation zu reproduzieren. Ebenso aber sind soziale Milieus zu meiden, die konterrevolutionär sind, weil sie ihre eigene Bequemlichkeit in ihren informellen Hierarchien erhalten wollen. Die Alternative dazu ist die Bildung von Kommunen, die jedes Mal entstehen, wenn sich einige Menschen auf sich selbst verlassen: in jedem wilden Streik, in Hausbesetzungen, in den Aktionskomitees von 1968 oder auch Radio Alice in Italien 1977. Kommunen werden allerdings zu Milieus, wenn sie sich von ihren Ursprungsaktivitäten und Ideen lösen.

Sich gegen die Arbeit zu organisieren, bedeutet, so wenig wie möglich zu arbeiten, indem anderweitig Geld aufgestellt wird (Sozialleistungen, Schwarzmarkt). Unsere Kreativität soll den Staat oder die Unternehmer_innen ausnützen, so gut es geht. Wir müssen lernen, wie mensch überlebt, wenn die Transportflüsse unterbrochen sind, so wie es notwendig ist, für den Aufstand zu trainieren und lernen. In den Kommunen gibt es genug unterschiedliche Lebenserfahrungen. Die lokale Organisation ist genauso wichtig wie die Kommunikation, die durch Reisen stattfindet, weil es nicht genügt (und auch zu sehr überwacht ist), über das Internet zu kommunizieren. Überall soll Widerstand geleistet werden, überall soll sabotiert werden. Es ist notwendig, unsichtbar zu bleiben, hauptsächlich, um der Repression zu entgehen, aber auch, weil Sichtbarkeit die Repräsentation durch bestimmte Personen befördert. Selbstverteidigung ist wichtig, aber die eigene Initiative ist immer noch die bessere Waffe, weil der Staat technisch/militärisch immer überlegen sein wird. Die vorgeschlagenen Organisationsformen ähneln sehr dem, was die "Autonomen" in den 1980ern diskutierten, die allerdings selten auf einen offenen Aufstand hofften.

Die Organisation des Aufstandes beginnt in den sozialen Bewegungen: Besetzung von Institutionen, Blockaden der Verkehrswege, um möglichst viel Störung zu verursachen (die französische Regierung versucht seit den großen Streiks 1995, die Störungen möglichst gering zu halten). Um den Aufstand voranzutreiben, muss jede repräsentative Autorität in Frage gestellt werden. Generalversammlungen sind zu vermeiden, da sie die Tendenz haben, zu Miniparlamenten mit blockierenden Abstimmungen zu verkommen. Auch die "Koordinationen"[1] werden kritisiert, die nur eine Tribüne für eine entstehende "Mikro-Bürokratie" bildeten. Wenn möglich, soll jede Hierarchiebildung vermieden werden, wobei es kein Rezept gibt, sondern immer wieder neu experimentiert werden muss. Die Ökonomie muss blockiert werden, parallel dazu ist die Selbstorganisation des Lebens notwendig. Territorien sollen befreit werden, trotzdem muss versucht werden, eine direkte Konfrontation mit der Staatsmacht zu vermeiden. Wenn sehr viel sehr zerstreut passiert, kann auch die Polizei nicht adäquat eingesetzt werden. Und es ist notwendig, bewaffnet zu sein, um zu vermeiden, die Waffen einsetzen zu müssen - weil der Staat immer die besseren Waffen hat. Jeder erfolgreiche Aufstand war bewaffnet, aber relativ gewaltfrei, etwa weil am 18. März 1871 die Soldaten zur Pariser Commune überliefen. Der Aufstand muss auf lokalen Ebenen ablaufen, weil es kein Zentrum des Kapitalismus und des Staates mehr gibt, kein zu stürmendes Winterpalais.

Das Vorwort zur englischen Ausgabe wurde im Jänner 2009 unter dem Eindruck der Unruhen in Griechenland im Dezember und einer Reihe von Kämpfen der Studierenden in Italien, Spanien und Frankreich geschrieben. Noch einmal werden wichtige Punkte erwähnt und ergänzt. Revolutionäre Bewegungen verbreiten sich nicht durch "Ansteckung", also Agitation und direkten Kontakt, sondern durch Resonanz: es kommt zu gegenseitigen Verstärkungen, weil von anderen Kämpfen berichtet wird, wobei immer von den eigenen Bedingungen ausgegangen wird. Noch einmal wird betont, dass Organisationen die Selbstorganisation prinzipiell behindern. Die Ausbrüche der letzten Zeit, insbesondere jene in Griechenland, lassen als Warnsignale den zukünftigen Aufstand am Horizont erscheinen.

Teile der Bevölkerung von New Orleans organisierten sich nach der Katastrophe, machten das Leben wieder möglich und verhinderten, durch die Regierung zu Katastrophenflüchtlingen gemacht zu werden. Die Übersetzer_innen kritisieren allerdings in einer Fußnote, dass sich gerade dort wieder politische Repräsentation verfestigte. Das ist ein Beispiel für das Problem der kontinuierlichen Organisation: Es ist sehr schwierig, die Kritik an der Repräsentation auch in einer revolutionären Situation oder im Aufstand durchzuhalten. Was bei Michael Hardt und Antonio Negri genauso auf einer abstrakten Ebene bleibt (Konstituierende Macht vs. Konstituierte Macht) wie bei John Holloway (power-to-do vs. power-over), scheitert am konkreten Beispiel.

Es werden so genannte Milieus kritisiert, aber was unterscheidet Kommunen von solchen Milieus oder informeller Struktur. Das bezieht sich speziell auf die französische Situation und deren Vielfalt von unterschiedlichen linken und linksradikalen Organisationen (trotzkistisch, anarchistisch, aber eben auch als Milieus / soziale Felder und Zusammenhänge). Es kann nicht darum gehen, solche Milieus in Bausch und Bogen abzulehnen, sondern permanent zu kritisieren, um eine Verfestigung in Repräsentationen zu erschweren. Erstaunlich ist auch, dass des Öfteren die Commune 1871 als Beispiel herangezogen wird, kaum aber der Mai 1968. Vermutlich liegt das daran, dass es keine davor existierenden Strukturen (außer theoretisierende Situationist_innen und traditionelle Linke) gab, die die Kämpfe der Studierenden und Arbeiter_innen auslösten.

Der kämpferische Ton ist mir manchmal zu martialisch. Das korrespondiert auch damit, dass das Patriarchat nur an einer (relativ unwichtigen) Stelle erwähnt wird. An den Milieus werden entstehende informelle Hierarchien kritisiert, die ja oft auch und gerade geschlechtlich sind, aber es wird angenommen (weil es nicht diskutiert wird), dass die sich selbst gründenden Kommunen davon unberührt bleiben. Es sollte aber immer darum gehen, auch in Aufstandsbewegungen, die Geschlechterordnung in Frage zu stellen. Es gibt keine Lösung dafür, außer in der aktuellen Situation immer wieder darüber zu reflektieren und nicht einfach anzunehmen, dass jede Form von Selbstverwaltung gut ist (wenn auch besser als jede revolutionäre Bürokratie).

Bevor ich "The Coming Insurrection" gelesen habe, habe ich vorgeschlagen, einen Arbeitskreis dazu zu gründen. Nachdem ich es gelesen habe, nehme ich davon Abstand, weil der Text theoretisch nicht besonders ergiebig ist. Der Text ist keine Aufforderung zur Gründung von Arbeitskreisen, sondern zu Gründung von Kommunen und / oder direkten Aktionsgruppen. Vielleicht bin ich zu alt dazu, ich werde doch weiter theoretisch arbeiten. An einem künftigen Aufstand gegen den Kapitalismus werde ich mich mit Begeisterung beteiligen. Aber ich werde auch kleinere emanzipatorische Bewegungen unterstützen (die dann wieder in den Kapitalismus integriert werden). Denn die Revolution wird nicht ein einziger Aufstand sein, sondern ein permanenter Prozess (Holloway). Außerdem arbeite ich schon jetzt an emanzipatorischen Veränderungen meines Alltags. Immer ein bisschen zu wenig. Vielleicht sollten wir doch Kommunen gründen?

E-Mail: r.foltion@aon.at


Anmerkung

[1] Seit 1986 (zuerst bei den Krankenschwestern, dann bei den Eisenbahner_innen) bildeten sich in jeden Streik "Koordinationen", die nach dem Kampf wieder zerfielen, aber in neuerlichen Auseinandersetzungen wieder bildeten. Durch ihr "Zerfallen" behinderten sie die Entwicklung von Bürokratien. Koordinationen, die von linken Organisationen als dauerhaftes Projekt gesehen wurden, wurden von den neulich kämpfenden Arbeiter_innen, Studierenden oder Schüler_innen nicht angenommen.


Raute

Britta Grell: Workfare in den USA. Das Elend der US-amerikanischen Sozialhilfepolitik

Bielefeld: transcript 2008, 470 Seiten, 36,80 Euro

Buchbesprechung von Markus Griesser

Als Bill Clintons "New Democrats" 1996 ihr Wahlkampfversprechen "To end welfare as we know it" einlösten, war auch in Europa der Aufruhr groß: WissenschafterInnen und JournalistInnen analysierten den radikalen Wandel des Politikfelds; Partei-, Verwaltungs- und VerbandsvertreterInnen begaben sich auf Studienreise in die USA, um die Umsetzung der Sozialhilfereform vor Ort zu begutachten; und bald schon machte die "Erfolgsbilanz" der Reform - i. d. R. festgemacht an Indikatoren wie reduzierten Fallzahlen und Sozialausgaben - die Runde. Binnen kurzem schaffte es das Modell so an die Spitze von Benchmarkings in Sachen Sozialhilfe und zum viel bemühten Best Practice-Beispiel in internationalen Vergleichsstudien. "Die Welfare Reform als Vorbild?" lautete die rhetorische Frage der Stunde, wobei man sich auch in Europa v. a. von den besonders restriktiven Work First-Modellen angetan zeigte, wie sie etwa in Wisconsin oder Riverside (Kalifornien) realisiert wurden, schienen hier schließlich nicht bloß die Grundlagen für eine Lösung des "Sozialhilfeproblems", sondern auch wesentliche Voraussetzungen für das "Jobwunder USA" in den 1990er Jahren geschaffen worden zu sein. Insbesondere der mediale Hype flachte in der Folge zwar rasch wieder ab, der Mythos jedoch hielt sich hartnäckig - und fand qua "fast policy transfer" Niederschlag in anderen "Reform"-Projekten der späten 1990er und frühen 2000er, wie etwa in "New Labor‹s" New Deal oder in den Hartz Reformen der "Neuen Mitte".

Ein aktuelles Buch der Berliner Politikwissenschafterin Britta Grell nimmt dies zum Anlass, um die unter dem Stichwort "Workfare" gefassten Fürsorgerealitäten in den USA etwas mehr als zehn Jahre nach der Welfare Reform erneut unter die Lupe zu nehmen. Die vermeintliche Erfolgsstory dient ihr dabei als Negativfolie für eine detaillierte Rekonstruktion des - wie es im Untertitel heißt - "Elends der US-amerikanischen Sozialhilfepolitik" der Gegenwart. Dafür werden vorab unterschiedliche Erklärungsansätze der kritischen Sozialwissenschaft vorgestellt, um im Anschluss einen weiten historischen Bogen von der Vorgeschichte bis zu den Politikwirkungen der Reform zu schlagen. Grell identifiziert dabei vier Hauptstränge, entlang derer die Sozialhilfepraxis in den USA mit der Welfare Reform - welche im Kern in einer Ersetzung der Familiensozialhilfe Aid to Families with Dependent Children (AFDC) durch ein neues Leistungsprogramm namens Temporary Assistance for Needy Families (TANF) bestand, die aber auch die meisten anderen Programme des komplexen Fürsorgesystems in den USA betraf - neu ausgerichtet wurde: (1) nämlich familienpolitische Zielsetzungen (Restabilisierung des bürgerlichen Familienmodells u. a. durch Sanktionierung "unehelicher Geburten"); (2) arbeitsmarktpolitische (Reintegration in den Arbeitsmarkt u. a. durch Erhöhung des Zwangs zur Aufnahme einer Lohnarbeit oder Beschäftigungsmaßnahme); (3) migrationspolitische (Redefinition sozialer BürgerInnenschaft u. a. durch Ausgrenzung von MigrantInnen aus dem Leistungsbezug); sowie (4) ordnungspolitische (Reprivatisierung sozialer Dienste u. a. durch Public-Private-Partnerships im Bereich der Sozialverwaltung). Ein systematischer Überblick wird dabei auch über die Implementierung der bundesstaatlichen Vorgaben in den Einzelstaaten gegeben - und so das bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Welfare Reform befürchtete "Race to the Bottom" über weite Strecken bestätigt.

Den Hintergrund dafür bilden die Spezifika des föderalistischen Systems der USA und seiner jüngsten Transformation: Während es in der Great Society-Ära der 1960er Jahre nämlich auch hier eine Tendenz zur Zentralisierung der Sozialhilfepolitik gab, wurde diese infolge des neoliberalen Kurswechsels von einer gegenläufigen Tendenz ihrer Reföderalisierung abgelöst. Diese Entwicklung mündete in einem von der Welfare Reform beförderten "doppelten Devolutionsprozess", in dessen Rahmen die Verantwortung für die Sozialhilfepolitik vom Bund an die Einzelstaaten und von diesen wiederum an die untersten Verwaltungseinheiten (Landkreise, Kommunen) delegiert wird, während die oberen Instanzen sich darauf beschränken, pauschalierte Finanzmittel ("block grants") und Rahmenrichtlinien für deren Einsatz vorzugeben sowie diesen mittels eines Systems von "(Dis-)Incentives" zu sanktionieren. An die Stelle eines relativ einheitlichen "Welfare state" ist auf diesem Weg eine fragmentierte Landschaft lokaler Workfare Regime getreten, die vielfach eben um die wechselseitige Unterbietung sozialer Standards konkurrieren. Hinsichtlich der Frage des politischen Widerstands hat das etwa Jamie Peck in seinem Klassiker "Workfare States" zu der pessimistischen Einschätzung geführt, dass diese dadurch neuen Restriktionen unterworfen wird, denn "[d]ownloading welfare/workfare functions often seems to mean downloading oppositional politics as well". Ausgehend von diesen Voraussetzungen bilden zwei Fallstudien zu den urbanen Workfare Regimen in New York City und Los Angeles den Kern von Britta Grells Buchs, anhand derer die Bedeutung sozioökonomischer, institutioneller und akteursbezogener Faktoren empirisch untersucht wird. Im Zentrum steht dabei die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten und -restriktionen der "sozialpolitischen Oppositionsbewegung" bei der konkreten Umsetzung der bundes- und einzelstaatlichen Vorgaben vor Ort - und mithin auch ein Stück weit eine kritisch-empirische Überprüfung der angesprochenen These Jamie Pecks.

Während Grell in diesem Zusammenhang das angesprochene "Rescaling" (sozial-)staatlicher Funktionen durch Entsorgungs- und Entkoppelungsmechanismen gekennzeichnet sieht, mittels derer die sich verschärfenden sozialen Widersprüche diskursiv desartikuliert und zunehmend punitiv bearbeitet werden, fällt ihr Resümee bezüglich der Frage des Widerstands einerseits ernüchternd aus: War es in den Strategiedebatten des US-amerikanischen Poor People‹s Movements der 1960er und 1970er Jahre noch um die Frage gegangen, wie sich das bestehende Sozialhilfesystem bspw. zugunsten eines nationalen Mindest- bzw. Grundeinkommens grundsätzlich verändern ließe, so bewegen sich die aktuellen Labour-Community-Koalitionen weitgehend innerhalb des von der Welfare Reform abgesteckten Rahmens und konzentrieren sich vorwiegend darauf, einzelne ihrer Auswüchse abzumildern. Andererseits können sie dabei trotz falsch verstandenem Pragmatismus und vielfältiger Kooption auf durchaus beeindruckende Erfolge verweisen, die für die Betroffenen, wie Britta Grell zu Recht betont, vielfach einen "Unterschied ums Ganze" machen. Dies betrifft etwa die Kompensation der Ausgrenzung von MigrantInnen aus dem Leistungsbezug durch Programme auf einzelstaatlicher Ebene in Kalifornien oder den Boykott erzwungener Arbeitsdienste durch NGOs und kirchliche Einrichtungen in New York City. Obschon im Ergebnis wenig erfolgreich so muss aus europäischer Perspektive darüber hinaus wohl auch die bloße Existenz von Kampagnen zur Organisierung von "Workfare Workers" als Erfolg gewertet werden, die vielfach von Gewerkschaften, Polit- und Community-Organisationen gemeinsam getragen wurden.

Am angesprochenen "Elend der US-amerikanischen Sozialhilfepolitik" konnten Erfolge dieser Art, wie Britta Grell zeigen kann, freilich wenig ändern. Nicht bloß im Hinblick darauf hat die Autorin eine theoretisch solide unterfütterte und gerade hinsichtlich ihrer empirischen Umsetzung überzeugende Studie vorgelegt. V. a. jedoch hat sie ein politisch gewichtiges Buch geschrieben, das sich nicht zuletzt aufgrund seines beeindruckenden Umfangs bestens dazu eignet, dem Personal des gewendeten Staates und seinen ideologischen StichwortgeberInnen an den Universitäten und Forschungsinstituten vor den (sprichwörtlichen, versteht sich;) Latz geknallt zu werden. Aber auch aus der Perspektive sozialer Kämpfe lässt sich aus den in der Studie aufgearbeiteten US-Erfahrungen einiges lernen. Und das betrifft nicht bloß das Scheitern.

E-Mail: markus.griesser@gmail.com

Raute

Stefan Nowotny/Gerald Raunig: Instituierende Praxen - Bruchlinien der Institutionskritik

Wien: Turia & Kant 2008, Reihe republicart 9, 224 Seiten, 22 Euro

Buchbesprechung von Elisabeth Steger

Auf Wunsch eines Freundes möchte ich hier auf den Band 9 der Schriftenreihe des Europäischen Instituts für progressive Kulturpolitik (eipcp) hinweisen. Dieser Band mit Texten von Stefan Nowotny und Gerald Raunig erschien bereits im Juli 2008 am Ende des Projekts transform, eines Projekts, an dem ich als Korrespondentin beteiligt war.

"Das als Koordinator fungierende und 1999 gegründete eipcp versucht nunmehr seit fünf Jahren, an den Schnittstellen zwischen Kunst- und Theorieproduktion, politischem Aktivismus und radikaldemokratischer Kulturpolitik Diskurse zu initiieren und zu intensivieren." So formulierten Bernhard Hummer, Therese Kaufmann, Raimund Minichbauer und Gerald Raunig im Jahr 2005 die Ziele und Aufgaben ihres Instituts; nachzulesen ist dies in einem früheren Buch, den republicart practices, welches ich im April desselben Fünferjahres proaktiv von der Couch im Infoladen 10 im Ernst-Kirchweger-Haus aufhob, wo ein ganzer Stapel der knallgelben Veröffentlichung auf neugierige Leser+innen wartete. Am Ende des Intros las ich dann auch von den damaligen Zukunftsplänen des eipcp, dem Projekt transform. Von da an bin ich, mal mehr mal weniger intensiv involviert (gewesen).

Ich kann dieses Buch auch empfehlen. Ob es gut ist, das will ich gar nicht beurteilen, dazu fühle ich mich nicht berufen. Die Text-Zusammenstellung funktioniert für mich aber wie eine Box, die absolut brauchbare, im Alltagskampf handhabbare Werkzeuge enthält. Es gibt einige Gründe, gerade in den grundrissen darauf hinzuweisen: Zum einen ist einer der Texte, die dieser Band enthält, vor einiger Zeit in einer außergewöhnlich hitzigen Redaktionssitzung der grundrisse besprochen und dann in einer ersten Fassung in der Nummer 19 (Herbst 2006) abgedruckt worden: "Nietzscheanissimo" heißt der Zankapfel. Aber auch in anderen Texten finden sich Querverweise zu grundrisse-Veröffentlichungen. Darüber hinaus transversalt es mächtig.

"...die Texte unserer gemeinsamen Studie, die in diesem Buch abgedruckt sind [...] folgen tendenziell den drei Linien des Ausgangskonzepts..." schreibt das Autoren-Duo im Vorwort von Instituierende Praxen, in dem zuallererst auch die 3 Konzeptlinien aufgelistet werden: es gehe 1. um Institutionskritik als einer spezifischen Kunstpraxis ausgehend von den 60er Jahren, um eine Kritik, die sich zu einer komplexen Bündelung der drei Stränge der Gesellschafts-, Institutions- und Selbstkritik entwickelt (hat). Die zweite verfolgte Konzeptlinie betrifft kritische Kunstinstitutionen und deren mögliche neue Organisationsformen und 3. auf der allgemeinsten Ebene geht oder ging es im Projekt transform um das Verhältnis von Institution und Kritik als sozialer Bewegung.

Alle der versammelten 13 Texte - außer zweien - wurden bereits in älteren (Teil-)Fassungen, z.T. in anderer Sprache, an anderer Stelle veröffentlicht (1); deshalb werde ich mich auf eine dieser beiden bisher unveröffentlichten Ausnahmen konzentrieren und zwar auf "Von polizeilichen Gespenstern und multitudinären Monstern" - ein von Gerald Raunig und Stefan Nowotny gemeinsam verfasster Text. Ich denke, es wird im Laufe meiner Buchbesprechung klar, warum ich gerade diesen Text gewählt habe.

Dieser Text also, in dem es polizeilich spukt und unheimlich multitudinös zugeht, enthält zuerst einmal ein sehr sprechendes Beispiel einer institutionskritischen "Kunstgeschichte". Er beginnt nämlich mit einem Plot der Erzählung "Ein gewisser Plume" von Henry Michaux aus dem Jahr 1938. An dieser Stelle sei der von mir oben gesetzte Konjunktiv erklärt (siehe oben: "es gehe 1. um Institutionskritik als einer spezifischen Kunstpraxis ausgehend von den 60er Jahren"): Entgegen der vorgegebenen Linie wird hier im Projekt-Abschluss-Band klar, dass nicht nur auf Beispiele aus der bildenden Kunst, sondern auch auf literarische und weitaus früher datierbare Exempel der Institutionskritik zurückgegriffen wird. Das fällt auf. Wer aber ist nur dieser gewisse Plume? Er sei ein sonderbarer Mensch, heißt es, er speist in einem Restaurant, und das, was er verspeist, steht gar nicht auf der Karte, worauf ihn sogleich sehr eindringlich der Oberkellner aufmerksam macht, aber nicht allein ein Oberkellner, nein, weit gefehlt, im Verlauf der Erzählung tritt ein ganzer Polizeiapparat auf den Plan um Plume zurecht zu weisen. Und was tut Monsieur Plume? Er versucht sich nur noch zu entschuldigen.

Die Polizeiforscher Gerald Raunig und Stefan Nowotny interessiert an dieser Geschichte vor allem die Ordnung des Erscheinens der Polizei und mit Walter Benjamin‹s berühmten "Zur Kritik der Gewalt" Aufsatz aus dem Jahr 1921 eröffnen die beiden einen kurzen Abriss der (französischen) Formierungs-Geschichte des modernen Polizeiinstituts und stützen sich dabei auf zwei Textdokumente aus dem (französischen) 18. Jahrhundert: die Abhandlung Traité de la police von Nicolas Delamare und die Gedenkrede eines gewissen Bernard Le Bovier de Fontenelle auf einen hohen Polizeibeamten. Daraufhin wenden sich Stefan Nowotny und Gerald Raunig dem Gegenpart der Polizei zu, der Multitude, dem Monster. Der Diskurs zum Problem der "gefährlichen Klassen" wird hier in Anschluss an (Spinoza), Negri/Hardt, Paolo Virno, Marx weitergeführt. Nowotny und Raunig bringen aber neben dem Gegensatzpaar Polizei und diffuse Menge/Multitude noch zwei weitere Dichotomien ins Spiel: die Unterscheidung von Sprachmächtigen und Sprachlosen und die Gegenüberstellung von Seele und Körper. "Die ununterscheidbare, unsichtbare, ungeformte polizeiliche Seele, so das Bild Fontanelles, formt die Körper der Multitude - doch eben nur, indem sie sich als Gespenst in ihr umtreibt." Die beiden Autoren schlagen nun vor, diese körperliche Multitude als Monstrum dem Seelengespenst der Polizei gegenüber zu stellen, ein für mich sehr spannendes Moment, da das Monströse schon seit einigen Jahren ein wiederkehrendes Thema in meiner bildnerischen Arbeit ist (zuletzt siehe: http://lesmonstresquiparlent.over-blog.com/)

Zur Perspektive im "freien Gedankengang an den etymologischen Zusammenhang mit lat. monstrare", die uns Stefan Nowotny und Gerald Raunig anschließend eröffnen, also zu ihrem Vorschlag der Betrachtung der "Monster" nicht nur als Abweichung von einer Norm, sondern "in ihrer eigenen Erscheinungslogik", muss man ein Jahr nach der Veröffentlichung des eipcp-Buches, jetzt im Herbst 2009, der Geschichte vom Walten polizeilicher Ordnung gegen "unheimliche Erscheinungen" ein weiteres trauriges Beispiel hinzufügen: Im heurigen Frühjahr wurde ein russischer Aktivist festgenommen, der gemeinsam mit anderen Kunst-Aktivist+innen nichts weiter getan hat, als durch absurde sogenannte Monstrationen auf öffentlicher Straße auf eine mindestens genauso absurde Politik hinzuweisen. Dass der Aktivist angeblich im Besitz eines "illegalen" Stoffes/Materials angetroffen wurde, ist in dem Zusammenhang völlig belanglos. Die Polizei wird auch dort etwas finden, wo es nichts zu finden gibt, weil sie sich halt immer sehr findig gibt. Wichtig ist es hier einmal festzustellen: Die Polizei ist humorlos.

Jacques Derrida‹s theoretischen Überlegungen zum Monströsen, auf die sich Stefan Nowotny und Gerald Raunig beziehen, möchte ich hier etwas entgegensetzen. Derrida behauptet, nur "das Normale" besäße Geschichte, das Monster dagegen nicht; ein Monster sei etwas, das zum ersten Mal auftauche, nicht erkannt, nicht wiedererkannt werden könne und deshalb Schrecken auslöse. Ich möchte deshalb auf Giorgio Agambens Buch "Das Offene: Der Mensch und das Tier" hinweisen, in dem ein sehr altes Bild eines Ungeheuers, eine sehr alte "Monster-Geschichte" abgedruckt ist. Es handelt sich m.E. um ein sehr wichtiges Bild, denn das Seeungeheuer Leviathan, das hier zu sehen ist, steigt eigentlich schon seit Jahrtausenden aus den Untiefen des Meeres auf. Allerdings muss, damit sich dies ereignen kann, erst eine Welt zu Grunde gehen. Leviathans Auftritt findet genau am Ende der Menschheitsgeschichte statt und versetzt die noch Anwesenden, welche im Talmud die 5 Gerechten heißen und, wen möchte es wundern, die selbst monströs gestaltet sind - dieses Auftrittsereignis lässt sie nicht erschrecken, denn die diesem Schauspiel nicht nur klassisch Beiwohnenden, sondern aktiv an ihm Partizipierenden 5 Gerechten geraten in einen Zustand lustvollen Staunens und zudem in die angenehme Lage, diesen aufgetauchten Monsterkörper "an einer prachtvoll ausgestatteten Tafel im Schatten paradiesischer Bäume" mit der Musik zweier Spieler am Rande des Geschehens gemeinsam zu verspeisen. Denn: Leviathans Körper, das ist Fleisch (Giorgio Agamben, Das Offene: Der Mensch und das Tier, Kapitel 1: Theriomorph, suhrkamp 2003).

Stefan Nowotny und Gerald Raunig erzählen uns anschließend einen spannenden Minikrimi aus dem Vorfeld der französischen Revolution. Es hatten sich damals einige Leute erlaubt gemeinsam satirische Gedichte und Schmähverse auf den König (auch ein Monster) zu verfassen und in Umlauf zu bringen. Der Kampf der Polizei gegen die losen Banden erwies sich als sehr schwierig, da sich deren Autor oder Kopf nicht fassen ließ - es gab ihn nämlich gar nicht. Die Produktion der "gefährlichen" Schriften geschah in einem unüberblickbaren Geflecht von Beteiligten. Der polizeiliche Kampf glich Herkules‹ Kampf gegen Hydra und die Pariser Polizei konnte dem "vielfältigen Geflecht von Gedichten, Zusammenkünften, Zirkulationsprozessen, Weitergaben und Reproduktionen durch Memoriertechniken und Abschriften, die kein Ende nehmen wollten" letztendlich nicht Herr werden, obwohl sie 14 Männer inhaftierten, weshalb die ganze Geschichte auch mit dem Namen Quatorze bezeichnet wird. Worauf Gerald Raunig und Stefan Nowotny aber hinaus wollen, ist die entscheidende Tatsache, dass ein Gedicht als Ausdruck einer anderen Art von Macht fungieren konnte, "der noch unbeschriebenen, aber unleugbar einflussreichen Autorität namens "la voix publique".

Von dem "ausfransenden Netzwerk" der Quatorze und über die Monsterbegriffe der wichtigsten philosophischen Linie im Buch von Gerald Raunig und Stefan Nowotny, nämlich Gilles Deleuze und Felix Guattari, ist der Weg nicht mehr weit zu den Monster-Institutionen, den transversalen Netzwerken und der neuen Generation von Centri Sociali in verschiedenen Teilen Europas. Dabei kommt auch ein konkretes Ergebnis des Projektes transform zur Sprache - die schriftlichen Überlegungen zu neuen Dispositiven und Institutionen sozialer Bewegungen, die in Kooperation mit der spanischen Universidad nómada entstanden sind (nachzulesen im Webjournal transversal). Vielleicht darf ich das Ziel dieses Unternehmens hier ganz knapp formulieren: es geht darum "einen Beitrag zur Erfindung einer anderen Politik" zu leisten. Raunig und Nowotny beschreiben am Ende ihres Textes den stattfindenden Prozess, der in diesem neuen, anderen politischen Kampf, welcher sich von der klassisch modernen Ausprägung eines Kampfes nach konfrontativen Mustern, der Gegenüberstellung von Dichotomien unterscheidet, als ein Verlernen. Und zwar ein Verlernen, "das den internalisierten polizeilichen Blick abstreift, um die heterogene Erscheinungsweise des Monströsen zu bejahen." Stefan Nowotny und Gerald Raunig tun möglicherweise das, was von Giorgio Agamben in dem bereits zitierten Buch gefordert wird: sie erforschen das praktische und politische Geheimnis der in unserer Kultur vorhandenen Auffassung von der Trennung des menschlichen Körpers in einen Körper und eine Seele. Dass diese ihre Forschung selbst mit der Denkfigur der Dichotomie arbeitet, nun, das kann man zumindest paradox finden. Das Propagieren dieses Verlernens kann man außerdem voll begrüßen und man kann sich natürlich freuen darüber zu erfahren, dass - hier theoretisch - dafür gekämpft wird, dass der Erscheinungs- und Spielraum des Monströsen, des Hybriden eine positive Aufwertung erfährt. Ich persönlich fühl mich ja auch ein bissl in die 80er Jahre versetzt ... hör gleich meinen damaligen Zeichenlehrer vom Verlernen sprechen und sehe mich wieder in einem Studio in München Schellingstraße vor einem Blatt Papier sitzen und ein "ICH"-Bild zeichnen.

E-Mail: waldnaab@klingt.org


Anmerkung: (1)

Anti-Kanonisierung http://eipcp.net/transversal/0106/nowotny/de
Instituierende Praxen, No.1 http://eipcp.net/transversal/0106/raunig/de
Instituierende Praxen, No.2, französisch in: Multitudes, Nr.28, Printemps 2007
Der doppelte Sinn der Destitution und die instituierende Tätigkeit, französisch in: Multitudes, Nr.28
eventum et medium, englisch in: Third Text, Nr. 92, 03/2008
Raum artikulieren, in: Skizzen des Verschwindens. Theatrale Raumproduktion. Theatercombinat
Objekte, Subjekte, Projekte; in: Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, hg. schnittpunkt
Instituierung und Verteilung, in 31 - Das Magazin des Instituts für Theorie der Gestaltung und Kunst Nr.10/11
Nietzscheanissimo, in: Grundrisse-Zeitschrift für linke Theorie und Debatte, Nr.19
Immanente Transgression, in: Spekatakel, Lustprinzip oder das Karnevaleske? Differenzerfahrungen und Strategien des Karnevalesken in kultureller/politischer Praxis, b books
Fluchtlinie und Exodus, englisch in Artforum, Januar 2008

Raute

Jörg Nowak: Geschlechterpolitik und Klassenherrschaft.
Eine Integration marxistischer und feministischer Staatstheorien.

Münster: Westfälisches Dampfboot 2009, 292 Seiten, 29,90 Euro

Buchbesprechung von Markus Griesser

Seit einigen Jahren kann im deutschsprachigen Raum ein verstärktes Interesse an marxistischer Staatstheorie konstatiert werden, was sich an der Wiederveröffentlichung von "Klassikern" - etwa Nicos Poulantzas "Staatstheorie" oder Claus Offes "Strukturprobleme des kapitalistischen Staates" -, ebenso wie am Erscheinen einer ganzen Reihe neuer Sammelbände und Monographien zeigt. Ein relativ randständiges Thema blieb in diesem Zusammenhang bislang die Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen im Allgemeinen sowie mit der feministischen Staatstheorie im Besonderen.

Letztere, also die feministische Staatstheorie, hat sich parallel zur weit gehenden Marginalisierung marxistischer Ansätze v. a. in der deutschsprachigen Politikwissenschaft seit den 1980er Jahren aus ihrer anfänglichen Verklammerung mit diesen gelöst und sich in eine Vielzahl unterschiedlicher Traditionen ausdifferenziert. Die in den 1970ern noch zentrale Frage nach den Wechselwirkungen zwischen kapitalistischen Klassen- und patriarchalen Geschlechterverhältnissen sowie nach der Rolle des Staates im Rahmen von deren Reproduktion verloren im Zuge dieser Entwicklung relativ an Bedeutung.

Ausgehend von dieser doppelten Leerstelle bemüht sich der Berliner Politikwissenschafter Jörg Nowak in seinem Buch "Geschlechterpolitik und Klassenherrschaft" um eine systematische Integration marxistischer und feministischer Staatstheorien. Sein Ansatzpunkt ist dabei die gesellschaftliche Arbeitsteilung; konkret die These, dass besagte Integration von der Teilung gesellschaftlicher Arbeit nach klassen- und geschlechtsspezifischen Kriterien sowie von deren institutioneller Vermittlung durch den Staat - als Teil dieser Arbeitsteilung - auszugehen hat. Entsprechend ist das Buch in drei Teilen aufgebaut:

In einem ersten Teil werden marxistische und feministische Debatten um die Frage gesellschaftlicher Arbeitsteilung rekapituliert. Nowak geht dabei davon aus, dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zwischen über den Markt vermittelter Lohnarbeit und über die Familie vermittelter nicht-entlohnter Arbeit eine zentrale Dimension von Geschlechterverhältnissen markiert und auf die Koexistenz von kapitalistischen und häuslichen Produktionsverhältnissen verweist. Damit in Verbindung - obschon als relativ autonome durch Eigenlogiken bestimmt - stehen geschlechtsspezifische Arbeitsteilungen im Bereich der Lohnarbeit im Sinne von Segregationen des Arbeitsmarkts als weitere Dimension der Geschlechterverhältnisse. In beiden Dimensionen erweist sich die hierarchische Anordnung von Männern und Frauen als Konstruktionsmodus der Geschlechterverhältnisse: Statusdistribution qua Geschlecht bedingt eine ungleiche Verteilung von Lebenschancen bspw. in Gestalt des Zugangs zu bestimmten Teilarbeitsmärkten, wobei diese Verteilung wiederum u. a. entlang von Klassenverhältnissen gebrochen wird.

Im Rahmen des zweiten Teils führt Nowak in die Entwicklung marxistischer bzw. feministischer Staatstheorie ein, wobei sein Fokus auf Ansätzen liegt, die den Staat ausgehend von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu bestimmen versuchen. Dabei geht er von der Existenz staatlicher Produktionsverhältnisse aus, welche neben den häuslichen und kapitalistischen bestehen, wobei letztere hinsichtlich ihrer Wirkungsweise insofern als dominant anzusehen sind, als ihnen eine zentrale Rolle bei der Verteilung materieller Ressourcen zukommt. Das Wechselspiel zwischen Markt, Familie und Staat sowie der Grenzverlauf zwischen diesen drei Zentren sozialer Reproduktion werden dabei als historisch kontingent angesehen. Für die Reproduktion bzw. Transformation des jeweiligen Arrangements und die mit ihm verbundene Arbeitsteilung zentral verantwortlich zeichnet das, was Nowak im Anschluss an Poulantzas als "geschlechtsspezifisches Verdichtungsregime" bezeichnet; also das seitens des Staates auf der Basis gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse in je spezifischer Form kodifizierte Geschlechterregime.

Ein solches Arrangement und dessen Wandel bildet schließlich den Gegenstand des abschließenden (Empirie-)Teils des Buches, nämlich das so genannte "Familienernährermodell", das auf symbolisch-kultureller Ebene als hegemoniales Geschlechterleitbild des deutschen Sozialstaats der Nachkriegsjahrzehnte fungierte und neuerdings eine Transformation durchläuft. Nowak analysiert diese Veränderungen im Kontext des aktuellen Wandels der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung anhand von drei familienpolitischen Maßnahmen und den sie begleitenden diskursiven Verschiebungen. Das unter den Frauenministerinnen Renate Schmidt und Ursula von der Leyen durchgesetzte geschlechtsspezifische Verdichtungsregime begreift er dabei als "klassenselektives Ernährermodell", insofern es für Frauen je nach Einkommensposition divergierende Möglichkeiten zur Realisierung relativ egalitärer bzw. hierarchischer Ernährermodelle eröffnet: Während für die einen das Leitbild eines Doppel-Vollzeitmodells gilt, in dem sich eine relativ stabile Integration in den Arbeitsmarkt mit einer "Umverteilung" nicht-entlohnter Arbeit in Form haushaltsnaher Dienstleistungen verbindet, bleibt für die anderen das Zuverdienerinnenmodell aktuell, in dem eine prekäre Integration in den Arbeitsmarkt mit der Zuweisung nicht-entlohnter Arbeit im Privathaushalt einher geht. Politisch-strategisch sieht Nowak die Durchsetzung des "klassenselektiven Ernährermodells" mit der Hegemonie eines in den Staatsapparaten repräsentierten "liberalen Feminismus" verbunden, der um den Preis der Subsumtion der Familien- unter die ("aktivierende") Sozial- und Arbeitsmarkpolitik eine "Modernisierung" des deutschen Ernährermodells vorantreibt.

"Geschlechterpolitik und Klassenherrschaft" überzeugt v. a. bei der Anwendung des zuvor entwickelten hegemonie- und strategietheoretischen Staatsverständnisses auf seinen empirischen Gegenstand. Bei der Lektüre der vorangegangenen Kapitel hätte man sich allerdings mitunter eine stärkere Redaktion des ursprünglich als Dissertation an der Universität Kassel verfassten Buchs gewünscht, ist die schiere Fülle an rezipierten Theoriebausteinen der Stringenz des Argumentationsgangs doch nicht immer zuträglich. Abgesehen von diesem Manko - das hinsichtlich des dadurch gewonnen Überblicks über die Debatten um Arbeitsteilung und Staatstheorie allerdings durchaus auch als Vorzug gelesen werden kann - bietet das Buch jedoch viele Anregungen dafür, eine auch in der außer-akademischen Linken weitgehend versiegte Debatte wieder aufzunehmen. V. a. aber - und darin besteht der zentrale politische Einsatz von "Geschlechterpolitik und Klassenherrschaft" - fordert es dazu heraus, das seiner These zufolge hegemoniepolitisch zentrale Feld der Familienpolitik als Interventionsfeld von Links stärker und angesichts seiner aktuellen Transformation auch neu zu besetzen.

E-Mail: markus.griesser@gmail.com

Raute

IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 30.09.09,

Ein Jahresabo kostet für 4 Nummern Euro 20,-, das 2-Jahres-Abo nur 35,- Euro!
Bestellungen entweder an grundrisse@gmx.net oder an K. Reitter, Antonigasse 100/8, A-1180 Wien

Bankverbindung: Österreich: BAWAG Konto Nr. 03010 324 172 (K. Reitter), Bankleitzahl 14000.
International: BIC = BAWAATWW, IBAN = AT641400003010324172, Empfänger = K. Reitter

Die offenen Redaktionstreffen der Grundrisse finden jeden 2. und 4. Montag im Monat um 19 Uhr im
"Amerlinghaus", 1070 Wien, Stiftgasse 8 statt. Interessierte LeserInnen sind herzlich eingeladen.

Weitere Infos unter: www.grundrisse.net und unter
redaktion@grundrisse.net

Medieninhaberin: Partei "grundrisse" Antonigasse 100/8, 1180 Wien
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse" (Dieter A. Behr, Martin Birkner, Bernhard Dorfer, Robert Foltin,
Markus Grass, Käthe Knittler, Minimol, Franz Naetar, Paul Pop, Karl Reitter)

MitarbeiterInnen dieser Nummer: Günter Buchholz, Diedrich Diedrichsen, Fuzi, Markus Griesser, Eva Kaufmann, A.M. [agora], Alfred Müller, Karl Reitter, Elisabeth Steger, Michael Wolf

Layout: Lisa Bolyos

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1100 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse".

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)


*


Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
sondernummer herbst 2009, nr. 31
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
Antonigasse 100/8, 1180 Wien
E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2009